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Labour vor der Wahl

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Mehr als sechs Jahre sind vergangen, seitdem die englische sozialistische Partei die lang ersehnte, alleinige Macht im Staate gewann, und dies unter Umständen, die für die Durchführung ihres Programms denkbar günstig waren. Sie besaß eine Reihe von Männern, die als Mitglieder der Koalitionsregierung der Kriegszeit praktische Erfahrung in der Führung der Staatsgeschäfte erworben hatten; andererseits war die Nation am Ende des Krieges zu sehr erschöpft und auch an die kriegsbedingten Eingriffe in persönliche Freiheitsrechte zu sehr gewöhnt, um sich noch tiefergehenden Veränderungen in der früher gewohnten Ordnung der Dinge nachdrücklich zu widersetzen.

Tatsächlich waren es nicht bloß Reformen. Es war ein radikaler Umbau der sozialen und wirtschaftlichen Struktur des Landes, den die zur Herrschaft gelangte Partei ohne Verzug in Angriff nahm und den sie im Laufe dieser Jahre, ohne Rücksicht auf die allmählich wachsende Opposition, der geplanten Vollendung nahebringen konnte. Der Wohlfahrtsstaat sozialistischer Konzeption — vielleicht wäre es richtiger, ihn als Vormundschaftsstaat zu bezeichnen — ist* unter dem Labourregime verwirklicht oder doch nahezu verwirklicht worden. Daß dieses Werk breiten Schichten der englischen Bevölkerung materielle Vorteile gebracht hat, ist nicht zu leugnen. Die Frage ist nur die, ob diese Vorteile von der Nation als Ganzheit nicht zu teuer erkauft worden sind und ob sie nicht auf einer Grundlage beruhen, die sich über kurz oder lang als unhaltbar erweisen muß.

In ihrer gesamten Sozial- und Wirtschaftspolitik zeigt die Labourpartei, einschließlich ihres gemäßigten Flügels, eine erstaunliche Anhänglichkeit an die sozialistischen Doktrinen eines vergangenen Jahrhunderts und eine ebenso erstaunliche Mißachtung der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsgeschichte des eigenen Landes. Der große Aufschwung im Wohlstand der breiten Schichten erfolgte, wie der anerkannt zuverlässige Bericht einer besonderen Sachverständigenkommission unter Vorsitz Sir W. Beveridges nachgewiesen hat, zwischen 1900 und 1938, in welchem Zeitraum der durchschnittliche Reallohn des englischen Arbeiters auf das Dreieinhalbfache stieg, indes seine tägliche Arbeitsdauer um durchschnittlich eine Stunde zurückging. Dieser außerordentliche Fortschritt war nicht staatlicher Planung zu verdanken, sondern dem freien Zusammenwirken unzähliger Einzelkräfte, deren Gesamtleistung durch die Erhöhung der allgemeinen Wohlhabenheit relativ weitaus am stärksten der Arbeitnehmerschaft zugute kam.

Die Politik, die das Regime ohne Rücksicht auf diese historische Tatsache verfolgt, ist vor allem durch ihre Kostspieligkeit charakterisiert. Der Nutznießer des „unentgeltlichen“ Gesundheitsdienstes oder einer anderen „unentgeltlichen“

Sozialleistung ist sich dessen oft nicht bewußt, und darauf rechnet die Regierungspartei, aber das Budget auch der wirtschaftlich Schwächsten wird durch den enormen Geldaufwand, den diese Neueinrichtungen erfordern und der großenteils durch sehr hohe indirekte Steuern eingebracht werden muß, aufs empfindlichste belastet. Dazu kommen, neben den sprunghaft steigenden Kosten eines gigantischen Verwaltungsapparats und den sichtbaren Vermögensverlusten, die namentlich durch die Eigenregiegeschäfte der Regierung eingetreten sind, andere, unsichtbare Verluste, die vielleicht am schwersten wiegen: die fruchtlose Verausgabung einer Unmenge privater Initiative und Energie, die sich, statt produktive Arbeit leisten zu können, im Gewirr bürokratischer Hindernisse und Kontrollen, wie sie das System zentralisierter Wirtschaftslenkung mit sich bringt, erschöpfen muß.

Es liegt ein merkwürdiger Widerspruch darin, daß das Regime immer wieder an den Fleiß und den Sparsinn der Bevölkerung appelliert, andererseits aber den erfolgreichen Sparer mit dem Odium unrechtmäßigen Erwerbs belastet. Offiziell und mit starker Betonung richtet sich dieser Vorwurf zur Zeit freilich nur gegen die nicht näher definierten „Reichen“, deren Zahl unter dem Druck konfiskato-rischer Steuern rapid zusammenschmilzt, aber praktisch trifft er, wie man es bei der Verstaatlichung einer Reihe von Industriezweigen gesehen hat, auch den Mittelständler und den kleinen Mann, dessen gesamtes Vermögen kaum das Jahreseinkommen eines staatlichen Industriedirektors erreicht. Die grundsätzliche Unverletzlichkeit des Privateigentums, die allen anderen Freiheiten den unerläßlichen Rückhalt gibt, ist ins Wanken geraten, und darin liegt eine Gefahr für Englands Zukunft, die den überzeugten Demokraten der Labourpartei zu denken geben müßte.

