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Gleicher Abstand?

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„Das Bemühen um den Ausgleich, das Bekenntnis zum Kompromiß ist aber kein Bekenntnis zu einem allgemeinen Indifferentismus, der Auffassungen und Meinungen verwischt, der die Grenzen zwischen richtig und falsch auslöschen will. Gerade der Ausgleich setzt den eigenen Standpunkt voraus, denn nur, wer eine eigene Meinung hat, kann die Meinung der anderen achten.”

Kardinal Dr. Franz König, Neu- jahrserklärung 1966.

Ebenso wie das abgebrauchte Wort „Dialog” hat bedauerlicherweise auch der inhaltlich völlig unbestimmte Begriff (politische) „Aequidistanz” (das heißt gleicher Abstand) im katholischen Raum den Charakter eines Modewortes, wenn nicht eines Vorwurfes gegenüber der Kirche. Politische „Aequidistanz” soll im Sinn derer, die den Ausdruck erschaffen haben, bedeuten, daß in der nachjohanneischen Epoche die Kirche und (oder auch) die bekennenden Katholiken gegenüber allen politischen Gruppen, die sich nicht offen als kirchenfeindlich deklarieren, gleiche Distanz einnehmen, also indifferent sein können. Ehedem waren dem Katholiken, der sich wahlwerbenden Gruppen gegenüber- gesehen hatte, Sympathie-, wenn nicht Entscheidungspräferenzen geradezu vorgegeben. Die Wahlentscheidungen wurden dem Christen durch das ostentative Verhalten der Parteien abgenommen. Aus der politischen Präferenzstruktur ergab sich gegengleich und fast natürlich die Bildung katholischer Parteien. Nunmehr scheint jedoch der Bestand katholischer Parteien widersinnig zu sein, sollte die These von der „Aequidistanz” durch die Katholiken voll angenommen werden.

Vor Wahlentscheidungen gestellt, ist bei allgemeiner Annahme der „Aequidistanz” der Katholik jedenfalls ohne „kirchenamtliche” Weisung; er kann nur auf sein Gewissen oder auf seine sozialökonomischen Interessen Bezug nehmen. Nach der von kirchlicher Seite nie (!) gebilligten Vorstellung einer politischen „Aequidistanz” muß die Kirche daher anderseits auch in Kauf nehmen, daß Katholiken zuweilen falsch und dadurch gegen die Interessen der Kirche als moralischer Anstalt stimmen. Wenn also auch kirchenamtlich nie von einer „Aequidistanz” die Rede war, hat sich der Terminus dennoch in den politischen Diskussionen festgesetzt und ist eine Ideologie geworden. Gerade deshalb muß man auf ihn als einen nunmehr wesentlichen „Gegenstand” innerkatholischer Auseinandersetzungen eingiehen — ohne daß er deswegen als Begriff legitimiert wird.

Die behauptete „Aequidistanz” des gläubigen Katholiken könnte als eine relative (bedingte) verstanden werden:

Bei „absoluter Aequidistanz” müßten die Katholiken davon ausgehen, daß jede politische Gruppe in gleicher Weise gewillt sei, das Sittengesetz in der Welt zu verwirklichen; mehr noch, es würden danach sogar einzelne achristliche Parteien faktisch, entgegen ihren Deklarationen, geneigt sein, das Sittengesetz zu verwirklichen, etwa in der Region der Einkommensverteilung.

Eine solche absolute „Aequidistanz”, wie sie vielleicht manche in ihren Entschlüssen nicht immer freie sogenannte Linkskatholiken im Osten vertreten, bedeutet:

• Zwischen Moral und jeweiliger politischer Wirklichkeit liegt eine Strecke, die so groß ist, daß schließlich das Christliche jenseits der politischen Realität angesiedelt wird und eine Summe von unverbindlichen Sprüchen ist; nicht mehr.

• Christliche Politik wäre dann überdies eine Anmaßung, da der Bereich der Politik im Sinn eines’ perfekten Indifferentismus keinerlei genuin-christliche Aktionen vertragen würde. Die Welt wird lediglich „erduldet” und im Sinn deistischer Vorstellungen sich selbst überlassen.

• Die christlichen Wahrheiten haben abstrakten Charakter und werden je nach Situation „rabat- tiert”, wobei die vorher einkalkulierten „Rabatte” um so größer sind, je distanzierter eine politische Gruppe gegenüber den Offenbarungswahrheiten ist.

Bei relativer „Aequidistanz” — wenn der Terminus dann noch gebraucht werden kann — prüft der Christ ohne Voreingenommenheit die Verhaltensweisen der Parteien in einer jeweiligen Situation, nicht allein ihre Programme, und konfrontiert das Ergebnis seiner Ermittlungen mit den Klassifikationen seines Gewissens. Dabei muß der Christ, um sein christliches Gewissen nicht allzusehr zu strapazieren, zwischen wertneutralen und wertwesentlichen Sachverhalten unterscheiden. Die Entscheidungen des Christen als Christ können sich nur auf die wert- wesentlichen Sachverhalte beziehen. Ob man etwa für oder gegen die Abhaltung der Olympiade 1972 in Wien ist oder nicht, mag eine Frage der Parteidisziplin, nicht aber eine solche des christlichen Gewissens sein. Parteidisziplin kann und darf aber nicht zur Disziplinierung des Christen in weltanschaulich wesentlichen Fragen führen.

