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Gehältermisere — Lehrerflucht

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Nach Dr. Karl Jelusii („Zuwenig gute Lehrer!”, „Die Furche” Nr. 47, 1964) nimmt nun auch Ministerialrat Dr. Franz Diwisch ausführlich zum Notruf Universitätsprofessor Doktor Anton Burghardts über den Mangel an Lehrern („Die Furche” Nr. 45, 1964) Stellung. Auch zahlreiche Leserbriefe zu diesem aktuellen Thema sind in der Redaktion eingetroffen. Eine Auswahl wird „Die Furche” in ihren nächsten Nummern veröffentlichen.

Ein Werbeblatt flattert in den Briefkasten. Eine namhafte Firma zeigt in Wort und Bild, daß jedermann bei ihr den idealen Arbeitsplatz findet. Voraussetzung? Nichts als der gute Wille. Dann geht es Schlag auf Schlag: Wir bieten Fünftagewoche, moderne, hygienische, klimatische Arbeitsräume, leistungsgerechte Entlohnung, erstklassigen, billigen Mittagstisch, Werksarztbetreuung, Sportsektion, Vergütung von Fahrgeld, soziale Sonderleistungen, 11 Tage Weihnachtsurlaub, Beitrag zur Altersversorgung, gutes Betriebsklima usw. Andere Betriebe kommen für Mieten auf.

Man vergleiche damit das Los eines Junglehrers in einem Dorf. Wie oft gibt er einen beträchtlichen Teil seines Lohnes für die Miete einer mauerfeuchten Wohnung aus. Das Leben kostet. Von Hygiene keine Spur. Primitivität und Abgeschlossenheit von aller Welt kennzeichnen die Lage eines Menschen, der Ansprache, Anregung und Teilnahme am Kulturleben braucht.

Was Wunder, wenn so viele Kandidaten noch ein paar Jahre Universität draufgeben, um später als Mittelschullehrer wohl nicht glänzend, doch etwas mehr zu verdienen. Andere schwenken ab zur Privatindustrie, in Banken, Versicherungsanstalten, Krankenkassen. Überall gibt es ungleich bessere Lohnverhältnisse als im Lehrberuf.

Das ist des Pudels Kern, die Bezahlung der Lehrer auf allen Stufen ist miserabel. Sie hinkt hinter dem Wohlstandsgeraune mächtig nach. Dazu kommen böse Erscheinungen des Lehrermangels: hohe Klassenfrequenz und Betreuung zweier Klassen mit nur halber Zeit.

Idealisten oder Gehaltsempfänger

Es ist höchste Zeit, ein grundlegend neues, den sich ständig ändernden Umständen angepaßtes Schulverhältnis zu finden. Nur schlagwortartig sei genannt: Höher organisierte Schulen (von den einklassigen Schulen müssen wir weg!), Schülerautobusse, warmer Mittagstisch, pädagogische Betreuung während der Wartezeiten, all das sind selbstverständliche Notwendigkeiten und — es kostet Geld. Sachlich und personell sind im Schulwesen ebenso Millionen erforderlich wie bei Kraftwerken, Autostraßen, Industriewerken und Flugplätzen, und ebenso dringlich.

Eine neue Realität ist zu erkennen, die Pflichtschulen, als erste Grundindustrie des Lebens mit unabdingbarem Vorrang. Der geistigseelische Bereich ist der Humus, aus dem alle Zweige des materiellen und kulturellen Lebens hervorsprießen. Die Produktion, Planung und Führung der geläufigen Grundindustrien ist ebenso ein geistiger Vorgang wie die Produktion der höchsten Kulturgüter in Dichtung und Musik, in Spiel und Malerei bis zu den ätherischen Welten von Religion und Philosophie.

Das Leben in allen seinen Äußerungen beruht auf der Entfaltung der jungen Menschen. Wer ihnen das erste Brot reicht, steht an der Schwelle einer neuen Welt. Die allgemeinen Pflichtschulen sind Voraussetzung und Unterpfand allen Gedeihens. Sie haben einen ausschlaggebenden Anteil an der Existenz des Volkes. Wer es vergißt und die Pflichtschulen vernachlässigt, sägt den Ast ab, auf den: wir alle sitzen.

Wissen und Wasserkräfte

Kohle, Erze, Erdöl, Wasserkräfte sind als Grundindustrien des gesamten Wirtschaftslebens. Eine verantwortliche Staatsführung läß’ ihnen erste Sorge und Förderuni angedeihen. Der Grundindustrie de: Geistes sind die Institutionen zuzu rechnen, die in der Folge die kulturellen Veranstaltungen hervorbringen, deren sich gebildete Menschen erfreuen. Am Anfang steht die Volksschule mit ihrer organischen Fortsetzung, der Hauptschule. Diese ersten allgemeinen Schulen bilden die Grundlage jedes weiteren Schullebens und aller geistigen Entwicklung. Letzten Endes sind es nicht Eisen und Erdöl, sondern der Geist, der alles bewegt, der den materiellen und kulturellen Fortschritt bestimmt, sind daher die Schulen nicht als lästige, unproduktive Lasten zu betrachten, sondern als die ersten und gewichtigsten produktiven Elemente des ganzen materiellen und geistigen Wirtschaftskörpers, von denen Glück und Leben, Wohlstand und Kultur abhängen.

Wer es damit ernst nimmt, der muß es allezeit wissen, was er den allgemeinen Pflichtschulen, den Grundquellen des materiellen und kulturellen Reichtums, schuldet: die Anerkennung des Vorrangs vor allen noch so gewichtigen Notwendigkeiten im Staate. Die sachliche und personelle Dotierung der Allgemeinen Volksschule ist ein staatspolitisches Erfordernis ersten Ranges.

