Selbermachen Nelke Strasser - © Foto: iStock/ VIDOK (Montage: Rainer Messerklinger)

Selbermachen – eine neue Arbeiterbewegung?

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Arbeit hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten globalisiert. Die Corona-Maßnahmen haben dem ein abruptes Ende gesetzt. Was kommt danach? Ein Essay zum 1. Mai und zur Idee der „neuen Regionalität“.

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Arbeit hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten globalisiert. Die Corona-Maßnahmen haben dem ein abruptes Ende gesetzt. Was kommt danach? Ein Essay zum 1. Mai und zur Idee der „neuen Regionalität“.

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Der 1. Mai, traditionell Tag der internationalen Arbeiterbewegung, wird in Österreich als Staatsfeiertag begangen, unter besonderer Beteiligung der einstigen Arbeiterpartei SPÖ und der roten Gewerkschaften – wenn hier noch von „rot“ die Rede sein darf. Das könnte sich allerdings, was das Bekenntnis zur Internationalität betrifft, rasch ändern.

Wir alle leben bis auf Weiteres unter dem Bann eines Virus, das die Regierungen in Europa (mit der bemerkenswerten Ausnahme Schwedens) dazu veranlasst hat, das öffentliche Leben auf die Grundversorgungsbetriebe zu reduzieren, Aus- und Einreiseverbote für Menschen und Waren zu verhängen, bis hin zu strikten Quarantänemaßnahmen. Kein Wunder also, dass sich unter dem gewaltigen Schock des gesellschaftlichen Stillstandes die Idee der „Relokalisierung“ plötzlich großer Beliebtheit erfreut, zumal im Zusammenspiel mit dem Schlagwort „Nachhaltigkeit“. Doch was steckt hinter jener Idee?

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Wir alle leben bis auf Weiteres unter dem Bann eines Virus, das die Regierungen in Europa (mit der bemerkenswerten Ausnahme Schwedens) dazu veranlasst hat, das öffentliche Leben auf die Grundversorgungsbetriebe zu reduzieren, Aus- und Einreiseverbote für Menschen und Waren zu verhängen, bis hin zu strikten Quarantänemaßnahmen. Kein Wunder also, dass sich unter dem gewaltigen Schock des gesellschaftlichen Stillstandes die Idee der „Relokalisierung“ plötzlich großer Beliebtheit erfreut, zumal im Zusammenspiel mit dem Schlagwort „Nachhaltigkeit“. Doch was steckt hinter jener Idee?

Kurz gesagt, eine hoffnungsgebende Form des Regionalismus – also jenes Denkens, das sowohl der Sozialismus als auch die neoliberale Ökonomie überwinden wollten. Wir müssen – so hört man – uns wieder auf uns selbst besinnen, auf die autonome Produktion des Eigenbedarfs. Zwar sollten wir weiterhin dem zwischenstaatlichen Verkehr in Handel und Tourismus geneigt bleiben, zugleich aber den globalen Marktzwängen widerstehen. Auch sollten wir zukünftig die ohnehin begrenzte Freizügigkeit des Personenverkehrs nicht mit einem Freibrief für ungehemmte Kapitalflüsse und progressive Produktionsmengen round the world verwechseln.

Welchen Wohlstand wollen wir?

Das sind gute Vorsätze, gewiss. Nichts gegen den lokalen Erfindungsreichtum, gegen nationalstaatliche Schutzmaßnahmen für Inlandsbetriebe und agrarische Genossenschaften, gegen Förderungen des ökologischen Kleinunternehmertums (hoffentlich weiterhin unter den Fairnessregeln der Europäischen Union). Begleitend wären schlagende Maßnahmen zu begrüßen, welche endlich den reichen und superreichen Geldschiebern und Steuerflüchtlingen das Handwerk legten!

Aber leider werden alle Offensiven der Relokalisierung nicht jenen Wohlstand zu ersetzen vermögen, der durch die Globalisierung in einigen Teilen der Welt möglich wurde.

Aber leider werden alle Offensiven der Relokalisierung nicht jenen Wohlstand zu ersetzen vermögen, der durch die Globalisierung in einigen Teilen der Welt möglich wurde. Wir gehören zu den Privilegierten. Meinten wir es mit dem Vorsatz der Relokalisierung ernst, dann müssten wir uns mit einem um vieles niedrigeren Wohlstandsniveau begnügen. Dazu wiederum sind wir keinesfalls bereit. Stattdessen stehen wir angeblich hilflos – und vielfach ressentimentgeladen – jenen Millionen und Abermillionen Menschen gegenüber, die Tag für Tag verhungern, verdursten, an Mangelkrankheiten, Dürren und Kriegen, an Fluchtbewegungen über Land und am Meer zugrunde gehen.

Und vergessen wir über unseren ökonomischen Sorgen nicht, dass auch der moralische Universalismus, der allen Menschen die gleiche Würde zuspricht, die Folge einer globalen Erweiterungsbewegung war und ist. Christentum, Humanismus und Aufklärung prägten die „Kontur des Westens“. Ihr ist es zu verdanken, dass internationale Organisationen entstanden, die – trotz waffenstarrender Nationalismen und massenhafter Armut – den Gedanken der einen Menschheit, des Weltethos und Weltfriedens beharrlich einmahnen. Was immer Relokalisierung bedeutet, sie darf zu keiner Schwächung unseres Humanitätsstrebens führen.

Was immer Relokalisierung bedeutet, sie darf zu keiner Schwächung unseres Humanitätsstrebens führen.