Jede (politische) Situation, die weltanschaulich belangreich ist, belastet je für sich die Entscheidungsmacht des Christen. Es gibt daher für den Christen keine permanent gültigen Lösungen, keine Rezepte. Auch nicht etyva in der Sache Sozialismus, der ein historisches Phänomen ist. Der Sozialismus 1966 ist nicht jener von 1918. Auch der monistische, in Denkweisen des 19. Jahrhunderts verhaftet gewesene Konservativismus von 1919 ist nicht vergleichbar mit dem pluralistischen Konservativismus von 1966.

Dahier ist angesichts der Wahlen des 6. März 1966 neuerlich die Frage der sogenannten „Aequidistanz” und ihrer Anwendung in einer einmaligen, zeitlich und räumlich lokalisierten Situation zu prüfen. Die

Frage heißt in einer Sprache, die vor der Produktion der „Aequidistanz”- Debatte praktiziert wurde: Befinden sich tatsächlich alle politischen Gruppen in Lehre und politischer Praxis Österreichs in einem ungefähr gleichgroßen Abstand zu den Lehren christlicher Moral?

Die Kirche Österreichs als Institution hat gegenwärtig die pastoral ungemein willkommene Chance, allen politischen Gebilden gegenüber eine neutrale (also distanzierte) Haltung einnehmen zu können.

Gleiches gilt jedoch nicht für den einzelnen Christen, dessen Wahlverhalten nicht stets von der Kirche programmiert werden kann (wie im kommunistischen Osten: . und die Partei hat immer recht”).

Die Alternativen, mit denen him der Christ vor dem 6. März konfrontiert wird, sind der Sozialismus in der Gestalt der SPÖ, der nationale Liberalismus, politisch präsentiert durch die FPÖ, und eine deklariert christliche Partei, die Volkspartei.

Die Wirklichkeit Sozialismus in Österreich zeigt, daß die Partei derzeit keinen einzigen gläubigen Katholiken in der Führungsspitze hat. Von den auf sicheren Stellen aufgestellten Kandidaten kann wohl kaum einer zu den bekennenden Katholiken gerechnet werden. Die gläubigen Katholiken, die noch in Führungsgremien der SPÖ sitzen (Dr. Tschadek und Dr. Neugebauoij, sollen in absehbarer Zeit abgelöst werden — niemand weiß zu sagen, ob durch gläubige Katholiken oder durch „bessere” Sozialisten. Ob die Auswahl für die Aufnahme von SPÖ-Mitgliedern in die Kandidatenliste lediglich nach fachlichen oder auch nach anderen Gesichtspunkten erfolgt, kann nicht Gegenstand unserer Prüfungen sein. Wenn jedoch die Auswahl nur unter Bedachtnahme auf die fachlichen Qualitäten der in Frage kommenden Personen erfolgt ist, muß angesichts der Zusammensetzung der kommenden Führungsspitze der SPÖ angenommen werden, daß die sozialistischen Katholiken in einer erstaunlichen Weise fachlich ungeeignet und nur „dumbes” Wählervolk, „Eingeborene”, noch nicht in der Wolle gefärbte „Schwarze”, sind.

Die Nationalliberalen (FPÖ) haben nie ein Hehl daraus gemacht, daß für sie das Christliche bestenfalls ein Neutrum ist, belanglos, bei sich bietender Gelegenheit Gegenstand höflicher Reverenz. In der letzten Zeit war jedoch zuweilen Anlaß zur Vermutung, daß man nicht mehr überall in der FPÖ diese Meinung teilt.

In der Volkspartei 1966 zeigt sich bei Durchsicht der Kandidatenliste gläubiges Christentum katholischer und evangelischer Provenienz in einem beachtlichen Umfang vertreten. Die Tatsache, daß einzelne ÖVP-Mandatare zuerst ökonomische Interessen vertreten und christliches Gedankengut lediglich, soweit es vom Standpunkt der Interessendurchsetzung nützlich zu sein scheint, hat kein so beachtliches Gewicht, daß dadurch die ÖVP den Charakter einer nur bedingt christlichen Partei hat. Jedenfalls ist unübersehbar, daß in der bisherigen Regierung die ÖVP von Männern vertreten wird, die aus der Mitte des katholischen Raumes kommen. Das soll eine Feststellung sein.

