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Zerbrechende Theorien im Sozialismus

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„Man sagt heute vielfach, daß die (britische) Bevölkerung sich nicht wirklich bemüht und daß sie versucht, so viel als möglich aus dem Lande herauszuholen; gleichgültig, ob in der Form von Profiten oder von Gehältern und Löhnen, und das für so wenig Anstrengung als möglich.

Wenn jedermann ohne besondere Anstrengung im Sdileidihandel ein großes Einkommen erwerben kann, warum sollte man sich bemühen, für ein kleineres, wenn auch ehrenhaftes Einkommen schwerer zu arbeiten? Auf diese Frage weiß ich vom matcrialistisdien Gesichtspunkt aus keine Antwort. Bloß wenn wir die Moral der Situation untersuchen, kann man zu einer überzeugenden Antwort gegenüber einer derartigen Einstellung gelangen. Es sind nicht materielle Leistungen, sondern einzig und allein gegenseitige menschliche Beziehungen, die ein Gefühl der Freundschaft, ' des Rechtes und der Zusammenarbeit schaffen. Doch an die Stelle, der Hingabe an eine große und noble Sache, die uns der Krieg gelehrt hat, ist nichts Neues getreten, und unsere industrielle Moral ist darum so niedrig, weil eine bloß materialistische, egozentrische Einstellung zu unseren Aufgaben uns einfach keine hohe Moral geben kann. Es ist darum mein tiefster Glaube, daß was uns heute in diesem Lande fehlt, eine christliche Einstellung zu den Problemen ist und ein diristlicher Hintergrund, ohne den unsere Bemühungen erfolglos bleiben müssen.“

Daß diese Worte von der Kanzel einer Kirche in Birmingham gesprochen wurden, als Teil einer Predigt in einem Sonntagsgottesdienst, ist nichts Besonderes. Es ist auch nichts Ungewöhnliches an der Tatsache, daß diese Predigt von einem Laien gehalten wurde; das ist in vielen englischen Kirchen eine allsonntägliche Erscheinung. Was diesen Worten ihr besonderes Interesse und ihre große nationale Bedeutung gibt, ist die Person des Predigers. Sein Name ist Sir Stafford Cripps, und er ist niemand anderer als der britische Handelsminister und einer der führenden Männer in der britischen Arbeiterregierung.

Stafford Cripps gehört zu den politisdien Theoretikern der Arbeiterpartei, und er ist ein Sozialist reinsten Wassers. Für eine Anzahl von Jahren war er von der Partei ausgeschlossen wegen seiner prokommunistischen Auffassungen, und gerade diese stark marxistisdie Einstellung machte ihn nach Ausbruch des Krieges, zu einem idealen britischen Gesandten in Moskau. Um so befremdlicher muß es dem österreichischen und kontinentalen politischen Beobachter scheinen, einen solchen Mann als einen ausübenden Christen und Laienprediger zu finden und von ihm zu hören, daß bloß ein diristlicher Geist der materiellen oder materialistischen Probleme Herr werden kann. Dem britischen Publikum und Marxisten jedoch scheint das durdiaus nicht so befremdlich, und niemand fand einen Widerspruch darin, daß kürzlich ein anderer britischer Minister als einer der Hauptredner auf einer Kirchenkonferenz auftrat. Das steht durchaus mit der Tatsache im Einklang, daß jede Tagung des britischen Parlaments mit einem Gebet beginnt und daß trotz aller sozialistischer Doktrinen die Arbeiterregierung keinen Moment daran dadite, diese alten Traditionen zu beenden oder auch nur abzuändern.

Doch interessanter als diese Einstellung britischer Sozialisten zu religiösen Fragen ist im Augenblick ihr praktischer Kampf mit der, um nicht zu sagen gegen die materialistisehe Geschichtsauffassung. Der historische Materialismus lehrt, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt und daß einer Änderung des gesellschaftlichen Bewußtseins eine Änderung der ökonomischen Grundlagen vorausgehen muß. Allerdings ist dieser marxistische Grundsatz durch die Feststellung beschränkt, daß die geistige der ökonomischen und sozialen Entwicklung beträchtlich nachhinkt und daß „auch die Idee zur Gewalt wird, wenn sie von den Massen Besitz ergreift“.

