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Dritter Brief an Freunde

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Dr. Günther Nenning, heute einer der beachtetsten Sprecher einer jüngeren sozialisti sehen Generation, wendet sich ein drittes Mal an die Gastfreundschaft der „Furche", um das Gespräch und die Auseinandersetzung zwischen Sozialisten und Katholiken im heutigen Oesterreich ein Stück voranzubringen. Wir möchten in diesem Zusammenhang unsere Leser auf einige Tatsachen hinweisen, die hüben und drüben recht verstanden und dann gewertet werden sollten. Zum ersten: es gibt heute in Oesterreich eine kleine Gruppe von Katholiken, die recht aktiv in der SPOe um Geltung ringt; dazu kommen noch nicht unbeträchtliche Massen von Getauften, welche die SPOe wählen und mehr oder minder am kirchlichen Leben teilnehmen. Zweitens: die wohl überwiegende Mehrheit der österreichischen Katholiken gehört dem Stamm der OeVP an und bildet hier, wählermäBig, den Kern dieser Regierungspartei — nicht selten unbedankt und wenig verstanden. Bestürzt sehen diese Kreise auf das Aktivwerden von Katholiken in der SPOe und auf ein recht geschicktes parteitaktisches Arbeiten der Parteipolitiker in deren Lager. Nun, wir meinen und wir sagen dies in bewußter Erinnerung an ein halbes Jahrhundert Kampfzeit mit Bürgerkrieg hinter uns und im Angesicht der Weihnacht vor uns: Bitternis und Bestürzung sind hier nicht genug. Eine echte Regeneration in der Volkspartei und ein

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Dr. Günther Nenning, heute einer der beachtetsten Sprecher einer jüngeren sozialisti sehen Generation, wendet sich ein drittes Mal an die Gastfreundschaft der „Furche", um das Gespräch und die Auseinandersetzung zwischen Sozialisten und Katholiken im heutigen Oesterreich ein Stück voranzubringen. Wir möchten in diesem Zusammenhang unsere Leser auf einige Tatsachen hinweisen, die hüben und drüben recht verstanden und dann gewertet werden sollten. Zum ersten: es gibt heute in Oesterreich eine kleine Gruppe von Katholiken, die recht aktiv in der SPOe um Geltung ringt; dazu kommen noch nicht unbeträchtliche Massen von Getauften, welche die SPOe wählen und mehr oder minder am kirchlichen Leben teilnehmen. Zweitens: die wohl überwiegende Mehrheit der österreichischen Katholiken gehört dem Stamm der OeVP an und bildet hier, wählermäBig, den Kern dieser Regierungspartei — nicht selten unbedankt und wenig verstanden. Bestürzt sehen diese Kreise auf das Aktivwerden von Katholiken in der SPOe und auf ein recht geschicktes parteitaktisches Arbeiten der Parteipolitiker in deren Lager. Nun, wir meinen und wir sagen dies in bewußter Erinnerung an ein halbes Jahrhundert Kampfzeit mit Bürgerkrieg hinter uns und im Angesicht der Weihnacht vor uns: Bitternis und Bestürzung sind hier nicht genug. Eine echte Regeneration in der Volkspartei und ein

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Aktivwerden von gläubigen Katholiken in ihr, beides sollte sich positiv provozieren lassen zu einer Leistung, zu einem eigenständigen und dynamischen Einsatz für das Volksganze durch eben diese Erscheinung, die nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist: Es gibt in Oesterreich auch Katholiken, die „rot" wählen, die „Rote“ sind. Diese Tatsache sollte Katholiken in den Kadern der Volkspartei nicht zum Anlaß werden,

„schwarz zu sehen“, wohl aber dazu, intensiv nach Wiedergeburt und innerer Kraft zu streben. Besinnung auf die eigene Schwäche und die mögliche eigenständige Kraft: das sollte der Stern sein, der in ein neues Jahr führt. „Die Furche“

Als mir die „Furche" zum erstenmal Raum gab, glaubte ich einen „Brief an imaginäre Freunde“ schreiben zu müssen. Das Echo gab mir unrecht; der zweite Beitrag mußte schon „Brief an nicht mehr imaginäre Freunde" heißen. Unterdessen hat sich in den Beziehungen zwischen Katholiken und Sozialisten wiederum vieles gewandelt; ich glaube, daß dieser dritte Beitrag einfach „Brief an Freunde“ heißen darf.

