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Arbeitslose Jugend: die neue fünfte Kolonne

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Während des letzten Wahlkampfes wurde viel von der sogenannten „Vollbeschäftigung“ gesprochen. Es mutete dabei seltsam an, daß der Vierzehnjährigen, die in diesem und in den nächsten Jahren aus der Schulpflicht entlassen werden und erste Ausbildungsgelegenheit zu finden hoffen, so gut wie nicht gedacht wurde. Diese jungen Arbeits- und gleichzeitig Berufs- wie Einkommenslosen bilden eine in den amtlichen Arbeitslosenziffern zwar nicht erscheinende, aber zahlenmäßig dennoch bedeutende fünfte Kolonne: sie umfaßte 1951 bereits 30.000 junge Menschen.

Seit es in Oesterreich eine Lenkung des Arbeitseinsatzes gibt, ist in allen Jahren das Problem der Unterbringung der Schulentlassenen den Verantwortlichen aufgegeben gewesen. In keinem Jahr sind jedoch die Schwierigkeiten bei der Versorgung' der Pflichtschulabsolventen mit Lehrstellen oder sonstigen Möglichkeiten der Berufsausbildung größer gewesen als 1953. Sie werden 1954 noch größer sein. Im Jahre 1952 wurden in Oesterreich 84.000 junge Menschen aus der Schulpflicht entlassen. 1953 werden es 107.000 und 1954 gar 141.000 sein. Bis 1964 wird die Zahl der Pflichtschulabsolventen allmählich auf ungefähr 100.000 absinken. Allein von 1952 auf 1953 wird sich im Bereich des Wiener Arbeitsamtes die Zahl der Abgänger aus den Pflichtschulen verdoppeln.

Die Wirkung des geradezu ruckartigen Ansteigens der stellensuchenden Schulentlassenen wird noch dadurch verschärfr, daß die Zahl der verfügbaren Lehrplätze einem gegenläufigen Prozeß folgt, nämlich relativ und absolut abnimmt; nicht etwa wegen eines Schrumpfungsprozesses der Wirtschaft, obwohl Verschiebungen in der Größenordnung der Betriebe eine gewisse Rolle spielen. Der Ergänzungsbedarf der Wirtschaft an Nachwuchskräften wird je Jahr mit ungefähr

100.000 angenommen, während die Zahl der Schulentwachsenen in den letzten Jahren erheblich unter dieser Ziffer gelegen war. Der entscheidende Grund des Schwundes an Lehrplätzen ist ein anderer: die falsche Anwendung der an sich völlig richtigen Prinzipien des Wohlfahrtsstaates. „Oben“ war man in den letzten Jahren redlich bemüht, dem Lehr-herrn jeden Anreiz zur Lehrlingshaltung zu nehmen. Der kommerziell geführte Betrieb ist aber, man sollte das unter Vermeidung jedes Romantizismus erkennen, kein Zuschußbetrieb und die Lehrlingshaltung keine durchaus karitative Angelegenheit. Der durchschnittliche Unternehmer — und nur er kann Gegensrand einer Betrachtung sein, nicht irgendein Idealtyp — will aus der Lehrlingshaltung zumindest nach dem ersten Lehrjahr einen Nutzen (Kundige werden von einem „Mehrwert“ sprechen) ziehen. Wenn ihm dagegen die Haltung eines Lehrlings ein unangemessen hohes Opfer zu sein scheint, wird er auf die Einstellung von Lehrlingen eben verzichten. Tch weiß, daß es wenig populär ist, diese Dinge so auszusprechen. Unser soziales Gespräch geht nämlich heute weithin an den Realitäten vorbei und erstarrt in einem sozialen Byzantinismus, dem jede Folgerichtigkeit fehlt. Finden doch viele, die vermeintlich soziale Prinzipien bis Zur letzten Konsequenz (für die anderen) verfechten, wenig daran auszusetzen, daß man beispielsweise die Jungärzte dauernd zu dem Beweis zwingt, Fakire zu sein. Dabei sind es junge Menschen, deren Magen beileibe nicht kleiner ist als der ihrer Mitbürger, trotzdem bekommt ein nicht geringer Teil von ihnen für seine Tätigkeit keinen Groschen. „Damit“ müssen sie, um einmal zu Verdienst zu kommen, leben und harten Dienst im Joch eines Sozialfeudalismus leisten.

Wenn nun ein erheblicher Teil der Schulabgänger in den nächsten Jahren nicht untergebracht werden kann, was sind die Folgen?

