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Linkskatholizismus

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Linkskatholizismus — das ist ein über den sozialen Katholizismus hinausgehender Versuch gläubiger Christen, die Wahrheiten des Evangeliums konsequent gegen bestimmte Seiten des Besitz- und Machtanspruches in der Welt und oft in Empörung gegen diese und ihre Einrichtungen durchzusetzen. In Anwendungen der Postulate des Sittengesetzes soll insbesondere die Gesellschaft neugeordnet und die Struktur des Eigentums an den Produktionsmitteln gewandelt werden. Indirekt wird auf diese Weise betont, daß die Kirche eine gesellschaftliche Funktion hat und die Heilsbotschaft eine, schon in der Urkirche erkannte, bis in den Alltag des Haushaltes reichende Wirklichkeit darstellt.

Dem „links“ stehenden Katholiken geht es also um eine radikale und oft naiv-wörtliche Erfüllung des „Gesetzes“, um ein „integrales“ Christentum. In einer ursprünglichen Gläubigkeit meint der Linkskatholik und dies mit Recht, daß zwischen der christlichen Lehre und dem praktischen, insbesondere dem sozialen Handeln des Christen kein grundsätzlicher Widerspruch bestehen dürfe und daß gläubiges Bekenntnis als eine Einheit von Bekenntnis und Handeln in der Wirklichkeit des Lebens zu verstehen sei.

Darüber hinaus will der Linkskatholizismus in einem missionarischen Eifer, wie ihn oft nur Neubekehrte haben, die sozialistische Linke, und da vor allem den sozialistischen Arbeiter „taufen“ Kuehnelt-Leddihn. Diese Taufe soll durch das attraktive Beispiel, durch ein allgemein offensichtliches christliches Leben vorbereitet werden. Durch eine von praktizierenden Christen provozierte zweite christliche Revolution soll versucht werden, eine .zweite Reformation, die gewillt ist, sich aus den Bedingungen des Kapitalismus und den ihnen entsprechenden Thesen des Kommunistischen Manifestes zu rechtfertigen, zu verhindern. Dies einfach: durch Aufhebung des Skandalös ‘der kapitalistischen Ausbeutung.

In neuen spontanen Aktionen und durch eine Wortverkündigung, die sich nicht scheut, sich in der Darstellung auch der Utopie zu bedienen, ist man bemüht, dem Priester den Zutritt in jenen bisher toten Winkel der Seelsorge zu verschaffen, in den sich der. Arbeiter der unteren Einkommenschichten zurückgezogen hat. Die gesellschaftliche Bannmeile soll wieder in den Wirkraum der Wortverkündigung einbezogen werden. Kommen die Christen nicht mehr zur Kirche, dann muß sich diese als Institution in Bewegung setzen, etwa über den bindungs- und amtlosen fahrenden Priester. Hier zeigt sich der Linkskatholizismus als eine Form der Inneren Mission. Eine Seelsorge bloß für die Pfarre wird als überholt erkannt. Neue Methoden der Seelsorgepraxis bis zum „Priester ohne Soutane“ Venaissin werden angewandt oder propagiert.

Die Begriffe von „links“ und „rechts“ haben sich nun, soweit es um die Bestimmung weltanschaulichen und politischen Verhaltens geht, allmählich als ein sehr fragwürdiger Einteilungsgrundsatz erwiesen.

Die „Link e“ aller Riten will einfach dargestellt die bestehende, schon in ihren Ansätzen als unrichtig, weil ungerecht erkannte Sozialordnung vor allem in Richtung auf die Herstellung einer totalen oder überwiegenden Gemeineigentumsordnung völlig neugestalten.

Die „R echte“ will was freilich nicht der allgemeinen geschichtlichen Erfahrung entspricht formell den bestehenden von links her gesehen: ungerechten gesellschaftlichen Zustand weitgehend konservieren. Auf diese Weise sieht sie ihre im Wesen ökonomischen Interessen bestens gewahrt. Tn der Eigentumsordnung etwa wird höchstens eine legislative Bindung des Eigentums an den Produktionsmitteln zugestanden. Gerechtigkeit und Wohltat werden identifiziert.