Unsere Freundschaft ist jung und gefährdet. Daß sie jung ist, ist ein Nachteil, der mit jedem Tag, den sie übersteht, geringer wird. Daß sie gefährdet ist, ist kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Wenn aus ihr etwas werden soll, müssen wir daran arbeiten, und das ist gut. Wir haben allzulang geschwiegen, jetzt müssen wir reden. Füreinander: die Sozialisten brauchen Für sprecher unter den Katholiken, die Katholiken brauchen Fürsprecher unter den Sozialisten. Gegeneinander: wir müssen so gegenteiliger Meinung sein wie unter Freunden, die einander dennoch von ihrer Freundschaft überzeugen wollen. Und vor allem miteinander: Freunde reden nicht aneinander vorbei, jeweils aus dem eigenen Haus zum Fenster hinaus, damit die ganze Straße es hört; sie reden miteinander, einer in . des anderen Haus, bei geschlossenen Fenstern womöglich, damit der störende Lärm der Straße draußen bleibt. Für ernsthafte Gespräche sind einige wenige zahlreich genug. Und nichts sollten wir mehr scheuen als Parteirhetorik, Parteiplakate und Parteistrategie.

Die Parteien sind gemäß ihrem Etymon versucht, ihr Teil vor das Ganze zu setzen. Sie gefährden unsere Freundschaft, weil sie für die SPOe so schrecklich angenehm ist und für die OeVP so schrecklich unangenehm. Die eine darf mit Recht hoffen, Wählerstimmen zu gewännen, die andere muß mit Recht befürchten. Wählerstimmen zu verlieren. Wir dürfen darüber nicht vergessen, daß der Beginn unserer Freundschaft mit ganz anderen Dingen zu tun hatte als mit Wählerstimmen. Wir sind ein prächtiges Beispiel dafür, daß der historische Materialismus richtig und falsch ist. Richtig, weil der „materielle“ Unterbau, die ökonomische

Grundlage mit den zugehörigen soziologischpolitischen Verhältnissen erheblich zu unserer Annäherung im Bereich des „ideologischen Ueberbaus beigetragen haben; ohne das friedliche Wirtschafts- und Koalitionsklima der österreichischen Nachkriegszeit wären wir noch lange nicht so nahe. Falsch, weil es neben und über dieser materiell-ideologischen Ursachenverknüpfung einen selbständigen Bereich geistiger Werte gibt, weil unsere Annäherung begonnen hat mit dem Gefühl geistigen Ungenügens auf beiden Seiten, mit dem Gefühl, im geistigen Bereich gemeinsame Werte zu haben und gemeinsame Gegner.

Vergessen wir nicht dieses Beginnen. Unsere Freundschaft, die heute den schlauen Füchsen der einen Seite so gut in den Kram paßt und den schlauen Füchsen der anderen Seite so schlecht, war ursprünglich den schlauen Füch sen beider Seiten höchst suspekt — als ein Ausbrechen des Geistes aus zwei parteipolitisch wohlvergitterten Käfigen.

Bringen wir die Arroganz auf, die schlauen Füchse weiterhin zu ignorieren; jene sowohl, denen wir noch immer nicht in ihren parteipolitischen Kram passen, als auch insbesondere jene, denen wir nun allzu gut in den Kram passen.

Arroganz kommt von arrogieren. Arrogieren wir uns den selbständigen Bereich geistiger Werte. Das ist unser gutes Recht. Wir billigen zugleich den Parteipolitikern dieselbe Arroganz zu: Sie mögen sich ihren Bereich des Tages arrogieren und an Wählerstimmen denken.

Wir gehen deswegen nicht in den elfenbeinernen Turm. Unser Haus steht mitten im Feld der Politik, die wir als Beschäftigung mit dem Gemeinwohl verstehen — aber es steht ein gutes Stück entfernt vom Schlachtfeld der Tagespolitik, die einen so abgezogenen Dienst am Gemeinwohl, wie wir ihn verstehen, sich nicht leisten kann und auch nicht zu leisten braucht. Religion ist auch Privatsache, abernichtnur Privatsache. Sozialismus ist auch Parteisache, aber nicht nur Parteisache. Die Religion hat auch politische Interessen, wenn auch keine rein parteipolitischen. Der Sozialismus hat auch geistige Interessen, wenn auch keine rein religiösen. Das ist unser gemeinsames Feld: das Politische im höheren Verstände (wie oben definiert) und das Geistige (abseits des rein Religiösen). Es ist ein weites gemeinsames Feld, und die schlauen Füchse haben auf ihm nichts verloren. Wir wollen dieses Feld bestellen, ob es ihnen paßt oder nicht. Vorzugsweise sogar: ob es ihnen nicht paßt. Denn dann sind wir vor Mißdeutungen sicher.

