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Die bedrohte Solidarität

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Schon 1960 diagnostizierte der Leitartikel der FURCHE zum 1. Mai, daß sich das Klassendenken aufzulösen be-

ginne. Die Macht der Gewerkschaften blieb davon nicht unberührt.

Welch ein Wandel! Früher ging nichts ohne die Gewerkschaft. Franz Olah und Anton Benya waren Personifizierungen einer selbstbewußten Gewerkschaftsbewegung. Diese Zeiten sind vorbei, die Gewerkschaften in der Defensive. Seit 1960 sinkt der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten (von 65 auf 52

Prozent), seit 1984 auch die Zahl ihrer Mitglieder. Aus einer Arbeiter-, ist eine Beamten-und Angestelltenbewegung beworden (37 Prozent der Mitglieder werden von der öffentlichen Hand beschäftigt). Unter dem Druck „wirtschaftlicher Notwendigkeiten" fiel eine der starken Bastionen der Gewerkschaft, die Verstaatlichte Industrie. Tausende Arbeitsplätze gingen verloren, Tausende Gewerkschafter fühlten sich verschaukelt, von ihrer Bewegung im Stich gelassen. Ähnliches zeichnet sich jetzt bei der Bahn und den Beamten ab.

Denn Bationalisierung heißt das Allheilmittel der neunziger Jahre. Auch in den geschützten, nicht der internationalen Konkurrenz ausgesetzten Bereichen müsse ein frischer Wind blasen. Konkurrenz als treibende Kraft der Wirtschaft hat sich spätestens seit dem Zusammenbruch des Kommunismus durchgesetzt. Einige sprachen damals sogar vom Ende der Geschichte.

Heute geben die Notwendigkeiten des Marktes den Takt an. •Das Evolutionsprinzip, das Sich-Durchsetzen des Stärkeren, „Tüchtigeren", wird als logische Fortsetzung des bisherigen Weges alles Lebendigen auf die Zukunft der Menschheit übertragen. Und diesem Gesetz zollen nun auch die Gewerkschaften Tribut. Sie stehen mit dem Bücken zur Wand. Schade.

Damit sei nicht etwa die Bolle der Gewerkschaften nostalgisch verklärt, wohl aber eines festgehalten: Daß die Zeitung der Gewerkschaft „Solidarität" heißt und der Gruß unter ihren Mitgliedern „Freundschaft" lautet, signalisiert immerhin, daß diese Bewegung ein wichtiges Prinzip in den politischen Entscheidungsprozeß eingebracht hat: die Solidarität, das

Bewußtsein, daß Arbeit gemeinsames Tun von Menschen für Menschen ist und daß wir daher in der Wirtschaft füreinander Verantwortung tragen. Dieses Prinzip droht unter die Bäder zu kommen.

In der Nachkriegszeit waren die Staaten Westeuropas nicht nur Maschinerien des Wachstums, sondern auch Gemeinschaften gegenseitiger Verantwortung. Ein Großteil der wirtschaftlichen Leistung wurde im Inland verbraucht. Die Sozial-, Familien-, Steuerpolitik sorgten für Spielregeln, die durch Umverteilung dem Bürger ein ' Minimum an Lebensstandard sicherten. Keine Frage: Dieser Ansatz ist überzogen und zum Teil beachtlich mißbraucht worden. Geschenke wurden durch Vorgriffe auf zukünftige Leistungen verteilt. Hier gegenzusteuern, ist berechtigt.

Mehr als fragwürdig aber ist die Härte, mit der jetzt der Markt als Allheilmittel für die Lösung aller Probleme eingesetzt wird. „Die superkapitali-

stischen USA" werden kritiklos als Modell für das sozialpartnerschaftlich rückständige Osterreich hingestellt (Wirt-schaftsWoche 16/96), die Globalisierung zum Heils weg hoch stilisiert (profil 15/96), auch wenn das „brutale Bezept" die „unteren Schichten der Gesellschaft dazu verurteile, „der Ökonomie zu dienen". Es lebe, wer rationeller produziert, mit weniger Kosten, egal wie dieser Vorteil zustandekommt!

Damit ist sozialer Unfriede vorprogrammiert, können doch die Staaten auf Dauer ihrer Aufgabe als Solidargemeinschaften nicht mehr gerecht werden. Die Liberalisierung der Kapitalbewegungen nahm ihnen die Möglichkeit, die Ka-

pitalgeber zu Sozialpflichtigem Verhalten anzuhalten. Mehr noch: In der Konkurrenz um die Gunst internationaler Kapitalgeber versuchen die Staaten, ein möglichst unternehmensfreundliches Umfeld für Investitionen zu bieten. Der Abbau sozialer und ökologischer Standards wird sich so nicht umgehen lassen. Denn beides kostet Geld und verringert die Ertragsaussichten des Kapitals.

Daher die Forderungen nach totalem Lohnstopp (zuletzt von Franz Ceska, Generalsekretär der Industriellenvereinigung, geäußert), Lockerung der Arbeitszeitregelungen. Sonst würde man eben anderswo produzieren. Unter dem gut klingenden Schlagwort „Flexibilisierung" wird den Unternehmen ein Abbau der Überstundenkosten und größere Zugriffsmöglichkeiten auf die Zeitgestaltung ihrer Mitarbeiter eingeräumt. Klarerweise stören die Feiertage, sind sie doch Zeiten wirtschaftlicher Inaktivität, also brachliegenden Kapitals.

Dazu kommt, daß durch die EU deren Mitglieder Gesetzgebungsautonomie an internationale Instanzen abgegeben haben. Diese Instanzen sind massiven Einflüssen mächtiger Wirtschaftslobbies ausgesetzt. Auch diese Kompetenzverschiebung erschwert es den Staaten, ihre Aufgabe als Solidargemeinschaften wahrzunehmen. Vielmehr werden sie in die Bolle gedrängt, ökonomische und sonstige von außen kommende Zwänge zu verwalten und gegen die außer- und überökonomischen Interessen der Bürger durchzusetzen.

Der sozialistische Gewerkschafter Fritz Klenner schrieb vor 30 Jahren in der FURCHE (18/1966): „Der Planung müssen Schranken gesetzt werden, dort, wo sie das ,Menschsein' gefährdet. Die Notwendigkeit einer Wirtschaftplanung bringt automatisch Freiheitseinbußen mit sich. So lange man sich deren Inhumanität bewußt ist und ihnen nur beschränkt oder notgedrungen nachgibt, lassen

sich Grenzen abstecken und läßt sich der Gefahrenherd kontrollieren. Wehe aber, wenn man sich optimaler Wachstumsziele willen der Bationa-lität in Produktion und Verteilung verschreibt! "

Nun, genau das geschieht heute: Das Menschsein ist gefährdet. So gesehen könnte der 1. Mai ein Anlaß sein, über die bedrohte Solidarität Ende der neunziger Jahre nachzudenken. Sollte man diesen Staatsfeiertag nicht wiederbeleben? Er könnte der Tag sein, an dem wir uns bewußt machen, daß wir als Bürger eine Solidargemeinschaft sind, die gut daran täte, das ökonomische Prinzip nicht zum Maß aller Dinge werden zu lassen.

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