Corona Grafitti - © Foto: Martin Tauss

Lektionen aus der Pandemie: Sind wir alle rücktrittsreif?

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Ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt bleiben selbst harte Corona-Maßnahmen ineffizient. Wichtige Lektionen aus der Pandemie, zugespitzt in 36 Thesen.

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Ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt bleiben selbst harte Corona-Maßnahmen ineffizient. Wichtige Lektionen aus der Pandemie, zugespitzt in 36 Thesen.

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Anfang 2021 ist es angebracht, nach einem Jahr Coronakrise nicht nur über die aktuelle Situation zu diskutieren, sondern eine Zwischenbilanz zu ziehen. Die folgenden 36 Thesen sind ein Versuch, aus der Pandemie für die Zukunft zu lernen.

  1. Das Verhältnis Mensch-Tier gehört neu geregelt. Quelle der Seuche war ziemlich sicher ein Wildtiermarkt in der chinesischen Stadt Wuhan. Auch die Massentierhaltung birgt enorme Gefahren, wie unlängst die Tötung von Millionen Nerzen in Dänemark zeigte.
  2. Wehret den Anfängen! Wenn Probleme auftreten, gehören sie angegangen, nicht vertuscht, wie im tragischen Fall jenes chinesischen Augenarztes, der als erster vor Covid-19 warnte, von den Behörden gemaßregelt wurde und dann an der Seuche starb.
  3. Regionale Ereignisse haben das Potenzial zu globalen Katastrophen. Bei neuen Krankheiten bedarf es sofort konsequenter Quarantänemaßnahmen, da sie sich sonst zur Pandemie entwickeln können.
  4. Es mangelt am Basiswissen über exponentielles Wachstum. Das Tempo dieses Wachstums verdeutlicht ein Teich, dessen Fläche sich mit Seerosen füllt, die sich täglich verdoppeln. So harmlos es wirkt, wenn die Hälfte mit Seerosen bedeckt ist – am nächsten Tag ist es die ganze Fläche!
  5. Corona ist kein unvermeidliches Naturereignis wie ein Erdbeben oder Tsunami. Das Virus braucht einen Wirt, es existiert nur durch Weitergabe. Wir alle haben es in der Hand, wie sehr sich ein Virus verbreiten kann.
  6. Eine Gefahr wie Covid-19 darf man nicht ignorieren. Die zuständigen EU-Kommissare haben schon am 29. Jänner 2020 (was damals neben der Brexit-Berichterstattung unterging) vor Covid-19 gewarnt und – ohne Erfolg – die EU-Länder aufgefordert, ihre Bestände an Schutzmaterial zu überprüfen.
  7. Rein ökonomisches Kalkül kann zu einem gesundheitlichen Fiasko führen. Den Beweis dafür lieferte der Wintersportort Ischgl. Die Warnung für die heurige Skisaison ist klar: Sie ist nur mit einem Maximum an Sicherheitsmaßnahmen möglich, dann aber vielleicht gar nicht rentabel.
  8. Ehe man ein Virus halbwegs kennt, sollte man die vorsichtigste Strategie wählen. Die Idee, rasch eine „Herdenimmunität“ herzustellen, wie sie anfangs Schweden und Großbritannien verfolgten, war im Fall von Covid-19 sicher ein Irrweg.
  9. In Krisenzeiten blühen Verschwörungstheorien. Jenen, die Covid-19 verharmlosen, Bill Gates oder 5G dafür verantwortlich machen, muss man energisch widersprechen. Keine Verschwörungstheorie ist es, dass etliche Kräfte großes Interesse haben, solche Theorien zu verbreiten.
  10. In manchen Situationen sind Lockdowns alternativlos, etwa wenn die Kontaktverfolgung (Contact Tracing) als wichtiger Teil der Corona-Bekämpfung zu mehr als 50 Prozent scheitert.
  11. Covid-19 ist nicht die Pest, aber bei schwerem Verlauf tödlicher als die saisonale Grippe. „Mit oder an“ Covid-19 sind weltweit, zuletzt auch in Österreich, viel mehr Menschen gestorben als „mit oder an“ der Grippe.