Im Sinne der obigen Darstellung hat nun jede geschichtliche Gesellschaftsordnung ihre „Linke“ und ihre „Rechte“. Beide sind Eie-, mente im gesellschaftlichen Prozeß.

Der Linkskatholizismus steht nun das sagt schon sein Name in einem oft uneingestandenen Kampf gegen einen fiktiven und auch gegen einen tatsächlichen Rechtskatholizismus. Insoweit ist er vornehmlich eine innerkatholische Angelegenheit. Der Linkskatholizismus kann eben nur leben, wenn er von der Annahme des Bestehens eines dialektischen Gegensatzes mit einem seine Aktion herausfordernden Rechtskatholizismus ausgehen kann. Ebenso wie etwa das „Proletariat“ nur bestehen kann, wenn es ein Nichtproletariat, eben die „Bourgeoisie“, gibt.

Hinter dem Rechtskatholizismus als Denkkategorie und als „Spielpartner“ des Linkskatholizismus steht aber die Realität des Liberalkatholizismus. Für diesen, der von echter Liberalität weit entfernt ist, stellen die christlichen Wahrheiten eine billige Etikette dar, und die Kirche eine in Dauerpacht genommene Institution, die so weit verläßlich zu sein scheint, als man glaubt, durch Berufung auf sie und die von ihr verkündeten Wahrheiten unchristliches Handeln bestens verdecken zu können. Kein Wort — meint man da — gegen das christliche Sittengesetz. Aber seine Anwendung dürfe nichts „kosten“. Keinesfalls dürfen mit dem Bekenntnis zur Kirche kommerzielle Verluste „Spesen“ verbunden sein. Im allgemeinen huldigen die liberalen Christen daher dem Prinzip der doppelten Wahrheit. Ihr Lippenbekenntnis findet vor allem in ihrem sozialen Handeln keine Entsprechung. Das jeweils bei Bedarf, und da sehr augenfällig, abgelegte Bekenntnis etwa „zum Glauben der Väter“ erweist sich in der Stunde der Bewährung bei einem erheblichen Teil der Liberalen als ein gut geübtes Spiel mit Worten. Hinter den frommen Gesten der meisten Liberalen verbirgt sich aber so etwas wie ein weltoffener barocker, aber beileibe nicht als solcher bezeichneter Atheismus. In Frankreich und Italien von Südamerika gar nicht zu sprechen bilden Teile der katholischen „Rechten“ den Kern einer „gottesfürchtigen" Bourgeoisie, die, in ihrer Erwerbsgier narkotisiert, unbewußt das Heraufkommen einer Entwicklung fördert, an deren Ende die Liquidation der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung, die doch wesentlich die ihre ist, steht.

Gegen diesen sittlich standortlosen, weltanschaulich tatsächlich „unabhängigen“ Liberalkatholizismus, gegen die unheilvolle „Ar- rivlerung“ des Christentums gegen das, was sich als „Christentum“ ausgibt richtet der Linkskatholizismus seinen vehementen Angriff. Der Kampf gilt aber auch der Verbürgerlichung des kirchlichen Apparates, dem Beamtenpriester, der, von Pfründen lebend, sich von jeder Seelsorge distanziert und in einer seelenlosen unverbindlichen Formelsprache Gottes Wort auf seine Weise wohl kündet, aber nicht verständlich macht.

In den Anfängen will der linke Katholizismus das, was wir christliche Politik nennen, aus der Monotonie eines falschen Konservatismus herausführen und den Christen die Möglichkeit der Realisierung des Dekalogs auch im Raum der Politik zeigen. Das ist aber nur am Anfang so. Später glaubt der Linkskatholizismus oft ohne den christlichen Politiker auskommen zu können.

Dem Sog des Arrivierten dieses: erkannte Chance komfortablen Lebens bei ökonomischer Sicherheit kann sich freilich keine politische oder weltanschauliche Gruppe entziehen, insbesondere dann nicht, wenn sie an der Macht ist, handelt es sich doch um einen der Natur des Menschen entsprechenden Vorgang. Das sei gesagt, damit man nicht glaube, es gäbe nur eine konservative Bourgeoisie.