Unter Bedachtnahme auf den normalen Abgang an Arbeitskräften wird die Zahl der Produzenten gegenüber den Konsumenten absinken. Das Sozialprodukt wird höchstwahrscheinlich kleiner. Kommen die Jugendlichen später, nach dem 18. Lebensjahr, in einen Beruf, finden sie voraussichtlich nur als Hilfsarbeiter Verwendung (es sei denn „bei der Post und Eisenbahn“). Die Leistung der Hilfsarbeiter und Angelernten ist aber im Durchschnitt kleiner als die der Gelernten, ganz abgesehen davon, daß die österreichische Erzeugung (zumindest die exportintensive) stark auf das Vorhandensein von gelernten und nicht von angelernten Arbeitkräften angewiesen ist. In einigen Jahren wird es so ein Manko an geeigneten Arbeitskräften geben. Die Einwanderung von Spezialisten aus dem Ausland, welche die „Eingeborenen“ zu unterweisen haben, wird dann kaum vermeidbar sein. Dazu kommt noch, daß ab 1964 die Zahl der Schulentwachsenen erheblich unter dem Ausfall an Arbeitern liegen wird. So ist die Zahl derer, die am 1. Juni 1951 das erste Lebensjahr vollendet hatten, kleiner als die Zahl der 51jährigen zum gleichen Zeitpunkt.

Die soziale Folge des Anwachsens der Zahl der berufs- und ausbildungslos bleibenden Jugendlichen ist die Konstituierung einer zahlenmäßig bedeutenden Klasse von Ungelernten, die geeignet ist, die Klassenkampflage zu verschärfen.

Auf die sittlichen Folgen hinzuweisen erübrigt sich. Dabei sind die Mädchen erheblich mehr als die Burschen gefährdet. Konnten 1951 43,5 Prozent der männlichen Schulentlassenen über die Berufsberatung auf eine Lehrstelle vermittelt werden, so bei den Mädchen nur 18,6 Prozent.

Es wäre unrichtig, zu behaupten, man habe sich bei den verantwortlichen Stellen um die Bereinigung der katastrophalen Situation nicht gekümmert. Ich denke an die unausgesetzten Bemühungen etwa der katholischen Arbeiterjugend, die hier initiativ tätig war. Auch die Versuche amtlicher Stellen, die Diskussion in Gang zu bringen, seien nicht vergessen. Freilich kommt man über die Feststellung nicht hinweg, daß die soziale Betreuung der ganz Alten und der ganz Jungen (derer, die nicht mehr lange wählen werden, und derer, die noch lange nicht wählen können) wohl mit Intensität, nicht aber im gleichen Maß an allen Stellen mit Verstand, am wenigsten aber mit Herz erfolgt. An wievielen Orten haben in den letzten Jahren die Führer der katholischen Arbeiterjugend vorgesprochen, ohne die Gewißheit zu erhalten, daß man konkret wirksame Maßnahmen und diese rechtzeitig vorzunehmen beabsichtige.

Vor Torschluß legt nun das O e s t e r-reichische Produkt ivirätszen-t r u m eine von Dr. P. Milford verfaßte Broschüre vor („B erufsnot der Ju-g e n d“), die umfangreiches, in der vorliegenden Arbeit verwertetes Material enthält. Wenn man die in der Broschüre des OePZ katalogisierten Versuche zur Lösung der Berufsnot der Schulentlassenen kritisch betrachtet, kann man sich des peinlichen Eindruckes nicht erwehren, daß erstens niemand so recht dafür zuständig ist, und daß zweitens, obwohl man die Dinge doch schon viele Tahre voraussehen konnte, so gut wie nichts Wirksames vorgekehrt worden ist.

Was die einzelnen und durchweg gutdurchdachten Lösungsvorschläge betrifft (zum Beispiel Subventionierung der Lehrlingshaltung, Schaffung zusätzlicher Lehrplätze, Abhaltung von Werkstättenkursen und die Einführung einer Verpflichtung zur Lehrlingshaltung), so bleibt doch der Eindruck: wahrscheinlich zu spät! Darüber kann auch eine gewisse Betriebsamkeit nicht hinwegtäuschen. Ein Zeichen, wie wenig dieses Jahrhundert ein Jahrhundert der Jugend ist, so stark man sich ihrer auch als Etikette bedient. Wie sehr hat doch unser Jahrhundert zum Beispiel in der sittlichen Betreuung der Jugend versagt; denken wir an die in Oesterreich zur Groteske gewordene Durchführung des Schmutz-und-Schund-Ge-setzes, an das Versagen bei der Unterbringung der jungen Akademiker, an die Staffelung der Beamtenbezüge, die erst ab der „Gebrechlichkeitsgrenze“ ausreichend sind, oder an die Behandlung der kinderreichen Familie.

Von den in Beratung stehenden Maßnahmen zur Unterbringung der Schulentlassenen auf geeigneten Berufsausbildungsstellen wären meines Erachtens teilweise noch in diesem Jahr durchzuführen:

1. Die Errichtung eines neunten und i n ,.s jM-<Wr-.Mhr&P 1 ge e i n e s zehnten Pflichtschul Jahres für jene, die noch keine Lehrstelle oder Ausbildungsmöglichkeit nachweisen können. Aus Erfahrung muß man sagen, daß die meisten 14jährigen noch so weit Kinder sind, daß sie sich für eine berufliche Arbeit kaum eignen. Anlagemäßig berufsreif sind die jungen Menschen, wie ich in jahrelanger Beobachtung feststellen konnte, erst erheblich später.