Das Problem für England besteht darin, daß es seine Volkswirtschaft nicht nur neu aufbauen, sondern vom Grunde auf ändern muß. Die Erhöhung der Exportziffern zu 175 Prozent des Vorkriegswertes ist eine Lebensnotwendigkeit für England, und dies kann bloß erreicht werden, so sagt die Regierung, bei einer Erhöhung der Arbeitsleistung! pro Mann und Jahr. Die bloße Feststellung dieser zwingenden Notwendigkeit im wirtschaftlichen Weißbuch der Regierung war zweifellos nicht ausreichend, um der Bevölkerung einen richtigen Ansporn zu geben. Gegenwärtig ist ein Propagandafeldzug im Gange, der auf das Schlagwort eingestellt ist: „Arbeite oder leide Not!“ Man sollte annehmen, daß die arbeitende Bevölkerung, an die sich natürlich in erster Linie diese Aufforderung richtet, alles Interesse haben sollte, ihre Arbeitsleistung zu verbessern, wenn aus keinem anderen Grunde, so um ihrer eigenen Regierung zu helfen. Die Nationalisierung und die neuen sozialpolitischen Maßnahmen sind von einer Erhöhung der Arbeitsleistung abhängig, ebenso die Ekirch-führung des Programms der „vollen Beschäftigung“. Die Erhöhung ihrer Arbeitsleistung ist jedoch nicht ausschließlich von den Arbeitern und Angestellten abhängig, sondern auch von einer Reihe anderer Faktoren.

Man darf die Schwierigkeiten, die sich der Verwirklichung eines solchen Programms in den Weg stellen, nicht übersehen. Doch trotz aller Beschwörungen entspricht der Fortschritt des wirtschaftlichen Wiederaufbauprogramms nicht den Erwartungen, und der Grund hiefür liegt offenkundig nicht sosehr in den wirtschaftlichen und technischen Voraussetzungen, als in einer Art politischer und geistiger Unausgeglichenheit des Volkes. Daß sich die politischen Gegner der Arbeiterregierung nicht geradezu bemühen, die Politik der Sozialisierung der Schlüsselindustrien reibungslos zu gestalten, kann man zumindest verstehen, selbst wenn sich eine solche Politik letzten Endes als antinational erweisen muß. Die Arbeiter können nicht ihre Arbeitsleistung über das Allgemeintempo eines Betriebes steigern, ob das nun durch das Tempo eines laufenden Bandes bedingt ist oder durch das Arbeitstempo in einer anderen Abteilung des Betriebes oder einer Hilfsindustrie, die nicht mit der Lieferung wichtiger Bestandteile nachkommt. Viele Industrielle sind an einer Erhöhung der Produktion, zu der eine erhöhte Arbeitsleistung natürlich führt, nicht besonders interessiert, wenn die erhöhten Profite durch eine progressive Steuer weggenommen werden. Man kann dieser erhöhten Besteuerung dadurch ausweichen, daß man einen Teil der Profite im Unternehmen läßt, um es auszubauen und zu modernisieren. Doch hier taucht wieder die Drohung der späteren Nationalisierung und das Gefühl, daß „alles für die Katz“ gewesen sein mag, auf.

