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„Wir wollen etwas vom Leben haben“

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VOR ZWEIEINHALB JAHREN begann ein Forscherteam unter der Leitung von Frau Professor Anna Salomonson (Leyden-Wien) in der Bundeshauptstadt mit bevölkerungspolitischen Untersuchungen. Es ergab sich die aufrüttelnde Tatsache, daß 20 Prozent aller Ehen kinderlos blieben und 37 Prozent nur ein Kind aufzogen. Es wird nur noch die Hälfte der Kinder zur Welt gebracht, die nötig wären. Während Amsterdam einen Geburtensatz von 18 Promille, \ Hamburg einen solchen von 11 Promille verzeichnet, liegt Wien, niedriger als Paris, bei 8 Promille. Als Vergleich: lm Jahresdurchschnitt 1871 bis 1880 betrug bei einer auf das Gebiet der heutigen Republik Oesterreich errechneten Bevölkerung von 4,751 297 die Zahl der Lebendgeborenen 34,3 Promille. Die Erste Republik hatte 1919 insgesamt 6,419.503 Einwohner und eine Geburtenrate von immerhin noch 18,5 Promille — das in den Nöten der unmittelbaren Nachkriegszeit! 1910 waren von 1000 Personen 73 über 60 Jahre alt, heute sind es 201; 1910 betrug das erreichte Durchschnittsalter 29 Jahre, heute beträgt es 40. Der Schnee fällt in schütter gewordenes Geäst. Wien, das gegenwärtig rund 1,6 Millionen Einwohner beherbergt, wird in 50 Jahren unter die Million abgesunken sein. Als man in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg beim Heurigen mit elegischem Zungenschlag sang: „Wien, sterbende Märchen- Stadt'... , dachte man gewiß nicht daran, daß dem tränenfeuchten Geigenton, auf die politische und wirtschaftliche Geltung der Stadt bezogen, zwei Generationen später der Paukenschlag der Geschichte folgen wird.

DIE ALLGEMEINHEIT ist gesonnen, zwei Gründe für den Rückgang der Bevölkerungsziffer und die Ueberalterung (die ein immer mehr wachsendes Problem für die Sozialversicherung wijd — JEnde 195 5 war bereits ein £eh,ptel fllIer Öesterreicher Reptner) anzufūhręn. Grund 1: die wirtschaftlichen Verhältnisse; Grund 2: die Wohnungszustände. Was die erste Ursache betrifft, so ist sie durch die fortschrittliche Sozialgesetzgebung und den Wirtschaftsaufschwung zumindest zum größten Teil eliminiert. Die Wohnraumbeschaffung ist — so sollte man meinen — durch den „sozialen Wohnungsbau“ der Gemeinde Wien und durch die privaten Bauvorhaben mit Unterstützung des Bundes beeinflußt worden. Schließlich wurden auch seit 1948 in Oesterreich unter der Aegide der katholischen Kirche 3 500 Wohnungen errichtet; zwei Drittel dieser Wohnungen befinden sich in Wien oder Niederösterreich. Die Kirchliche Aufbauanleihe hat neuerlich erhebliche Mittel bereitzüstellen erklärt. Dennoch ergab eine Umfrage unter Wiener Ehepaaren über die Ursache der Kinderlosigkeit „schlechte Woh nungsverhältnisse" und „ungünstige wirtschaftliche Situation“. Im einzelnen gaben 57 Prozent der Eheleute beiderlei Geschlechts in der Altersstufe bis zu 25 Jahren ungünstige wirtschaftliche Situation als Ursache der Kinderlosigkeit an, 26 Prozent der Männer und 23 Prozent der Frauen die schlechten Wohnungsverhältnisse. Dem ist entgegenzuhalten, daß in den Arbeiterfamilien die Kaufkraft um 30 bis 40 Prozent höher liegt als vor dem 1. Weltkrieg. Weitere Untersuchungen ergaben, daß die Wohnungsverhältnisse kein alleiniger Grund für die Kinderlosigkeit sind. Die statistisch erfaßte Kinderzahl in den Kleinwohnungen lag in Wien bei 11,51 Prozent, in den Mittel- und Großwohnun- gen kaum wesentlich anders, nämlich bei 11,59 Prozent. Es darf die Tatsache nicht verschwiegen werden: es gibt Arbeiter, die drei und mehr Kinder aufziehen, im Gegensatz zu den Großvätern, welche noch den Geburtenstreik proklamierten. Wohl aber gibt es, wie Univ.- Professor Dr. Hans Asperger in einem Vortrag einmal erklärte, eine „Luxusverwahrlosung". Jeder Wunsch wird in besser situierten Kreisen erfüllt (als ob man die Liebe damit abgelten könnte!), da die Eltern keine Zeit haben, sich