Vorläufig allerdings besteht kein Anzeichen dafür, daß die Partei, und selbst ihre gemäßigten Führer, den zurückgelegten Weg anders als mit Befriedigung und Stolz betrachten, und wenn Worte der Kritik aus den eigenen Reihen laut wurden, so kamen sie vom linken Flügel, der mit Nachdruck nicht etwa eine Milderung, sondern eine Verschärfung des sozialistischen Kurses verlangt. Die Doktrin hat noch immer den Vorrang, und selbst die jüngsten Erfahrungen auf den Gebieten, auf denen sie am deutlichsten versagt hat, haben nicht genügt, um ihre Autorität zu erschüttern.

Als Labour die Macht übernahm, setzten ihre Ideologen große Hoffnungen auf dem Umstand, daß ein guter Teil der afrikanischen und asiatischen I n t e 11 i g e n z s c h i c h t e n seine akademische Ausbildung an denselben englischen Hochschulen genossen und dieselben Lehren in sich aufgenommen hatte wie sie selbst. Das mußte zur Folge haben, so nahmen sie mit Bestimmtheit an, daß die Völker jener Kontinente, denen Englands Abkehr von seiner bisherigen Kolonialpolitik die volle Freiheit gab oder in nahe Aussicht stellte, denselben Kurs einschlagen würden, den Labour gewiesen hatte; und weiter die Folge, daß diese sich auf der gemeinsamen Grundlage des Sozialismus zu einer engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit unter der neuen englischen Führung bereit finden würden.

Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Wohl machte sich der sozialistische Einfluß bei allen diesen Völkern und in der gesamten englischen Interessensphäre stark geltend, aber mit einem anderen Ergebnis, als es der sozialistischen Theorie entsprochen haben würde. Anstatt der erhofften Bereitwilligkeit zu freundschaftlicher Kooperation entwik-kelte sich ein überschäumender Nationalismus, der sich in erster Linie gegen England und seine Interessen kehrte, und überdies die unvorhergesehene Tendenz, das Beispiel des national-englischen Sozialismus auf das internationale Feld zu übertragen. Wenn die Labourpartei es als eine soziale Ungerechtigkeit empfindet und dem abhelfen will, daß ein Prozent der englischen Bevölkerung um vieles besser lebt als die übrigen neunundneunzig, dann ist es sicher auch unbillig, daß die fünfzig Millionen Bewohner der britischen Inseln einen soviel höheren Lebensstandard genießen als die noch unentwickelten, viele hundert Millionen Köpfe zählenden Völker Afrikas und Asiens. Dieses in den politisch führenden Kreisen beider Kontinente weitverbreitete Argument entbehrt nicht der Logik, und das erklärt unter anderem auch die sonst schwer erklärliche Entwicklung, die der anglo-persische ölkon-flikt genommen hat. Der Fall Abadan ist auch in anderer Beziehung symptomatisch. Er illustriert mit besonderer Anschaulichkeit, wie utopisch die Annahme ist, daß die formale Übertragung der demokratisch-parlamentarischen Institutionen des Westens in eine Welt, die dem westlichen politischen Denken völlig fremd und verständnislos gegenübersteht und deren Entwicklungsgeschichte von der des Abendlandes gänzlich verschieden ist, genügen würde, um dort in ähnlicher Weise zu funktionieren wie in den Staaten, in denen sie, und da oft erst nach langen und schweren Kämpfen, eingebürgert sind.

Auch in ihrer Haltung gegenüber dem europäischen Kontinent zeigte die Außenpolitik der Labourregierung von Anfang an das deutliche Bemühen, sich in erster Linie nach parteipolitisch-ideologischen Gesichtspunkten zu orientieren, statt in abendländischem Geist 'die Führung zu übernehmen, die ganz Europa im Vakuum der unmittelbaren Nachkriegszeit als eine Selbstverständlichkeit von ihr erhoffte. Und nicht nur, daß das sozialistische England diese Führerrolle, die ihm mühelos zugefallen wäre, ausschlug, es verhielt sich allen paneuropäischen Einigungsbestrebungen gegenüber zurückhaltend, wenn nicht ausgesprochen ablehnend, immer von der Sorge bewegt, ob solche Bestrebungen nicht etwa ein Hindernis für die restlose Durchführung seiner internen Wirtschafts- und Sozialpläne bedeuten könnten. Dadurch sind, zum Schaden Englands und der Sache des Westens überhaupt, Versäumnisse entstanden, die schwer wieder gutzumachen sind.

Es ist also ein außerordentlich umfangreicher und verwickelter Fragenkomplex, der nun in Kürze dem englischen Wähler zur Stellungnahme vorgelegt werden wird. Der Wahltag des 25. Oktober ist ein wichtiger Tag, und von seinem Ausgang wird sehr viel abhängen, für England und für die ganze Welt. Sehr viel, aber nicht alles. Denn die häretische Konzeption des Staates als einer souveränen, mit absoluter Gewalt ausgestatteten, juristischen Person, der das Recht zustehe, die natürlich gewachsene Gesellschaft zu beherrschen, nach Gutdünken zu organisieren und selbst- völlig zu absorbieren, diese Häresie ist nicht an bestimmte politische Parteien und nicht an staatliche Grenzen gebunden. Und ob sie überwunden werden kann, wird nicht durch einen Wahlgang entschieden werden.

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