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Schulen schließen oder nicht? Die ethische Maxime der Bildungspolitik

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Was wiegt schwerer – das Recht auf Bildung oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit? Die Antwort auf diese Frage gilt es außerhalb des virologischen Deutungsrahmens zu finden.

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Was wiegt schwerer – das Recht auf Bildung oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit? Die Antwort auf diese Frage gilt es außerhalb des virologischen Deutungsrahmens zu finden.

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Schulen schließen. Schulen offen halten. Schulen schließen. Schulen offen halten. Kaum eine Causa im Kampf gegen die Pandemie polarisiert mehr. Von der Regierungsspitze abwärts überwiegt Uneinigkeit. Die Gerüchteküche brodelt ohnehin längst. Demnach sträubt sich Bildungsminister Faßmann (parteifrei, auf ÖVP-Ticket) vehement, großflächig auf Homeschooling umzusteigen.

Kanzler Kurz soll sich indes dafür aussprechen, scheint aber derzeit auf eine Galgenfrist zu setzen. Irgendwo dazwischen positioniert sich Rudolf Anschober (Grüne). Er dürfte hin- und hergerissen sein. Stichwort Rollenkonflikt. Er ist (unter anderem) Gesundheitsminister und Sozialminister – eine Doppelposition, die das ethische Dilemma, in dem sich die Gesellschaft in der Schulfrage befindet, symbolisiert. Welches Menschenrecht wiegt schwerer – jenes auf körperliche Unversehrtheit oder jenes auf Bildung?

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Das Worst-Case-Szenario "Triage"

Im Frühjahr herrschte darüber weitestgehend Konsens. Auch in großen Teilen der Bevölkerung. Vorrang hatte der Gesundheitsschutz. Der Bereich Bildung rückte an die zweite Stelle. Doch das Blatt hat sich gewendet. Erstens aufgrund der zeitlichen Dimension der Krise. Zweitens, weil der anfängliche Konformismus bröckelt, wenn nicht sogar in zig Einzelteile zerspringt. Das System Wissenschaft spricht nicht mit einer Stimme. Wie auch. Wer kann dieser Tage die Wahrheit für sich beanspruchen? Was epidemiologisch und virologisch richtig erscheint, kann verheerende soziologische oder psychologische Auswirkungen mit sich bringen. Was ethisch fragwürdig ist, kann statistisch gesehen alternativlos sein. Jede Erkenntnis mag für sich gültig sein. Allgemeingültig ist sie deshalb noch lange nicht. Das Dilemma ist offensichtlich: Das Recht auf Bildung scheint das Recht auf körperliche Unversehrtheit auszuschließen – und umgekehrt.

Was epidemiologisch und virologisch richtig erscheint, kann verheerende soziologische oder psychologische Auswirkungen mit sich bringen. Was ethisch fragwürdig ist, kann statistisch gesehen alternativlos sein. Jede Erkenntnis mag für sich gültig sein. Allgemeingültig ist sie deshalb noch lange nicht.

Anfang der Woche forderten die Wissenschaftler Peter Markowich (Mathematiker), Georg Gottlob (Informatiker) und die beiden Physiker Christoph Nägerl und Erich Gornik in einem gemeinsamen Schreiben die sofortige Schließung aller Schulen. Andernfalls würde der Worst Case eintreten – die Überlastung der Krankenhäuser sowie Triage. Triage. Diejenigen mit den besten Aussichten auf Genesung werden zuerst behandelt. Ein Albtraum-Szenario, das in Ländern wie Frankreich oder Belgien längst Realität geworden ist. So weit ist es in Österreich noch nicht gekommen. Dennoch schwebt die Furcht davor seit März wie ein Damoklesschwert über uns. Der Appell der Wittgenstein-Preisträger ist aus epidemiologischer Sicht daher durchaus plausibel. Doch das wären auch 24- stündige Ausgangssperren oder die Totalüberwachung privater Haushalte.

Kinosaal als Klassenzimmer?

Kurzum: Auch in einer Pandemie ist eine medizinische Empfehlung keine gesellschafts- und bildungspolitische Maxime, darf
sie nicht sein. Das weiß auch der Bildungsminister – „Schulen sind ein sicherer Ort“, der nach wie vor an seiner Position festhält. Laut der Sozialethikerin Angelika Walser (Universität Salzburg) ist Faßmanns Kurs ethisch gesehen durchaus nachvollziehbar und wünschenswert. Sie begründet ihre Einschätzung mit der Empfehlung der „Leopoldina“ (Nationale Akademie der Wissenschaften in Deutschland). Darnach ist ein prophylaktisches Runterfahren des Schulsystems unverantwortlich, und zwar unabhängig vom Infektionsgeschehen.

