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Zukunft auf dem Prüfstand

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Schweden ist wichtig für jeden, der wissen will, wie die Zukunft der Industriegesellschaft aussieht. Aber nicht alles, was wir in Schweden bewundern oder was uns dort wundert, ist typisch für die „nachindustrielle Gesellschaft“. Manches ist lediglich typisch schwedisch ...

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Schweden ist wichtig für jeden, der wissen will, wie die Zukunft der Industriegesellschaft aussieht. Aber nicht alles, was wir in Schweden bewundern oder was uns dort wundert, ist typisch für die „nachindustrielle Gesellschaft“. Manches ist lediglich typisch schwedisch ...

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„Wir Schweden“, sagte ein leitender Beamter der schwedischen Entwicklungshilfe zu mir, „fühlen uns nicht so sehr als ein Land in Europa wie als Land in der Welt. Die Schweden interessierensich sehr dafür, was in der Welt vorgeht, und Europa ist nur ein kleiner Teil von ihr.“

An diesen Ausspruch mußte ich denken, als ich in einem argen, durch den Besuch eines hohen chinesischen Politikers verursachten Verkehrsstau meinen Taxifahrer mit einer Bemerkung über die Unnötigkeit eines solchen Staatsbesuches für den Mann auf der Straße provozierte.

„Dieser Staatsbesuch ist für uns sogar sehr wichtig“, sagte er, „denn ich hoffe, daß er unsere Regierung endlich davon überzeugt, daß wir einem außenpolitisph so aggressiven Land wie Vietnam nicht so viel Entwicklungshilfe geben sollten. Außerdem gibt es viel ärmere Länder. Denen sollten wir das Geld geben!“

Unter allen Industrielandern hat Schweden den höchsten Lebensstandard und die geringsten sozialen Unterschiede. Wenn irgendwo, läßt sich am Beispiel Schwedens erahnen, wie die vielzitierte nachindustrielle Gesellschaft aussehen könnte.

Denn vieles, was in vier Dezennien sozialdemokratischer Regierungsverantwortung als Ergebnis sozialdemokratischer Politik galt, erweist sich nun, nach drei Jahren bürgerlicher Kabinette, als von einem breiten Konsensus der politischen Kräfte getragen. Andererseits ist so mancher Bestandteil des „schwedischen Systems“ alles andere als unangefochten.

Historische und ökonomische Faktoren ließen die schwedische Gesellschaft so werden, wie sie heute ist. Ein besonders wichtiger historischer Faktor ist die soziale Homogenität der schwedischen Bevölkerung, die den Ubergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit vollzog. Schwedens egalitäre Gesellschaft ist nicht Ergebnis, sondern war Voraussetzung der langen Kette sozialdemokratischer Regierungen. Ein anderer für das Verständnis dieses Landes wichtiger Faktor ist die geographische Randlage in extremem Küma. Da Schweden fremden Eroberern kaum je verlockend erschien, die Schweden selbst aber seit ungezählten Jahrhunderten große Seefahrer waren, begegneten und begegnen sie der Außenwelt instinktiv mit großem Interesse und ohne Angst.

Erst im Industriezeitalter entdeckte das traditionell eher arme, riesige, dünn besiedelte Land seinen potentiellen Reichtum: das Holz, die Bodenschätze. Und die beiden Weltkriege verschonten Schweden.

Die egalitäre Struktur, die prinzipielle Gleichheit der Menschen, auf die anderswo utopisches Denken zielt, die man sich anderswo an der Schwelle des Industriezeitalters aus dessen imaginärem Füllhorn erhoffte, brachte auf diese Weise Schwedens bäuerliche Bevölkerung schon in die Industriegesellschaft mit.

Was bedeutet, daß Schweden sehr wohl in mancher Beziehung Vorbild sein kann. Aber keineswegs geeignet, den Glauben an einen Automatismus, der die Quantität der Industrialisierung irgendwann zwangsläufig in die Qualität einer egalitäreren Gesellschaft umschlagen läßt, zu verifizieren.