Auf der anderen Seite ist die Einstellung der Arbeiterschaft auch nicht immer geeignet, rasche Erfolge zu zeitigen. Ein Teil des würgenden Arbeitermangels besteht in einer ungesunden Verteilung der vorhandenen Arbeitskräfte. Eine Reihe von wichtigen und sogar von Schlüsselindustrien kann nidit die notwendige Zahl von Arbeitskräften finden, während andere Industrien, die bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne offerieren, beinahe mühelos die Arbeitskräfte finden, deren sie bedürfen. Es ist geradezu grotesk, daß, während die Webereien nicht die notwendigen Arbeiterinnen finden können, die riesenhaften, mit dem englischen Sportwesen verwachsenen Buchmacherunternehmen in demselben Gebiet an die 75.000 Arbeitskräfte beschäftigen. Dasselbe, wenn auch der Gegensatz nicht ganz so kraß ist, gilt für eine Reihe anderer Industrien.

Daneben gibt es auf der Seite der Arbeitnehmer eine andere beunruhigende Erscheinung, nämlich die verhältnismäßig große Anzahl wilder, das ist unoffizieller Streiks, die häufig eine vollständige Störung des öffentlichen Lebens nach sich ziehen. Es ist kein besonderer Trost, daß die Anzahl solcher wilder Streiks weitaus geringer ist als in den Jahren nach dem Weltkrieg 1914/18, um so mehr als solche Arbeitseinstellungen sich nicht allein gegen die Arbeitgeber richten, sondern gegen die Politik der Gewerkschaften und der Regierung, die dieselben Arbeiter zur Macht gebracht haben. In einer Zeit, in der man so viel vom „Niedergang des britischen Weltreiches“ hört, und in der sich die Regierung und das ganze Land Schwierigkeiten gegenüber findet, wie niemals zuvor in ihrer Geschichte, sollte man erwarten, daß zumindest der Patriotismus des britischen Volkes, wenn nichts anderes, so doch alles daransetzen würde, das angeblich sinkende Schiff zu retten. (Wie wenig dieses Lamento gewisser Pessimisten ernst genommen wird, beweist die Tatsache, daß niemand daran denkt, das „sinkende Schiff“ zu verlassen.)

Großbritannien hört sich gerne als einen sozialistischen Staat bezeichnet. Die Regierung will, sozialistischen Theorien folgend, die ökonomischen Grundlagen ändern, um auf ihnen ein neues soziales Bewußtsein aufzubauen. Sie hat eine Art Fünfjahresplan aufgestellt, und es wäre verständlich, wenn sie versuchte, ihn mit Hilfe von Dekreten durchzuführen. Doch an Stelle einer solch rein materialistischen Einstellung und Handlungsweise versucht die Regierung, die Bevölkerung geistig zu beeinflussen, und sozialistische Freunde und kapitalistische Gegner stimmen darin überein, daß das Problem von einem anderen, mehr geistigen oder menschlichen Standpunkt aus behandelt werden muß.

So zeigt England das eigenartige Schauspiel, daß sozialistische Minister, und auch führende Gewerkschafter, dieselbe materialistische Einstellung beklagen, auf die ihr politisches Programm aufgebaut ist, nun, da sich dieser Materialismus gegen ihre eigenen Bestrebungen wendet. Ob diese Erkenntnis, die sich — unter ähnlichen Erfahrungen — auch anderen Ländern aufdrängen muß, die Erkenntnis nämlich, daß die geistigen und religiösen Werte auf einer höheren Stufe liegen als die rein materiellen und materialistischen Voraussetzungen, zu einer Änderung sozialistischer Theorie und Praxis führen wird, wird die Zukunft lehren. Der Erfolg oder Mißerfolg des britischen Sozialismus muß notwendigerweise weitgehenden Einfluß auf die sozialistischen Parteien Europas haben. Was die Predigt des sozialistischen Handelsministers Großbritanniens aus ihrer Isoliertheit heraushebt, sind zwei Tatsachen: die eine ist, daß Sir Stafford Cripps ausgesprochen hat, was das geistige Gemeingut britischen Sozialismus ist, und die andere, bedeutungsvollere Tatsache ist die, daß der britische Sozialismus aus einer theoretischen Wunsch-weit herausgewachsen ist, und daß er nun seine Theorien im Kampf um das nationale Leben erprobt.

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