Wenn ich die Parteien aus dem Hause unserer Freundschaft verweise, so nicht, weil ich sie mißachte. Ich bin selbst zeit meines erwachsenen Lebens aktiv in einer Partei tätig. Doch glaube ich, daß nur der ein guter Parteimann ist, der im rechten Augenblick keiner ist. Ich halte es da mit Carl Vogelsang: „Meine Ehre als Christ, als Mensch und als Schriftsteller gehört nicht zu den Parteiinteressen, die ich aufgeben darf.“

Nicht aus weltferner Parteilosigkeit, sondern aus Sorge um den wohlverstandenen Nutzen meiner eigenen Partei glaube ich, daß die überaus bedeutsame Verständigung zwischen ihr und der katholischen Kirche im praktischen Bereich zugleich eine Gefahr für die g e i s t i g e Begegnung zwischen diesen beiden Partnern ist.

Was als sehr immaterielle Sehnsucht begonnen hat, darf nicht mit dem selbstzufriedenen Händereiben der Praktiker auf beiden Seiten enden. Zwar ist, was sie für nicht mehr als Taktik halten mögen, eine viel hintergründigere List der Geschichte, doch dies ist immer noch weniger als eine echte Begegnung aus geistigem Antrieb.

Wie soll diese Begegnung vor sich gehen? Nach dem dritten Beitrag zum gleichen Thema scheint es an der Zeit, darüber etwas zu sagen: Es kann dies nur skizzenhaft geschehen und nur vom eigenen Standpunkt:

1. Die beiden Gesprächspartner müßten ein tüchtiges Maß an Kritik und Selbstkritik mitbringen und diese Mitbringsel in der richtigen Reihenfolge aneinander ausprobieren: erst

Selbstkritik, dann Kritik — und beides in aller Schärfe. Sie müßten davon ausgehen, daß die Geschichte aller bisherigen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Sozialisten die Geschichte von Fehlern ist, die auf beiden Seiten begangen wurden. Viele Katholiken haben den Fehler begangen, den Sozialismus insgesamt zu verwerfen, anstatt bloß die antireligiöse Haltung vieler Sozialisten. Viele Sozialisten haben den Fehler begangen, die Religion insgesamt zu verwerfen, anstatt bloß die antisozialistische Haltung vieler Katholiken. Beide Fehler sind historisch begreiflich. Die katholische Kirche stand für den Sozialismus weitgehend auf der Seite des Klassengegners. Der Sozialismus stand für die katholische Kirche weitgehend auf der Seite des Atheismus. Doch was historisch begreiflich ist, bedarf in der Gegenwart dennoch der energischen und geduldigen Korrektur.

2. Die beiden Gesprächspartner müßten einander bewußt machen, welche Wandlungen im eigenen Lager bereits stattgefunden haben.

Die Enzyklika „Quadragesimo anno“ versichert noch, daß der Sozialismus mit den Lehren der katholischen Kirche für immer unvereinbar bleibe, „er müßte denn aufhören, Sozialismus zu sein“. Fünfundzwanzig Jahre später fordern die österreichischen Bischöfe in ihrem Sozialhirtenbrief nicht mehr ein Aufhören, sondern nur noch eine Wandlung des Sozialismus nach dem Muster der Labour Party: „Niemand als die Kirche wünschte mehr, daß auch der Festlandsozialismus sich diesen Auffassungen anschließe ... Der gemäßigte Sozialismus von heute strebt eine sozialere Gesellschaftsordnung an. Das ist gut. Doch sprechen seine ersten Vertreter immer noch von einer sozialistischen Weltanschauung ...“ Der unqualifizierten Ablehnung des Sozialismus durch „Quadragesimo anno" steht diese, wenn auch qualifizierte Anerkennung gegenüber — und die „ersten Vertreter" des österreichischen Sozialismus haben sich beeilt, der Qualifikation Genüge zu tun: ihrem neuen Parteiprogramm zufolge ist der Sozialismus keine Weltanschauung, sondern eine „sittliche Gesinnung".