Schweden ist ein Sonderfall. Aber unter Sonderbedingungen entstand hier, wie so oft, etwas, was auf seine Brauchbarkeit unter anderen Bedingungen untersucht werden muß. Schweden hat Vorbilder und Warnungen zu bieten.

Einerseits sagt man den Schweden Kohtaktarmut nach. Andererseits aber ist Schwedens Politik wie Schwedens Alltagsleben von einer oft rührenden Bemühung um mitmenschliche Solidarität gekennzeichnet.

Dieser Grundhaltung entspringt -um nur ein Beispiel zu geben - eine Durchgestaltung aller öffentlichen Einrichtungen unter Bedachtnahme auf Sonderbedürfnisse. Auf Mütter mit kleinen Kindern. Auf Ausländer. Auf Körperbehinderte. Kein Ministerium, keine Behörde, in deren Gebäude man nicht auch mit einem Rollstuhl einfahren kann. Kein Theater ohne gute Plätze für Rollstühle. Kaum eine U-Bahn-Station ohne Aufzug für Körperbehinderte, und kaum ein neuerer U-Bahn-Abgang ohne Hinweis, bei welcher der oft vielen Rolltreppen, die in die Unterwelt einer solchen Station führen, er zu finden ist. Selbstverständlich gibt es auch allenthalben außen gekennzeichnete Toiletten, die durch ein entsprechendes Raumangebot, ausklappbare Stützen und so weiter auch für Körperbehinderte geeignet sind.

U-Bahnen, die für Mütter mit Kinderwagen ohne fremde Hilfe nicht benutzbar sind, wie wir sie in Wien heute bauen (!), wären im Land der Mitternachtssonne undenkbar. Und selbstverständlich, gibt es auch allenthalben auf den Treppen Kinderwagen-Rampen. Kleinigkeiten? Ihr Fehlen bedeutet für zahlenmäßig gar nicht so kleine Gruppen bei uns Ausschließung, in Schweden Einbeziehung in das öffentliche Leben.

Dieses Denken an die Probleme anderer, dieses Bemühen um Ausgleich von Unterschieden, durchzieht das schwedische Leben und wirkt auch nach außen. Es bestimmt auch Schwedens Entwicklungshilfe-Politik. Oder die Haltung gegenüber den Einwanderern. Es schlägt andererseits oft in den Geist des Reglementierens um jeden Preis um.

Gesamtaufwand für Entwicklungshilfe im vergangenen Haushaltsjahr: 3,5 Milliarden Schwedenkronen (rund 11 Milliarden Schilling) oder ein Prozent des Bruttosozialprodukts. Kein Industrieland wendet einen höheren BSP-Prozentsatz für Entwicklungshilfe auf. Diese Politik stützt sich dabei auf einen breiten Konsensus zwischen Parteien und Bevölkerung, umstritten ist lediglich die Bevorzugung von Vietnam.

Vietnam bekam im Vorjahr im Rahmen der „Entwicklungszusammenarbeit“ 350 Millionen Kronen (rund 1,1 Milliarden Schilling), das sind 20 Prozent der gesamten den „Zusammenarbeitsländern“ direkt zugeflossenen Mittel, gefolgt von Tansania (270 Millionen Kronen, 15%), Indien (240 Millionen, 13%) und Bangladesch (110 Millionen, 6%). Der Rest verteilt sich auf 16 weitere Länder.

Ausländische Arbeitskräfte werden nicht ein- und bei Konjunkturab-schwächungen prompt wieder ausgeladen, sondern eingebürgert. Und es ist kein Widerspruch mit dieser auf Dauer-Integration gerichteten Politik, wenn die Schweden geradezu versessen daraufsind, daß auch wirklich jedes Einwandererkind den ihm zustehenden regelmäßigen Unterricht in seiner Muttersprache erhält. Frühere Erfahrungen zeigten nämlich, daß einwandfreie Beherrschung der Muttersprache Voraussetzung für einwandfreies Erlernen der Sprache des Einwanderungslandes ist. Um den Einwandererkindern das Schicksal der „Halbsprachigkeit“ zu ersparen, also nicht zuletzt als Basis für ihr späteres Schwedisch, wird das Prinzip der zweisprachigen Erziehung konsequent durchgezogen.