Die Fragen, die sich dem Christen angesichts eines diesmal keineswegs reichhaltiges Anbotes an ernst zu nehmenden wahlwerbenden Parteien auf drängen, sind unter anderen:

• Wie weit ist eine bestimmte Partei nach Programm und Summe der bisher in ihrem Namen vollzogenen politischen Akte offenkundig geeignet, die Ansprüche der Kirchie in der Welt besser als andere Parteien zu vertreten: im Bereich des Unterrichtswesens auf allen Stufen pädagogischer Darbietung, in Fragen des Eltemrechtes, hinsichtlich einer realen Aktionsfreiheit der Individuen, angesichts der Bedrohung der öffentlichen Moral im weitesten Sinn, hinsichtlich der Sicherung und Forderung der Interessen der Nation, hinsichtlich der Respektierung der Haltung eines in seiner Substanz mehrheitlich gläubigen Volkes, das nicht versteht, warum man beispielsweise amt- licherseits das Wort „Weihnachten” nicht auszusprechen wagt und auf Anschlagtafeln in Wien nur von einem „Fest” spricht.

• Es wäre unzureichend, das Interesse lediglich auf die Parteien zu richten und dabei die aussichtsreichen Bewerber um die Mandate zu übersehen. Trotz allem — auch trotz Parteidisziplin — wird Parteipolitik noch nicht von Elektronenrechnern, sondern von Menschen gemacht. Im Gegenteil! Je komplizierter die Übersicht über das politische Entscheidungsmaterial ist, um so eher müssen sich die Bewerber, die als Mandatare die komplexe politische Materie bewältigen sollen, eine strenge Prüfung ihrer erwiesenen weltanschaulichen Grundhaltung und ihrer fachlichen Qualitäten gefallen lassen. Auch die „bewährten ,alten Kräfte”. Man kann nicht davon ausgehen, daß lediglich eine Sache an sich „gut” sein müsse, weshalb an die persönlichen Qualitäten jener Personen, welche die „gute” Sache vertreten sollen, keine allzu hohen Ansprüche zu stellen sind. Im Gegenteil. Persönliche Frömmigkeit oder eine perfekt soziale Gesinnung allein können den Sachverstand nicht ersetzen. Sachverstand ohne Gesinnung ist freilich ebenso unzureichend.

• Schließlich sind Parteien und Bewerber nicht allein darnach zu beurteilen, wie sie sich geben, oder nach der Fülle ihrer Versprechungen, sondern auf ihr tatsächliches Verhalten hin zu prüfen. Eine solche harte Prüfung müssen sich vor allem Palaverchristen und Berufssoziale gefallen lassen.

• Wie jeder Mensch positives und negatives Verhalten zeigt, ist auch eine Partei kein Kollektiv von Engeln. Es wäre daher absurd und im höchsten Grad ungerecht, eine Partei oder einen Politiker nur nach der Summe der Fehler zu beurteilen. Worauf es ankommt, das ist der erkennbare Saldo von Positiv und Negativ.

Wenn schon von „Aequidistanz” gesprochen wird, bedeutet dies, von einem gegenseitigen gleichen Verhältnis aus gehen und nicht von einer einspurigen Distanzgleichheit (!). Falls die Christen gegenüber allen politischen Gruppen gleichen Abstand halten und ihren Entscheid nur durch sachliche, nicht durch weltanschaulich bedingte Interpretationen bestimmen lassen (etwa durch ihre ökonomischen Interessen), muß Gleiches auch von den Parteien gegenüber den Grundsätzen des Sittengeisetzes (dem Christlichen) angenommen werden. Ist aber in der SPÖ der Marxismus, der nicht Verteilungslehre, sondern in erster Linie Weltanschauung sein will, mit dem Christlichen praktisch egalisiert worden? Worin zeigt sich diese Gleichstellung? Die Kandidatenliste ist für diese Gleichstellung leider kein Beweis. Haben nicht die Atheisten in der SPÖ noch immer Präferenzen, weil sie besser („unverdächtiger”) bei Vertretung sozialistischer Anliegen sind als die Christen, die an Normen gebunden sind, die nicht allein vom Klasseninteresse bestimmt sind? Warum sind die Christen in der SPÖ unten, an der Basis der Partei, so stark vertreten, oben aber ohne Vertretung. Ist das innerparteiliche Demokratie?

Jedenfalls liegt es diesmal nicht an den gläubigen Katholiken, wenn sie wahrscheinlich Grund finden werden, in ihrer Mehrheit zu vermuten, daß zumindest 1966 katholische Sozialisten von ihrer offiziellen Parteiführung noch diskriminiert werden, auch solche, die ihr Soll an Kritik gegenüber der Kirche brav ableisten. Es wäre eine ideale politische Situation, wenn die Katholiken, wie jene Englands, in keiner Weise die Parteien von ihrem Glauben her prüfen müßten und lediglich nach ökonomischen und sonstigen profanen Interessen wählen könnten. Alle Formen des bisherigen parteipolitischen Katholizismus (den wir in der klassischen Ausprägung in Österreich ohnedies nicht haben) sind jedoch ein Anzeiger dafür, daß eine solche ideale Situation noch nicht gegeben ist. Die Schuld für diesen Tatbestand liegt nicht bei den Katholiken!

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