Kindern zu widmen; es muß (oder glaubt es zu müssen) oft bei gutem Verdienst des Mannes auch die Frau einem Verdienst nachgehen, um den sogenannten „Standard“ zu erhöhen. Man repräsentiert. Man eilt von Veranstaltung zu Veranstaltung. Das sind aber noch „günstige“ Fälle. Dagegen gab die Gattin eines Groß-

industriellen glatt zu, bereits acht Abtreibunger hinter sich zu haben, „weil wir doch etwas von Leben haben möchten“. Dieses eine Beispie zeigt, daß den Versuchen, der Idee des unerwünschten Kindes wirksam zu begegnen, in der weniger begüterten Kreisen mehr Möglichkeiter offenstehen als in jenen anderen, wo der Eisschrank, die Musikbox, die Einbauküche

Cocktailparty, Tanz und Auslandsreisen, der Fernsehapparat und der Roller (vom Auto ganz zu schweigen) den Lebensinhalt bilden.

DIE IMMER WENIGER WERDENDEN KINDER müssen ihre Mütter oft entbehren, wenn diese gerade gebraucht werden. Ein gesellschaftlicher Wandlungsprozeß, der nicht mehr aufzuhalten ist, hindert die Frau an der grundlegenden Neuformung ihres Lebens. Diese Frau geht dem Beruf nach, bekommt keine häusliche Hilfe, die Großmutter oder sonst irgend eine Verwandte soll eine Funktion übernehmen, welche der Psychosomatik ins Gesicht schlägt. Eine Milderung dieses Zustandes wäre erst dann erreicht, wenn es möglich wäre, der berufstätigen Frau und ihrem Kind das aus biologischen Gründen nötige Beisammensein wenigstens bis zum dritten Jahr zu sichern. In der französischen Fürsorge ist zwischen den beiden Kriegen ein Versuch in dieser Richtung unternommen worden. Schließlich wäre den unehelichen Müttern eine (wenn es sein muß, subventionierte) Arbeit zu verschaffen, auch wenigstens für drei Jahre, es wären Mutter und Kind in einer gemeinsamen Hausanlage mit gemeinsam sozial gelagerten Fällen würdig unterzubringen; dort ist während der Arbeitsabwesenheit der Mutter eine hauptamtliche Haushaltsaufsicht einzusetzen. Wo private Initiative nur einigermaßen ähnliche Maßnahmen ergriff, hat es sich ergeben, daß keine Mutter ihr Kind verließ, ja, daß oft das scheinbar Unmögliche vollbracht wurde, die Eltern zusammenzubringen und die Kinder „zu legalisieren.

WAS IN BESONDEREN FÄLLEN karitative Fürsorge vermag, erzählen die Karteien der SOS-Gemeinschaft, Referat Ungeborenenhilfe. In den paar Jahren seiner Tätigkeit hat es buchstäblich 623 Kinder, die „unerwünscht" waren, vom Tode gerettet. 500 Kinderwagen stehen zum Ausleihen bereit. An „kleinen Hilfen" sind in einzelnen Fällen 12.000 bis 15.000 Schilling ausgegeben worden. Die Mütter finden im Heim der Caritas socialis und in den Kleinstheimen der SOS-Gemeinschaft, von denen es bis jetzt zwei gibt, Zuflucht. Der Leiter der SOS-Gemeinschaft, Hilfsstelle Wien. Josef Macho, bezeichnet als vordringlich: klare Sozialberatung; Schaffung von Siedlungen für Kinderfamilien; Kleinst- heime für berufstätige Mütter mit angestellten Haushaltshilfen.