Das Linzer Programm der österreichischen Sozialdemokratie „betrachtet... die Religion als Privatsache“. In ihrem neuen Programm erklären die Sozialisten, sie „achten das Bekenntnis zu einem religiösen Glauben... als innerste persönliche Entscheidung". Das Linzer Programm enthält das klassisch-marxistische Ensemble: „Kapitalismus ... Elend ... Unwissenheit. .. Unterwürfigkeit. Dieser Zustand bestimmt auch die religiösen Anschauungen ..." Das neue Programm betont, es „erkennen insbesondere die christlichen Kirchen die Notwendigkeit von sozialen Reformen an. Sozialismus und Christentum als Religion der Nächstenliebe sind miteinander durchaus vereinbar“.

Man kann der Meinung sein (und ich bin dieser Meinung), daß im neuen Programm die Stellungnahme zur Religion immer noch formal ungeschickt und sachlich unzureichend ist. Aber gegenüber dem um 32 Jahre älteren Linzer Programm bedeuten diese Formulierungen einen gewaltigen Fortschritt. Dort war die Religion eine Dummheit, die mit dem Fortschritt der Wissenschaft von selbst aussterben würde. Hier mag man von einem tieferen Verständnis des wahren

Wesens der Religion immer noch entfernt sein, doch hat man sich auf eine dauernde, respektvolle und positiv akzentuierte Koexistenz eingerichtet.

3. Die Gesprächspartner müßten durch Kritik und Selbstkritik sowie durch die Bewußtmachung ihrer eigenen Wandlungen dahin gelangen, daß sie den eigentlichen Sinn ihrer Begegnung erkennen. Er wird nun erst deutlich, nachdem die beiden Geistesströme mehr als hundert Jahre feindlich oder gleichgültig nebeneinander geflossen sind — und sich trotz solcher Trennung kräftig beeinflußt haben. Die katholische Lehre hat eine neue „materialistische“ Dimension erhalten, der Sozialismus eine neue „spirituali- stische“. Ich gebrauche die Gänsefüßchen, um anzudeuten, daß ich diese Ausdrücke nicht im exakt philosophischen, sondern in einem vageren, hier aber praktischeren Sinn verwende: nämlich zur Bezeichnung einer Denkform, die dem Materiellen oder Spirituellen keine absolute Ausschließlichkeit, wohl aber eine relative Bedeutsamkeit beimißt. Für die Katholiken behält das Geistige sein Vorrecht, aber auch das Materielle (im ontologischen wie im ökonomischen Sinn) erhält sein Recht. Für die Sozialisten behält das Materielle sein Recht, aber das Geistige erhält sein Vorrecht.

Für beide ist ein solcher wohlausgewogener Dualismus im Grunde nichts Neues. Weder der sozialismusfeindliche extreme Spiritualismus noch der religionsfeindliche extreme Materialismus hatte jemals die unbestrittene Herrschaft. Der katholische „Materialismus“ kann sich sowohl auf den Thomismus berufen wie auf „Rerum novarum“. („Man darf jedoch nicht meinen, die ganze Sorge der Kirche sei so sehr auf die übernatürliche Seelenbildung gerichtet, daß sie das, was zum sterblichen und irdischen Leben gehört, vernachlässige.“) Und der sozialistische „Spiritualismus“ kann sich auf die Fälle seiner vor-, neben- und nachmarxistischen Spielarten berufen, bei denen die religiöse, ethische oder idealistische Motivierung im Vordergrund stehen.

Ich bin mir bewußt, wie mangelhaft und mißverständlich die vorstehenden drei Progrqmm-

punkte für ein Gespräch zwischen Freunden formuliert sind. Aber die eigentliche Klärung kann nur das Gespräch selber bringen. Im schlimmsten Fall wird nicht mehr dabei herauskommen als eine bessere Abgrenzung .des eigenen Standpunktes; wenn es gut geht, könnte dabei ein gemeinsames Wertsystem erarbeitet werden; und im besten Fall wäre freilich noch mehr zu erreichen. Denn was einst der 18jährige Friedrich Engels niederschrieb, ist bis heute nicht erfüllt: „Bittet, so wird euch gegeben... Suchet, so werdet ihr finden; wer ist unter euch, der seinem Kinde, das ihn um Brot bittet, einen Stein böte? Wieviel mehr euer Vater im Himmel... Ich fühle es, ich werde nicht verlorengehen, ich werde zu Gott kommen, zu dem sich mein ganzes Herz sehnt.“

„Wir aber stellen Gott auch als die Ursache der Einzelwesen hin, rücksichtlich deren Form und Materie." Thomas, De Veritate, III, 3.

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