Pädagogik ist keine Handelsware

Die geistigen Belange sind die Grundfesten des n-fodörrien Staates. Ein bloßes Dilettieren ist nicht zeitgemäß, es führt unrettbar in die

Niederungen der unterentwickelten : Länder. Schulen und Erziehungs- 1 anstalten müssen auf den Stand ‘ der wissenschaftlichen Erkenntnis 1 gebracht werden. Auf dem Gebiet 1 der Baukunst bemüht man sich um den letzten Schrei. Und doch weiß i man, daß allzu viel Glas im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt macht, i (Im letzten Sommer mußten mo- : derne Schulen in Deutschland Hitzeferien geben!)

Beim Personaletat ist man konservativ. Der Lehrer wird mit Kümmergehältern bedacht. Er leistet auch keine „produktive” Arbeit, man kann sein Erzeugnis nicht essen, anziehen. Die tägliche Sisyphusarbeit der Lehrer ist keine Handelsware. Hier gibt es nichts zu verdienen. Welch unpraktischer Beruf

Wozu denn das Gehaltsschema, über dem Lehrervertreter, Gewerkschafter und Fachleute gewichtig herumknobeln? Eine Verringerung der Gehaltsstufenzahl und die namhafte Erhöhung des Gehaltsbudgets sind die zentrale Forderung!

Dazu müßten Lehrer in der Einschicht mit primitiven Lebensverhältnissen „Erschwerniszulagen” erhalten. Neider brauchten sich nur in eine der verlorenen Gegenden zu melden.

Bund, Land und Gemeinden haben auch dafür zu sorgen, daß die Lehrkräfte der Zeit entsprechend wohnen können. Eine Schule ohne Lehrerwohnung ist wie ein Reitpferd ohne Sattel. Die Lehrer aber sind keine Wilden, denen man alles zumuten kann. Die Kultur ins Dorf bringen sollen, müssen auch der Kultur entsprechend leben können.

Wir lesen, in Baden-Württemberg werden Aushilfslehrerinnen verwendet, Hausfrauen, die am Unterrichten Freude haben. Gehalt? Auf Anhieb 720 DM, das sind über S 4000.— und weiter bis 940 DM (S 5600.—). Schleswig-Holstein hat seine Volksschullehrer höher eingereiht, mit Bezügen von 758 bis 1214 DM, also von S 4750.— bis S 7300.—. Das bedeutet zweierlei, erstens eine Verringerung der Spannung zwischen Anfangs- und Endbezug und zweitens eine höhere Bewertung überhaupt.

In den zwanziger Jahren hat ein Junglehrer mit Artikeln, Flugschriften und Versammlungen in Wort und Schrift den Skandal der „Hungerleiter” gebrandmarkt. Die Parole lautete: „Mit längstens zehn Dienst jähren in der Masse (80 Prozent) des Vollbezugs!” Das Studium der Entlohnung der Lehrer im Ausland hat ergeben, daß in der Schweiz, nach Kantonen verschieden, der Endbezug nach 24, 18, in einem Fall schon nach zwölf Jahren erreicht wurde.

Wer hörte auf den Notruf der Jungen? Die Alten hatten es in ihrer Jugend auch nicht besser. Sie waren vielfach die erbittertsten Gegner. Und heute noch müssen sich Menschen mit zehn Dienst-, also mit 30 Lebensjahren schnell um einen einträglichen Nebenberuf umsehen, wenn sie heiraten und eine Familie gründen wollen.

Freilich ist heute die Lage viel ernster als vor 40 Jahren. Auch wir müssen Anschluß finden an Amerika und Rußland. Eine Wende um 180 Grad ist unausweichlich.

Weniger Stufen — höhere Löhne

Derzeit laufen die jungen Leute davon. Die Trostlosigkeit so vieler Orte und Schulen draußen auf dem Land bei lächerlicher Besoldung lassen die Klassen verwaisen. Daher die Forderung:

Verringerung der Anzahl der Gehaltsstufen!

Erhöhung der Gehaltsstufen am Anfang!

Erhöhung des Gehaltsbudgets überhaupt!

So müßte eine zeitgemäße Entlohnung der Volksschullehrer als Anfangsgehalt etwa S 3000.— bieten. Mit vier Stufen zu je S 500.— würden mit zehn Dienst jähren S 5000.— erreicht, einer Familiengründung stünde nichts im Weg. Mit zehn weiteren kleinen Stufen zu S 100.— wäre der Endbezug nach insgesamt 15 Stufen (30 Jahren) mit S 6000.— fixiert. Alle anderen Lehrerkategorien wären ins entsprechende Verhältnis zu setzen. Damit löst sich das Problem des würgenden Lehrermangels von selbst.

Wenn wir uns rein materiell zu einer grundsätzlichen neuen Schau entschließen, wenn wir in wohlverstandenem Interesse der Entwicklung der Gesamtwirtschaft in Gewerbe, industrieller Arbeit und Handel alle Springquellen eröffnen, um der Entwicklung aller Menschen unbeschadet ihrer Herkunft zu dienen, wenn im Schul- und Erziehungsetat nicht mehr um jeden Groschen gefeilscht wird, weil Schulen, Bildung und Kultur allen anderen Erfordernissen vorangestellt werden, wenn solcherart eine grundlegende Neuorientierung und schwerpunktmäßige Verlagerung in der Wertungsfolge erreicht sind, dann hebt eine neue Zeit an, da der Mensch beginnt, höher gewertet zu werden als die Materie.

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