Solange Kirche ist, wird es nun stets einen Linkskatholizismus als Gewissen der Christenheit geben, er mag diesen oder jenen Namen tragen. So ist der Aufbruch in Cluny im Wesen nichts anderes als der Versuch der „Mission de Paris“. Was die Patristik zur Frage des Eigentums sagt, findet seine Wiederholung etwa in den Forderungen der Christen um die „Frankfurter Hefte“ und die Zeitschrift „Esprit“. Ebenso wird stets ein „bürgerlicher“ Katholizismus da sein, ein katholischer Theismus, der von der Annahme eines machtlosen außerweltlichen Gottes ausgeht und eine Autonomie des Erwerbslebens, eine Wirtschaftsdämonie, proklamiert.

Angesichts einer unheilvollen sozialökonomischen Entwicklung hat nun der Linkskatholizismus in Frankreich und auch in Italien in diesen Fragen seine besondere Bedeutung erhalten. Je gewichtiger jedoch der Linkskatholizismus wird, und je mehr er sich an Macht aneignet, um so stärker zeigt sich die Gefahr seines Abgleitens in einen weltanschaulichen Neutralismus und in die G 1 e i c h s e t z u n g von Sozialethik mit Religion und von Klassenkampf mit Seelsorge. Derart vollzieht sich an manchen Stellen eine Entartung linkskatholischen Denkens zur Ideologie und zur Häresie. Auf diesen Umstand hinzuweisen, ist geboten. Der Neutralismus ist im Anfang eine Form der Milieuanpassung, wie auch eine Methode der Missionierung. In Frankreich aber stehen zum Beispiel die christlichen Gewerkschaften heute bereits links von den Sozialisten. Durch großzügige Aufnahme von Nichtchristen Mohammedanern und weltanschaulich Indifferenten wurde das ursprünglich christlichsoziale Programm soweit modifiziert, daß sich bei weitgehender Dramatisierung sozialer Spannungen schließlich eine Art von Neomarxismus zeigt. Die Normen des Sittengesetzes werden „noch“ anerkannt. Den christlichen Wahrheiten wird aber faktisch nicht mehr erste Wirklichkeit zuerkannt; sie werden nach der Bedeutung, die sie jeweils für die ökonomische Interessenvertretung haben, klassifiziert und „eingestuft", das heißt, wie das auch die christliche Rechte tut, auf ihren kommerziellen Wert hin betrachtet. Also auch ein Liberalismus. Nur in einer anderen Richtung. Die erste Wirklichkeit sind — und da zeigt sich der unverkennbare Rückschritt — die jeweilige Klassenkampflage und die dahinterstehenden Produktionsverhältnisse.

Zur Ideologie: Viele Christen, auch die, welche es aufrichtig sein wollen, vertreten soziale Belange nur als eigene Belange. Der Zugang zur Erkenntnis der reinen Wahrheit aüf dem Gebiete der sozialen Ordnung soweit eine solche Erkenntnis menschenmöglich ist wird durch den dauernden Rück- bezug auf höchsteigene Interessen unmöglich gemacht. Der schlechtbezahlte geistige Arbeiter steht zum Beispiel oft links, weil er glaubt, durch eine Sozialreform in der Schauweise des Sozialismus ökonomisch zu gewinnen. Tatsächlich will er nicht totale, sondern nur partielle private Sozialreform. Sein soziales Bekenntnis ist weitgehend nur sublimierter Egoismus. Ist dieser geistige Arbeiter saturiert, wandert er nach „rechts“ ab und nimmt in Hinkunft die konservative Position ein. Wir sehen das ganz deutlich auch bei manchen avancierten Arbeiterführern, sie mögen blau oder grün sein. Freilich, dies gilt für diese Arbeiterführer: Solange sie von der Befreiung der Arbeiterschaft leben müssen, stehen sie vor der Welt links, aber sie denken bereits „rechts“. Und das ist wesentlich.