Angesichts der Corona-Pandemie genießt unsere derzeitige türkis-schwarz-grüne Krisenbewältigungsregierung hohe Beliebtheitswerte. Doch in den seriösen Zeitungen war bereits vor Tagen zu lesen, dass 900.000 Österreicher – ich erspare mir das Gendern – zur Kurzarbeit angemeldet sind. Dies ist eine horrende Zahl. Sie umfasst mehr als zehn Prozent der arbeitenden Bevölkerung und bedeutet, dass durch staatliche Zuschüsse, die sich zu Milliardensummen aufaddieren, die Arbeitnehmer vor dem Sturz in die Schuldenfalle, den Privatkonkurs oder die Armut bewahrt werden sollen.

Immerhin, die „Kurzarbeiter“ – man beachte das rhetorische Gewicht, welches den Begriffen „Arbeit“ und „Arbeiter“ wieder zukommt – sind praktisch jene, die hoffentlich bloß kurzfristig ihren Job verloren haben. Diese Zahl wird indessen nicht geringer werden. Sie wird im Gegenteil auf die eine oder andere mehr oder weniger verdeckte Weise ansteigen. Viele derer, die jetzt in Kurzarbeit sind, werden bald schon im Normalsinn des Wortes arbeitslos sein und sich damit dem Heer derer zugesellen, die erst gar nicht in „Kurzarbeit“ gehen, sondern gleich zum Arbeitsamt pilgern müssen.

Es ist zu hören, dass im Bundeskanzleramt „fundierte“ Schätzungen von Wirtschaftsforschern liegen, die besagen, dass in den nächsten zwei Jahren die österreichische Ökonomie um zehn Prozent schrumpfen wird. Im Moment redet man in der Öffentlichkeit noch nicht lautstark davon, dass ein solcher Schrumpfungsprozess von einer weltweiten, schweren Rezession angefacht werden wird. Das pandemische Virus Covid-19 kennt keine Grenzen, der Zwang zum „Herunterfahren“ der Wirtschaft bis zum „Shutdown“ war und ist ein globales Phänomen. Der Kollaps der auf rasches Wachstum angelegten neoliberalen und staatskapitalistischen Systeme bildet kein akademisches Lehrbuchbeispiel mehr. Man kann nur hoffen, dass sich das reale Szenario als ein Phantom der Angst erweist.

Ambivalentes Datum

Hoffen wir also, dass alles „nicht so schlimm“ wird. Jedenfalls ist der 1. Mai 2020 ein zutiefst ambivalentes Datum. Man muss unserer Regierung den ihr gebührenden Respekt erweisen: Sie tut im Großen und Ganzen alles, um Österreich derart durch die Krise zu manövrieren, dass das Land in einem wiederaufbaufähigen Zustand verbleibt. Trotzdem lassen sich die pessimistischen – das heißt: realistischen – Ausblicke nicht einfach ignorieren. Beherzte staatliche Stützungen des rasch ansteigenden Armutsgefälles führen irgendwann in den Staatsbankrott.

Wir hängen, Puppen der Globalisierung, im Interaktionengeflecht von Angebot und Nachfrage. Die jüngsten Alarmsignale an den Börsen sind möglicherweise der Auftakt einer digitalen „Aktienpandemie“, die – unter dem Damoklesschwert des unbesiegten Virus – bei einer noch nie dagewesenen Weltwirtschaftskrise zu enden droht. „Völker, hört die Signale! / Auf zum letzten Gefecht!“ Wird das politische Handeln aus seiner krisenstrategischen Rationalität herausgesprengt und in die unbeherrschbaren Turbulenzen des Ausnahmezustandes hineingetrieben?

Wir hängen, Puppen der Globalisierung, im Interaktionengeflecht von Angebot und Nachfrage.

Angesichts der apokalyptischen Möglichkeiten gleicht der Staatsfeiertag einem Menetekel, dessen Schrift vorerst nicht auf Spruchbändern des Hasses und der Verzweiflung zu lesen steht. Österreichs Krisenkoalition könnte rasch zerbrechen. Das zarte Pflänzchen der Sozialpartnerschaft, die in den letzten Jahren gründlich desavouiert wurde, könnte verdorren unter dem Sturm einer aufbrandenden Wut – Folge des Wohlstandsverlusts, des Zusammenbruchs des Mittelstandes, des massenhaften Anschwellens der wieder einmal hungrigen Bäuche in den unteren Sektoren des sozialen Gefälles. Das Elend des neuen Prekariats könnte eine neue „Arbeiterbewegung“ unter Auspizien hervorbringen, die sich nur jene wünschen, welche der liberalen Demokratie stets mit Feindschaft gegenüberstanden.

Am 1. Mai 2020 wird man sich mit Mundschutz und Abstand und ohne Massendemonstration zu fragen haben: Feiern wir etwa am Vorabend eines im Entstehen begriffenen autoritären Staatsgefüges? Werden wir fortan gegen unsere bisherigen Wohlstandstriebkräfte mobilmachen, gegen Liberalismus, Globalisierung und Hedonismus, mithin gegen das Bedürfnis, als Individuen möglichst wohlbefindlich und freizügig zu leben? Alle diese bangen Fragen machen den 1. Mai heuer zu einem Tag, an dem wir hoffentlich unseren Kleinstaatenstolz im Zaum halten. Die Welt muss offen bleiben, geistig, geografisch, ökonomisch. Was wir brauchen, ist – trivialerweise – eine weltweit wirksame Impfung gegen das Virus, um das Aufkeimen des ultimativen Schreckens hintanzuhalten: Wirtschaftskriege, die militärische Auseinandersetzungen zur großflächigen Raum- und Gütergewinnung provozieren.

Der Autor ist Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Graz.

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