  12. Die Daten stimmen nie ganz. In der Statistik mancher Länder passen die Zahlen der Infektionen (wie viel wurde dort getestet?) und Sterbefälle (wurden alle Toten auf Covid-19 untersucht?) nicht zusammen. Die Mehrzahl der Staaten liefert aber Daten, die trotz einer gewissen Fehlerquote brauchbar sind.
  13. Krankheiten wie Covid-19 bedeuten vor allem ein quantitatives Problem. Wenn zu viele Personen zugleich erkranken, könnte damit nur ein Gesundheitssystem mit unbegrenzten Ressourcen fertig werden. Es kommt nicht nur auf die Zahl von Intensivbetten an, sondern auch auf geschultes Personal, Infrastruktur und genügend Equipment.
  14. Das Konzept der Eigenverantwortung ist gescheitert. Nicht einmal in Skandinavien, wo die Menschen eher Disziplin aufbringen, war es erfolgreich. An reine Empfehlungen hält sich ein zu großer Teil der Bevölkerung nicht. Zur Teilnahme an Massentests oder Impfungen sollte trotzdem niemand gezwungen werden.
  15. Anti-Pandemie-Maßnahmen verursachen unvermeidliche Kollateral- schäden, auch bei der Behandlung anderer Krankheiten. Einschränkungen des öffentlichen Lebens treffen Wirtschaft, Bildung, Kultur, Sport, sowohl das Berufs- als auch das Freizeitleben und verringern – was ja auch ihr Hauptzweck ist – die sozialen Kontakte.
  16. Politiker sollten ernste Besorgnis äußern, aber nicht Angst machen. Der Satz „Bald wird jeder von uns jemand kennen, der an Corona gestorben ist“ war zwar effektiv und dürfte sich im heurigen Winter sogar bewahrheiten, ging aber zu weit. Angstmacher sind aber auch militante Impfgegner, wenn sie mit allen Mitteln die Furcht vor Impfschäden schüren.
  17. Nicht alle Wissenschafter sind gleich kompetent für ein Thema. Bei Covid-19 konnte man Virologen und Epidemiologen, aber auch Intensiv medizinern und Statistikern in der Regel mehr vertrauen als Vertretern anderer Disziplinen.
  18. Das Allerwichtigste in einer Pandemie ist ein größtmöglicher gesellschaftlicher Zusammenhalt. Die Politik allein schafft es nicht. Wir alle sind verantwortlich dafür, ob sich die Infektion ausbreitet oder nicht. Wird die Auseinandersetzung mit dem Virus verloren, sind wir alle rücktrittsreif.
  19. Testen ist ein Gebot der Stunde. Dazu gehören aber eine gute Strategie, verlässliche Tests und eine möglichst kurze Frist zwischen dem Test, dem Ergebnis und den Konsequenzen: also Quarantäne und das Ermitteln von Personen, die Kontakt mit einem Infizierten oder einem Verdachtsfall hatten (Contact Tracing).
  20. Demonstrationsrecht und Religionsfreiheit haben auch während einer Pandemie ihren Platz. Aber auch für Demonstranten gelten alle Hygiene-Regeln. Religiosität ist kein Zaubermittel gegen alle Gefahren dieser Welt.
  21. Gerechtigkeit ist bei Lockdown-Maßnahmen unmöglich. Man kann endlos streiten, in welchen Bereichen die Gefahren größer sind und wie hoch jeweils die Entschädigungen ausfallen müssen. Zu empfehlen wäre, im Nachhinein festzustellen, wer besonders unter der Krise gelitten hat, und diesen Betrieben einen Neustart zu finanzieren.
  22. Die Bildung sollte möglichst wenig leiden. Erst wenn andere Konzepte versagen, dürfte eine Schließung der Schulen als eine der letzten Maßnahmen (aber erst nach dem Schließen von Waffengeschäften) erfolgen.
  23. Die Bekämpfung einer Pandemie ist ein Marathon. Er ist erst zu Ende, wenn die Krankheit durch wirksame Medikamente oder Impfstoffe besiegt werden kann.
  24. Werden Masken korrekt getragen, bedeuten sie natürlich Schutz. Gegenteilige Aussagen in den Medien, auch von Medizinern, waren kontraproduktiv.