Sozialstaatlicher Perfektionismus: Einer mit einem Schweden verheirateten Österreicherin, die schon lang im Land lebt und deren Kinder Österreich nur als Urlaubsland kennen, wurde eines Tages mitgeteüt, als Kinder einer Einwanderin hätten sie das Recht auf Heimsprachenunter-richt - den sie nun regelmäßig kostenlos bekommen. (Und ihre eigene Mutter wurde gleich als Deutschlehrerin engagiert.)

Auch die Kinder der Vietnamflüchtlinge bekommen Vietname-sisch-Unterrichj;. Wenn in einer Stadt auch nur ein Kind Unterricht in einer bestimmten Sprache benötigt, wird er ermöglicht.

Die Einwanderer stellen bereits zehn Prozent des Sieben-Millionen-Volkes im Norden. Im Zeichen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ging von dem Goodwill, den ihnen die Bevölkerung in der Zeit des großen Arbeitskräftemangels entgegenbrachte, einiges wieder verloren. Rassenkrawalle in Södertähe vor längerer Zeit blieben trotzdem eine große Ausnahme. Die Leiterin des örtlichen Einwanderungsbüros (selbst eine Einwanderin aus Finnland): „Wir haben daraus gelernt. Es war ein Fehler, so viele Assyrer an einem Punkt zu konzentrieren.“ („Assyrer“ ist die Sammelbezeichnung für die Christen aus dem Nahen Osten.)

Welche tiefgreifenden, auch das Erscheinungsbild der bisher weitgehend homogenen Bevölkerung betreffende Veränderungen auf die Schweden durch diese plötzliche massive Einwanderung zukommen, ahnen vorerst wenige Menschen. Oder wird der Gedanke daran verdrängt? Doch auch dieses Problem betrifft ja nicht hur die Schweden.

Grenzen sind der Gleichstellung der Menschen und der Gleichrangigkeit ihrer Bedürfnisse dort gesetzt, wo sie mehr erfordern würde als einen finanziellen Mehraufwand. So bekommen die Lappen im hohen Norden zwar selbstverständlich Unterricht in ihrer eigenen Sprache, und der spezifische Wert ihrer Kultur wird prinzipiell anerkannt, was aber nichts daran ändert, daß der Lebensraum der Rentiere immer weiter eingeengt und damit der Lebensform und damit auch der Kultur der Lappen die Basis entzogen wird.

In der schwedischen Gesellschaft selbst wird die Gleichstellung der Menschen teils über den Steuertarif, teils über die Sozialgesetze und nicht zuletzt mit Hilfe des Schulwesens vorangetrieben. Sozialstaatliche Perfektion zielt nicht nur auf Gleichstellung der Frau mit dem Mann, sondern auch umgekehrt. So stehen einer Familie nach der Geburt eines Kindes neun Monate bezahlter Urlaub zu, den Mann und Frau nach Beheben zwischen sich aufteilen können. (Dazu kommt noch eine verkürzte Arbeitszeit für Eltern!) Selbst ein Staatssekretär zog sich auf Grund dieser Bestimmung für mehrere Monate ins Privatleben zurück. Böse Zungen vermuten, daß er dazu verdonnert wurde, um die noch junge Institution Vaterurlaub auf breiterer Basis populär zu machen.

Kehrseite der Medaille: 75 Prozent aller schwedischen Frauen arbeiten. Viele tun es nicht aus innerem Bedürfnis oder finanzieller Notwendigkeit, sondern weil sie damit der Erwartungshaltung ihrer Umgebung entsprechen. Eine Frau, die sich nur Haushalt und Kindern widmet, wird als „Luxusweibchen“ moralisch abqualifiziert, schief angesehen, nicht für voll genommen. Viele Schwedinnen verzichten aus diesem Grund auf die Mutterrolle, die ihnen mehr liegen würde als die einer Karrierefrau, die ihren beruflichen Erfolg mit dem ihres Mannes vergleicht und gezwungen ist, „gleichberechtigt“ mit ihm zu konkurrieren.