DIE FLEISSIGEN STATISTIKER haben sich die Mühe gemacht, am Beispiel von 220 ,,Musterfamilien“ einmal auszurechnen, „was ein Kind kostet“. Man kam zu dem arithmetisch unanfechtbaren Ergebnis: vom Tage der Geburt bis zum 17. Lebensjahr haben diese Musterfamilien im Durchschnitt 98.000 Schilling ausgegeben; verdient ein Kind mit l7 Jahren noch nichts (weil es weiter die Schule besucht), steigt der Betrag, bis man bei 250 000 Schilling (Medizinstudium) anlangt. Halten wir uns bei den Musterfamilien an das Musterbeispiel, dann kostet ein Kind „im billigsten Fall“ 480 Schil- Ung Je Monat. Eine Wiener Wodienzeitung, welche diese . Ziffern zitiert?, ließ,, einen Satz einfließen: „Na, da schweigen wir, welche Wünsche für Mutti wieder unter den Tisch gefallen sind.“

WENN WIR SO DENKEN und so rechnen, dann haben alle Expertisen, Gemeinschaften (wie „Rettet das Leben"), alle gelenkten familienpolitischen Maßnahmen keinen Zweck. Dann legen wir am besten die Hände in den Schoß und warten, bis Wien die „sterbende Märchenstadt“ geworden ist; dann ersparen wir uns die Streiterei um das Kulturbudget; dann führen wir Alten und immer älter Werdenden die Fremden aus Amsterdam, Hamburg und Paris durch das Museum Wien. „Seht’s, Leutein, so war’s Anno dreißig ...“ Gesetze allein, Steuerbegünstigungen und Kinderbeihilfen können niemals in den Menschen, die Gesetze zu befolgen haben, jene allgemein-sittlichen Werte, jenes Lebensgefühl und Zeitbewußtsein hervorrufen, die nötig wären, in den Jahren und Jahrzehnten moralischer Destruktion, ichbestimmten Denkens, den Willen zur Familie und den Wunsch zum Kinde herbeizurufen. Es liegt deutlich vor uns, daß ein Staat, dessen kleinste Zelle — eben die Familie — funktiotisuntüchtig wird, über kurz oder, lang in seinem Gefüge Schäden erleidet, an denen unsere nachfolgenden Generationen zu tragen haben werden. Wir möchten nicht schwarz malen, aber es kann sein, daß jene Schäden mit der Lockerung des Gesellschaftsgefüges den Staat selbst in den Abgrund des sozialen Umsturzes führen Wir brauchen uns dann auch nicht um die Freiheit zu sorgen. Stärkere Nachbarn werden uns ihre Ausgabe der Freiheit bringen.

Indes: wenn die, Worte, die erschreckenden, die erschütternden Worte, ' die in einer Versammlung im Auditorium maximum der Wiener Universität aufklangen: „Es gibt heute keine materielle Sicherheit mehr“ — dann muß jeder erkennen, daß Sicherheit der Seele, Freiheit von Furcht, Achtung vor dem Leben die menschliche Tätigkeit beflügeln und so erst eine — relative — Sicherheit zu gründen vermögen. Die materielle Sicherheit suchen und immer suchen, heißt verzagen an sich-- selbst; heißt im Unglauben verharren; heißt nicht sich, aber die anderen prüfen — obschon der Apostel Paulus mahnte: „Prüfet euch selbst, ob ihr im Glauben steht! Untersucht euch!“ (Kor. 13, 5.)

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