Im Jahre 1948 waren von 120.000 Lehrlingen nur 84.000 unter 18 Jahren, und von diesen 37.000, das sind 30 Prozent, unter 16 Jahren, während, eine dreijährige Lehrzeit angenommen, die Ziffer der Lehrlinge unter 16 Jahren ungefähr doppelt so groß hätte sein müssen. Es zeigt sich also, daß zu einem guten Teil die Schulentlassenen ohnedies erst später als angenommen in eine Lehrlingsausbildung kommen.

Es wäre aber vermessen, die Verlängerung der Pflichtschulzeit als eine glatt durchführbare Angelegenheit anzusehen. Die finanzielle Belastung der öffentlichen Körperschaften und die Raumfrage würden ernste Probleme aufwerfen. Trotzdem sollte man sich auch hier vom Gedanken der sogenannten „Umwegsrentabilität“ leiten lassen. Es ist immer noch (gesamtfiskalisch gedacht) billiger, Geld für zusätzlichen Unterricht auszugeben als für.die Behandlung von Geschlechtskranken, für Strafanstalten und die Bezahlung von Irren- und Gefangenenwärtern, ganz abgesehen von den später aus der produktiven Leistung gut ausgebilderter Arbeitskräfte zu erwartenden Erträgen.

Ob man dabei im neunten Schuljahr mit Lehrwerkstätten arbeitet (so eine Art von Vor-Lehre schaffend) oder nur die Grundausbildung erweitert, wird noch zu klären sein. Anfänglich, mangels eines hinreichenden Maschinenparks, wird wohl nur die zweite Lösung in Frage kommen.

2. Es bedürfen die berufsbildenden Schulen (die technisch-gewerblichen Lehranstalten), die bis 1946 ganz zu Unrecht diskriminiert worden waren, eines weiteren Ausbaues, so daß wie in den USA große Teile des gewerblichen Nachwuchses ihre Lehrzeit einfach in einem

Schulverband absolvieren. Dadurch werden keineswegs zusätzlich Studenten, das heißt Schreibtischmenschen, gezüchtet, sondern junge Menschen in einer besonders intensiven Form für das Berufsleben herangebildet. Die an den technisch-gewerblichen Lehranstalten geführten Höheren Abteilungen (mit Reifeprüfung) pflegen eine derart strenge Auslese (wer eine „genügende“ Leistung aufzuweisen hat, kommt nicht in eine Höhere Abteilung), daß auch keine Gefahr der Verbeamtung des Arbeitsanbotes besteht.

3. Es ist die Schaffung von Anreizen zur Lehrlingshaltung unvermeidbar. Gewiß muß dabei jede „Lehrlingsschinderei“ (die sich heute wohl nur mehr im Zwang zu unbezahlten Ueber-stunden äußert) verhindert werden. Anderseits möge man aber bedenken, daß die Schüler an den technisch-gewerblichen Lehranstalten etwa 48 Stunden je Woche Unterrieht haben, keine Entlohnung erhalten, sondern sogar (wenn auch wenig) Schulgeld zahlen müssen und neben der Schule noch die halben Ferien in einer Ferialpraxis zuzubringen haben. Nach den 48 Stunden Unterricht sind überdies die Hausarbeiten zu erledigen.

Ein Lehrlingsschutz, der schließlich zur Berufslosigkeit der Lehrlinge führt, hat seinen Sinn verloren, wie jede soziale Betreuung, die sich letzten Endes für den Betreuten nachteilig auswirkt (daher war auch der Hillegeist-Plan nicht vorweg und diskussionslos zu verurteilen!). Bei Prinzipiendrill — und wir haben jetzt einen solchen auf beiden Seiten der Klassengesellschaft — wird eben auf den Menschen zu wenig Bedacht genommen.

Die anderen Pläne, insbesondere der kühne Werkschulplan und das Lehrlingseinstellungsgesetz, sind wohl unter allen Umständen weiterzuverfolgen, wie es ja im Sozialen so ist, daß keineswegs eine einzige Methode zum Erfolg führen kann. Dagegen kann ich mich für die Einführung einer Arbeitsdienstpflicht, dazu noch mit Kasernierung, nicht erwärmen. Der Ausbildungseffekt eines Arbeitsdienstes, von den sittlichen Folgen ganz zu schweigen, steht in keinem Verhältnis zu den Kosten.

Für die soziale Neuordnung gilt, wie für jedes Heilverfahren, daß Heilen und Verhüten als gleich wichtig betrachtet werden müssen.

Die Arbeits- und Berufslosigkeit der Jugend schafft neue Fellachenhorden. Wenn nicht durchgreifend und noch in diesem Jahr wirksame Maßnahmen ergriffen werden, sind wir ein Stück weiter auf dem Weg zur Bildung einer neuen Schichte der gesellschaftlichen Unterwelt.

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