Die Frage, ob die Gleichberechtigung der Frau nicht auch auf einem Weg herbeigeführt werden kann, der zu größerer Wahlfreiheit statt zu neuen Rollenzwängen führt, ist nicht nur für die Schwedin von Bedeutung.

Für die Schwedin aber ist von Bedeutung, daß sie ihre Kinder einem Schulsystem anvertrauen muß, das sich im Ubergang zur obligaten Ganztagesschule befindet, dessen Effizienz aber immer stärker angezweifelt wird. Eine wachsende Zahl von Kritikern wirft Schwedens Schule vor, einen erheblichen Prozentsatz von Halbanalphabeten ins Leben zu entlassen, weil sie sich auf ein allzu liberales Erziehungsprinzip festgelegt hat, statt die richtige Balance zwischen Freizügigkeit und Autorität zu suchen. Vierzigjährige Akademiker erkennen heute in den Prüfungsaufgaben künftiger Englischlehrer, die ihr Universitätsexamen ablegen, ihre eigenen Maturaaufgaben von einst wieder. Selbst Wohlmeinende stellen die ketzerische Frage in den Raum: „Sollten wir den jungen Menschen nicht doch wieder mehr Kenntnisse vermitteln, statt ihre sozialen Eigenschaften zu entwickeln und ihnen zu sagen, wo man nachsehen muß, wenn man etwas wissen will?“ (Die FURCHE wird über das schwedische Erziehungssystem gesondert berichten.)

Logische Folge der totalen Staats-fürsorge sind Schwedens hohe Steuern, und diese sind überdies ein weiterer, soziale Unterschiede vermindernder Faktor. In der schwedischen Gesellschaft gibt es zwar noch Reiche, aber kaum mehr Arme. Spitzengehälter, wie sie unsere Politiker beziehen (oder gar Steuerprivilegien für Politiker!), wären mit dem schwedischen Gerechtigkeitsempfinderi absolut unvereinbar. So verdient im reichen Schweden der Minister monatlich rund 52.000 Schilling, der Parlamentarier einschließlich Zulagen maximal 36.000 Schilling, der Fabriksarbeiter rund 15.000 Schilling, kein Bankdirektor mehr als 160.000 Schilling, zwölfmal im Jahr, voll zu versteuern.

In Spitälern tätige Ärzte dürfen keine Privathonorare nehmen und keine Privatpraxis unterhalten.

Die hohen Steuern sorgen für Ausgleich. Der 1: 3-Unterschied zwischen einem 13.000-Schüling-Mo-natseinkommen und einem 40.500-

Schilling-Monatseinkommen schmilzt nach Abzug der Einkommensteuer (in der die Sozialversicherungsbeiträge eingeschlossen sind) auf eine Relation von 9.000 zu 16.500 Schilling. In anderen Gemeinden (die mit der Einkommensteuer eingehobenen Kommunalsteuern schwanken) gar auf eine Relation von 8500 zu 14.900 Schilling. (In Österreich: 10.800 zu 29.000 Schilling unter Berücksichtigung von 14 Gehältern, ohne Kinder- und sonstige Freibeträge.) Mehr als 12 Monatsgehälter sind in Schweden unbekannt.

Viele Schweden nehmen diesen Steuern gegenüber eine etwas zwiespältige Haltung ein. Sie erklären sie einerseits für notwendig, kritisieren aber anderseits den leistungshem-menden Effekt von Spitzenprogressionssätzen über 80 Prozent bei den Einkommen des gehobenen Mittelstandes.

Die bürgerlichen Parteien wollen diesem Problem durch eine Milderung der Steuerprogression beikommen - Mehrarbeit durch den vermehrten Leistungsanreiz soll verhindern, daß das Steueraufkommen sinkt.

Was nicht geschehen darf, denn das Budget hat wenig Spielraum. Und -um ein Beispiel zu nennen: Bahnfahrten sind schon jetzt so teuer, daß Autofahren, auch allein in einem Wa-,gen, billiger kommt. Was nicht im Sinne des Energiesparens ist - eine Senkung der Bahntarife wurde deshalb für Sommer dieses Jahres versprochen.

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