Der Appell der Wittgenstein-Preisträger ist aus epidemiologischer Sicht daher durchaus plausibel. Doch das wären auch 24- stündige Ausgangssperren oder die Totalüberwachung privater Haushalte.

Die Experten (unter den aktiven Mitgliedern befinden sich auch mehrere Dutzend Wissenschaftler aus Österreich) beziehen sich auf den Artikel 28 der UN-Kinderrechtskonvention. „Wenn wir von Bildung sprechen, dann geht es nicht nur um Wissensvermittlung im kognitiven Sinn. Es geht um das Recht auf Partizipation in der Gesellschaft“, sagt Walser. Mit dieser Entscheidungsgrundlage dürften Bildungseinrichtungen erst geschlossen werden, wenn Leib und Leben der Kinder gefährdet ist. Aktuell ist das nicht der Fall.

Sars-CoV-2-infizierte Heranwachsende bis zehn Jahre sind meist asymptomatisch und haben selten schwere Krankheitsverläufe. Darauf stützt sich auch die These der geringen Infektiosität, auf die man im Bildungsministerium verweist. Unbestritten ist diese nicht. Im Gegenteil. Eran Segal, einer der führenden Covid19-Statistiker Israels, hat belegt, dass insbesondere Schulen eine große Rolle bei der zweiten Welle in Israel gespielt haben. Auch Michael Wagner, Mikrobiologie-Dekan an der Uni Wien, betont, wie häufig Kinder als Indexpatienten fungierten und dennoch wieder und wieder durchs Contact-Tracing-Raster fielen.

Dennoch kann man den Part von Kindern im Infektionsgeschehen drehen und wenden, wie man will, ihr Recht auf Bildung ist über alle Zweifel erhaben. Selbst wenn unter Zehnjährige ansteckender sind, als bisher vermutet wird (vieles spricht dafür), und sie das Virus in ihre Familien trügen, ist das noch immer kein Grund, gegen die UN-Kinderrechtskonvention zu verstoßen, wie die theologische Ehtikerin Walser betont.

Faßmann soll Tacheles reden

Welche Antwort hat sie auf den Vorwurf, dass mit dieser Argumentation Menschenleben gegeneinander ausgespielt werden? „Das kann und will ich nicht beantworten. Der Staat hat jedenfalls kein Recht, utilitaristische Lebenswertdebatten loszutreten. Er würde damit die Gesellschaft spalten“, sagt Walser.

Mit dem Schreiben der Leopoldina als Entscheidungsgrundlage, dürften Bildungseinrichtungen erst geschlossen werden, wenn Leib und Leben der Kinder gefährdet ist. Aktuell ist das nicht der Fall.

„Selbstverständlich ist die Benachteiligung der einen oder der anderen Gruppe vorprogrammiert. Gesellschaftliche Machtverhältnisse spielen bereits jetzt eine Rolle. Kinder aus bildungsfernen Familien sowie behinderte Menschen haben derzeit das Nachsehen.“ Eine fundierte ethische Entscheidung zu treffen, so Walser, bedeutet dennoch nicht, Studien an Studien aneinanderzureihen.

„Wir müssen aus der rein virologischen Deutung heraus und in die sozialethische Perspektive hinein.“ Im Bildungsministerium sieht man das ähnlich. Doch es braucht mehr als Lippenbekenntnisse. Schuldirektor(inn) en, Lehrer(innen) und Eltern fühlen sich im Stich gelassen. Auch wenn die Schulen derweil (noch) offen sind, sind die Bedingungen schlecht. Warum macht man sich nicht auf die Suche nach freien Räumen und Flächen, um die Klassenverbände zu entzerren?

Auch in der Pandemie ist eine medizinische Empfehlung keine gesellschafts- und bildungspolitische Maxime, darf sie nicht sein.

Leere Theater- oder Kinosäle gäbe es genug. Weil nicht genügend Lehrpersonal vorhanden ist? Warum nicht Studierende dafür gewinnen oder Lehrkräfte aus der Erwachsenenbildung? Soziales Lernen in (Klein-)Gruppen ist derzeit wichtiger als ein Fachwissen-Vortrag. Im Bildungsministerium redet man sich darauf hinaus, dass bei Lösungen dieser Art die Länder das Sagen haben. Was wiegt schwerer, Kulturhoheit oder Recht auf Bildung? Für Faßmann gilt es jetzt, Stellung zu beziehen.

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