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An den Rand geshrieben

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GEBET ZU ARBEITSBEGINN. In diesen Tagen wurden und werden die Arbeiten im Parlament nacheinander wieder beginnen. Die frühen Herbststürme scheinen vorüber zu sein, oder so will man es zumindest hoffen. Die im Sommer fallengelassenen Fäden werden wieder aufgenommen: der Landesverfeidigungsausschuß befahl sich bereits mit dem Bericht der Bundesregierung über den Stand der Landesverteidigung; der, wie erinnerlich, vom Verfassungsausschuß zur Behandlung der vorliegenden drei Wahlrechtsreformanfräge ins Leben gerufene Unterausschuß begann ebenfalls seine Tätigkeit. Weitere, insgesamt 15 parlamentarische Unterausschüsse beschäftigten sich auch schon während des Sommers mit den ihnen anvertraufen schwierigen Spezialmaterien. Trotzdem: in diesen Tagen wird ein Anfang gesetzt. Und gerade zu diesem Zeitpunkt traf ein Schreiben ungewöhnlichen Inhalts beim Präsidenten des Nationalrates ein: Der für die Parlamentsgegend zuständige katholische Pfarrer, der Propst der Propslpfarre Votivkirche, Hofrat Msgr. Dr. Anton M. Pichler, regt in diesem Schreiben an, daß das Parlament, wie in zahlreichen westlichen Ländern üblich, auch in unserem Land seine neu beginnende Session mit einem Gebet einleiten möge. Der Briefschreiber beruft sich aut einen diesbezüglichen Wunsch in „immer weiteren Kreisen der gläubigen Bevölkerung Österreichs"; das Gebet wäre so zu formulieren, daß es für alle Menschen paßt, die an einen persönlichen Gott glauben. Der Vorschlag ist bemerkenswert und wäre vorbehaltlos zu unterstützen, wenn man sich allerdings vorher vergewissern könnte, ob seine Verwirklichung in späterer Folge von allen Befürwortern ebenso ehrlich wie vom Initiator gemeint wird. Der Maßstab der Ehrlichkeit wäre also zuerst auch in diesem Fall anzulegen, denn es wäre schade, etwas gedankenlos, nur dem „Protokoll zuliebe zu tun… Da hat man schon in ähnlichen Fällen einige trübe Erfahrungen gemacht. Das erzieherische Moment wäre freilich ein weiterer, nicht unwichtiger Gesichtspunkt. Lassen sich aber Politiker erziehen?

DER WIENER UNIVERSITÄT steht im nächsten Frühjahr ein ehrenvolles Jubiläum bevor: die Feier ihres sechs- hundertjährigen"1 Bestehens. Nachdem Prag zur rein tschechischen Universität geworden isf; darf sich Wien damit die älteste Universität im deutschsprachigen Raum nennen. Wiener Forschern gelang es, das Interesse der wissenschaftlichen Welt für die „Wiener Schule" über lange Zeiträume hinweg zu erhalten. Die Vorbereitungen für die große Geburtstagsfeier sind bereits so weit fortgeschritten, daß der Rektor der Wiener Universität dieser Tage das vorläufige Festprogramm bekannfgeben konnte. Schon haben 190 Universitäten aus Europa und Übersee ihre Teilnahme an den Feierlichkeiten angekündigt. Für wissenschaftliche Leistungen sollen 26 Ehrendoktorafe verliehen werden. Leistungen in der Vergangenheit stellen auch ihre Forderungen an die gegenwärtige und zukünftige Forschung. Zwei Sorgenkinder der Wiener Universität erschweren deren Erfüllung: der Raummangel und die Schwierigkeiten bei der Berufung ausländischer Forscher und Wissenschaftler, deren Zusage oft an der Wohnungsfrage scheitert. Die Verantwortlichen der Universität hoffen, daß sich dieser Schatten über der Festfreude etwas lichten läßt. Nachdem der Plan, eine völlig neue Universität außerhalb der Stadt zu errichten, als nicht durchführbar angesehen wird, erwünscht man sich von der Stadt Wien ein besonderes Jubiläumsgeschenk: das Areal des alten Garnisonsspifals als Baugrund für Erweiterungsbauten der Universität.

NUR DIE KRASSESTEN FÄLLE… Österreichs Steuergesetzgebung ist trotz der Teilerfolge der unentwegten Bemühungen unserer Familienverbände noch immer grundsätzlich familienfeindlich. Nun hat dieser Tage der Katholische Familienverband an den Finanzminister ein Memorandum gerichtet, das, wie ausdrücklich betont wird, nur die krassesten Fälle von steuerlichem Unrecht gegenüber der Familie beseitigen soll. Dafür wird u. a. vorgeschlagen: Gewährung eines steuerfreien Betrages von 3600 S jährlich auch für die nicht berufstätige Hausfrau und Mutter, familiengerechte Staffelung des Freibetrages für Nebeneinkommen (um 1200 S für jedes Kind mehr), dauernde Einstufung der Elfern von mindestens drei Kindern wenigstens in Steuergruppe III, Aufwertung der steuerlichen Kinderermäßigung, Steuerfreiheit der Familienzulagen und schließlich Senkung der Erbschaftssteuer von kleineren Erbschaftsvermögen für Ehegatten, Kinder und Enkel. Das alles stelle, so wird zu Recht betont, keines wegs eine der unpopulären bevölke- rungs- oder familienpolitischen, sondern eine rein steuerpolitische Maßnahme dar, ihre Erfüllung wäre ein Gebot der Steuergerechtigkeit und Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz.