Auch die Linkskatholiken sind zuweilen in der Gefahr, in einer falschen Bewußtseinslage die Realitäten zu übersehen und sich aus einem bloßen persönlichen Einkommensinteresse Ideen zu bauen. Nun sind es gerade die Intellektuellen, welche den sozialen Katholizismus dazu bringen, ohne Kontrolle der Tatsachen, jenseits der Wirklichkeit ein Gedanken- und Forderungsgebäude aufzubauen. Ist es doch so, daß viele Intellektuelle das Wort „sozial“ nicht hören können, ohne daß sie unverzüglich in Verzückung geraten, wobei sie es freilich meist geflissentlich vermeiden, sich etwa praktischer sozialer Arbeit zu widmen. Oft wird, von einer sozialen Situation, wie sie um die Jahrhundertwende bestanden hat, ausgehend, eine soziale Neuordnung da verlangt, wo sie längst, wenn auch noch nicht restlos, verwirklicht ist. Ueber die offizielle Linke hinaus durchbrechend wird das Terrain der Realitäten überschritten und in das Reich der Spekulationen vorgestoßen. So zeigt sich vom sozialen Katholizismus dann vielfach nur eine Summe sozialer Gesten, ein unverbindlicher katholischer Irrationalismus, ohne Gegen- warts- und Wirklichkeitsbezug. Lediglich der intellektuellen Neugier und Diskussionslust ist gedient. Die Barbarei des „Kapitalismus“ was wird nicht darunter alles verstanden wird zuweilen mit den Argumenten einer anderen Barbarei bekämpft. In den Salons, im Gespräch am Kamin, bei Wein und belegten Broten wird eine Arbeiterschaft „befreit“, mit der man nie persönliche Tuchfühlung zu halten bemüht war. Warum denn auch? Dann wären doch so manche lieben Vorstellungen als bloß theoretische Annahmen entlarvt worden.

Zu einer außerordentlichen Gefahr für die Kirche wird der Linkskatholizismus, wenn er zur Häresie zu entarten droht. Da und dort ist es nicht allein in Frankreich zu einer weitgehenden Rezeption des Marxismus durch Christen gekommen. Der Marxismus wird aufgenommen, nicht allein weil man seine Dogmen als richtig anerkennt, sondern einfach, weil sie anders sind als die Thesen des ökonomischen Liberalismus. Dabei werden die eigenen Gedanken oft mit einer puritanischen Intoleranz gegenüber den Liberalen vorgetragen, aber auch jenen gegenüber, die nicht buchstabengetreu der gleichen Meinung sind, obwohl sie sich bereits „unterwegs“ befinden. In der Süchtigkeit, alles zu „taufen“ und dies mit allen Mitteln, entfernen sich also viele Linkskatholiken vom ursprünglichen Standort des sozialen Katholizismus. Meist aus einer Schwäche für die andern und ihre Argumente, hinter denen aber oft ein stärkerer Glaube steht. Immer mehr nach links abkommend, landen diese Katholiken schließlich, sich geradezu überschlagend, ganz verdutzt am linken Flügel links von links, und zwar einfach aus dem Bewegungsgesetz aller Radikalismen, die, es sei dies _eine tröstliche Feststellung, doch konvergent sind.

Schließlich sind die Linkskatholiken oft, ebenso wie die liberalen Christen, wenn auch mit ungleich mehr Freimut, geneigt, aus einer modischen Distanzierung gegenüber dem kirchlichen Apparat und in einem intellek-, tuellen Hochmut, zur Leugnung der Notwendigkeit der kirchlichen Hierarchie zu kommen. Das ist dann das Ende: Ein Nonkonformismus, für den der Glaube schließlich nicht mehr ist als ein geweihräuchertes Sozialprogramm. In der letzten Phase einer solchen Entwicklung wird schließlich aus dem heroischen urchristlichen Versuch, die Thesen des Dekalogs bei der Neuordnung der Gesellschaft anzuwenden, eine Art von Pansozialreformismus.

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