  25. Maßnahmen soll man nicht lange ankündigen. Sie sollten relativ kurzfristig, wenn auch nicht überfallsartig, gesetzt werden. Denn jedes Mal wird knapp vor Inkrafttreten einer Maßnahme noch einmal über die Stränge geschlagen. Die Missachtung von Corona-Maßnahmen ist kein harmloser Streich, den man den Regierenden spielt. Man gefährdet Leben, Gesundheit und Existenzen vieler in der ganzen Gesellschaft.
  26. Der ständige Ruf nach Planbarkeit ist unrealistisch. Wie sich eine Pandemie entwickelt, entscheidet das kaum vorhersehbare Verhalten der Bevölkerung. Wenn bei einem Brand 90 Prozent der Leute zu löschen versuchen, aber die anderen ständig Brandbeschleuniger ins Feuer werfen, lässt sich nicht planen, wann Entwarnung gegeben werden kann.
  27. Die zweite Welle war erwartbar, eine angemessene Reaktion darauf wäre planbar gewesen. Was die Regierung hier versäumt hat, macht sie hoffentlich durch eine gute Planung der Verteilung der Impfstoffe gut.
  28. Demokratie und Rechtsstaat dürfen unter einer Pandemie nicht leiden. Die Regierung hat verfassungskonforme Verordnungen zu erlassen. Es müssen sich aber auch Kritiker der Maßnahmen an geltendes Recht halten. Erkenntnisse des Höchstgerichts sollten nicht so kommuniziert werden, als ob ohnehin alles erlaubt wäre.
  29. Eine Pandemie ist nicht die Zeit für Hickhack um politisches Kleingeld. Verantwortungslos agierten jene Oppositionspolitiker, die ständig nach Lockerungen riefen, fast alle Maßnahmen als „unverhältnismäßig“ hinstellten und dann, als die Regierung lockerte, dieser steigende Infektionszahlen und falsche Politik vorhielten. Wirklich „unverhältnismäßig“ wirkte das Vorgehen mancher Medien. Einzelne, vor allem Servus TV, machten sich geradezu zum Sprachrohr der Pandemie-Verharmloser.
  30. Der Einsatz für Grundrechte und Datenschutz ist legitim, wird aber skandalös, wenn sich Demonstranten mit Nazi-Opfern wie Sophie Scholl oder Anne Frank vergleichen. Was eine Demokratie wirklich gefährdet, sind nicht einige mangelhafte Verordnungen, sondern der Mangel an Solidarität und das Fakten ignorierende Säen von Zwietracht, wie es in sozialen Medien – etwa auch bei den Themen Integration oder Klimawandel – stattfindet.
  31. Ein alleiniger „Schutz der Hochrisikogruppen“ ist unrealistisch. Es wäre inhuman, ältere oder vorerkrankte Menschen „wegzusperren“ und den „sozialen Tod“ sterben zu lassen. Auch ökonomisch wäre es falsch: Die Kaufkraft älterer Menschen ist für manche Branchen unentbehrlich.
  32. Das Schüren von Konflikten, etwa zwischen den Generationen, ist strikt abzulehnen. In der Coronakrise brauchen die Alten die Solidarität der Jungen, beim Klimawandel brauchen die Jungen die Solidarität der Alten.
  33. Eine gewisse Autarkie ist auch in einer globalisierten Welt nötig. Die Coronakrise hat die Probleme gezeigt, wenn wichtige Produkte (darunter Medikamente) und Ersatzteile fast nur noch in einzelnen Weltregionen erzeugt und plötzlich kaum geliefert werden.
  34. Länder, deren Regierungen auf die Wissenschaft hörten, kamen besser durch die Krise. Es überrascht nicht wirklich, dass in vielen dieser Staaten (wie Neuseeland, Taiwan, Finnland, Dänemark, aber auch Deutschland) Frauen am Ruder sind. Dagegen bescherten autokratische Politiker wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro ihren Ländern eine katastrophale Corona-Bilanz.
  35. Die Coronakrise bietet die Chance zu einem Paradigmenwechsel. Ob diese Chance, vor allem in der Wirtschaft, im Reiseverhalten, in der Umweltpolitik, genützt wird, ist leider zweifelhaft.
  36. Das schlechteste Ende einer Krise ist, wenn man nichts daraus gelernt hat.

    Der Autor ist Publizist und war von 1995 bis 2001 Chefredakteur der FURCHE.

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