IM RAUM DES LATEINISCHEN, Das lateinische Erbe, auf das sich gemeinsam zu besinnen gilt, isf nur eines der Moffos, unter dem die in riesenhaften Ausmaßen projektierte und bereits laufende Reise des französischen Staalschefs in Lateinamerika steht. In zehn von den insgesamt zwanzig Ländern Süd- und Zentralamerikas wird in den kommenden Wochen französisch, portugiesisch oder spanisch über die Möglichkeiten einer Intensivierung der Zusammenarbeit mit Frankreich keineswegs nur auf kulturellem, sondern ebenso auf wirtschaftlichem und — nicht zu vergessen! — politischem Gebiet gesprochen. De Gaulle will nämlich mehreres: er will die „armen Verwandten" drüben an das stolze gemeinsame Erbe erinnern, und er will daraus Folgerungen ableiten, die dort als die drifte Lösung zwischen den beiden bisher geltenden Alternativen — Anlehnung an die USA oder Abgleifen in den Kommunismus Castros — empfunden werden sollen. De Gaulle besucht wohl aus diesem Grunde Kuba nicht, und er wird bei jeder Gelegenheit Frankreichs eigenen Weg auf allen Pfaden der Welfpolitik betonen. Das könnte Schule machen und zumindest die internationale Politik auf den Weltforen wenn auch komolizierfer, aber vielleicht auch fruchtbringender gestalten,

AM BEISPIEL SCHWEDENS… Der Wahlsieg der schwedischen Sozialdemokraten befreite die sozialistischen Zeitungen unseres Landes aus einer gewissen Notlage, in der sie sich in diesen Tagen unmittelbar nach der Olah-Affäre — die ja noch gar nicht richtig zu Ende zu sein scheint — befunden haben mochten: das Leit- arfikelfhema für den nächsten Tag stand damit glücklich fest. Der Erfolg Tage Erlanders isf in der Tat eindrucksvoll, und ebenso beeindruckt den Leser das — zumindest von hier aus gesehen — ungeschickte Manövrieren der Gegner der Sozialdemokratie in Schweden, ihr schlechtes Einfühlungsvermögen in eine Mentalität, die den Wohlstandsbürger des Versorgungsstaates von heute „auszeichnet" und die man etwas verein- fachend als krassen und "blinden Egoismus bezeichnen kann. Die Konservativen zum Beispiel haben vor den Wahlen eine Idee propagiert, die sie dann elf ganze Mandate kostete: aus den immensen Reserven der Zusafzversicherung — allgemeine Dienstpension genannt — sollten jährlich zwei Milliarden Kronen an jene Alfersrenfner, Witwen, Invaliden usw. auszuzahlen sein, die sonst lee ausgingen. Das entsprach freilich nicht den sonst streng beachteten Spielregeln der gegenseitigen Lizitation, an die sich im übrigen selbstverständlich auch die Kommunisten gehalten haben und die infolgedessen wohlverdiente drei neue Mandate zu den bisherigen fünf ein- heimsfen. In Schweden isf also noch immer etwas zu lernen …

TITO IN BUDAPEST, ULBRICHT IN BELGRAD. Die Bewegung im Ostblock wurde in den letzten Wochen durch die zahlreichen Freundschaftsbesuche, die gemacht und empfangen wurden, in überzeugender Weise versinnbildlicht. Es entsprach also, so gesehen, der Logik der Dinge, daß gerade in Ländern, die an den bewußten Nahtstellen liegen, die Kontakte aul höchster Ebene eifrig gepflegt und erneuert wurden. Jugoslawiens Staatschef, Marschall Tito, weilfe Mitte September zusammen mit seiner Frau Jowanka mehrere Tage lang in Budapest, wo er betont freundschaftlich empfangen wurde. Tifos Jugoslawien hat seine Anziehungskraft für diejenigen, die von einer Evolution in einem kommunistischen Land träumen, trotz der Liberalisierung des privaten Reiseverkehrs mit den Ländern des Westens noch immer nicht ganz verloren, denn der Westen isf ja für einen Besucher aus dem Osten die reine Utopie … Chruschfschow-Freund Kädär schien selbst stark an einer erneuten Abstimmung der in manchem divergierenden Standpunkte zwischen Belgrad und Budapest interessiert zu sein. Im Schlußkommuniquö des Besuchs wurden solche Differenzen, etwa was die künftige Behandlung der chinesischen Frage auf der Ebene der kommunistischen Parteien betrifft, vorsichtig umschifft, aber das war auch deutlich genug. Tito wurde auch in auffallend viele Betriebe geführt, als wollte man damit den ungarischen Arbeitern einen Fingerzeig in die Zukunft geben. Ulbrichts Kurzbesuch in Belgrad fand wenige Tage später geradezu unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, und das hatte wohl auch gufe Gründe.

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