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Zwischen PMF und Mauriac

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Paris, im Juli Fast jeder Franzose liebt es, sich als links zu bezeichnen, mag er auch, wie Andre Siegfried geistreich bemerkte, sein Portemonnaie auf der rechten Seite halten. Kein Begriff jedoch übt in der französischen Innenpolitik eine solche Anziehungskraft aus, wächst beinahe zum Mythos, beherrschte die Dritte Republik und läßt die Diskussionen der Vierten Republik nicht abreißen.

Gegenüber einer bestehenden Ordnung, die als ungerecht angesehen wird, in der nur die Gegensätze eines „bereits dekadenten Bürgertums“ zum Ausdruck gelangen, erheben sich alle jene Parteien und Gruppen, welche sich als links bezeichnen, die sich ausschließlich berufen fühlen, die Geschichte zu interpretieren. Sie glauben darüber hinaus, den Sinn des Lebens in einer nur materialistischen Weltordnung aufzeigen zu können, oder wie ein linksstehender Dichter ausruft: „Den Menschen allein als die Zukunft des Menschen zu postulieren“. Die Linke träumt von einer Gesellschaft, in der keine Zwischenglieder, wie etwa die Kirche, Parteien oder Klassen, die direkten Kontakte von Mensch zu Mensch stören. Sie glaubt an die Notwendigkeit der unausweichlichen sozialen Revolution, welche eine bisher unterdrückte Klasse an die Macht führt. Sie verlangt die restlose Vernichtung des Kapitalismus als einzige Möglichkeit, um die soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen.

Derartige Gedanken werden von den Theoretikern der französischen Linken in dem eben erschienenen doktrinären Werk („Les Temps modernes“, Nr. 112 und 113, unter der Chefre'daktion von Sartre) ausgeWelret. Es ist der erste zusammenfassende Versuch, die Ideen wie die Politik der französischen Linken nach dem Krieg zu definieren. Es sollen die Möglichkeiten aufgezeigt werden, welche aus der Kritik bestehender Zustände zur Aktion führen, um den strahlenden Morgen der neuen Revolution vorzubereiten.

Ist die französische Oeffentlichkeit, sind die politischen Parteien bereit und fähig, außerhalb des Kommunimus eine solche Veränderung aller Strukturen des Landes zuzulassen? Die Linke glaubt an die historische Sendung der Arbeiterklasse, die bereit und reif ist, die alleinige politische Verantwortung zu übernehmen. Das Land steht derzeit vor sozialen Konflikten großen Ausmaßes, die Streiks in den öffentlichen Diensten konnten nur mit Mühe abgewehrt werden. In der Privatindustrie, den Schiffswerften und den Petuoleumraffinerien schwelt ebenfalls eine deutliche Unruhe. Die Malaise g.-ht ohne“ Zweifel, so wie 1953, von der Basis aus. sie wird natürlich von den offiziellen Gewerkschaftsorganisationen gefordert. Doch auch die Masse der Lohnempfänger ist in Unruhe geraten. Seit den letzten Lohnerhöhungen sind die Lebenshaltungskosten fast nicht oder nur unmerklich gestiegen. Die französische Arbeiterschaft hat jedoch inzwischen neue Bedürfnisse entwickelt. Sie verlangt eine gerechtere Verteilung des Nationaleinkommens und kann es nicht verstehen, ständig vom Besitz eines Autos oder Fernsehapparates abgehalten zu werden. Die Unternehmer wollen es nicht begreifen, daß die Lohnempfänger in erster Linie Konsumenten sind. Sie verharren, mit wenigen Ausnahmen, in einem sozialen Konservativismus und sind nur unter Druck geneigt, Zugeständnisse zu machen. Doch alle soziologischen Untersuchungen, die in vollständiger Unabhängigkeit gemacht wurden, deuten darauf hin, daß die Arbeiterschaft alle intellektuellen Ueberlegungen fast nicht zur Kenntnis nimmt oder daran nur sehr wenig glaubt. Sie wählt kommunistisch, weil sie sich dadurch eine Besserstellung erhofft. Wenn sie die Volksfront fordert, so deswegen, weil mit ihr die größten Reformen Frankreichs im Jahre 1936 verbunden waren.

Doch eine Volksfront ohne die sozialistische Partei ist undenkbar. Der eben zu Ende gegangene Jahreskongreß der SFIO zeigt, wie sehr Theorie und Praxis auseinanderklaffen und wie wenig doktrinäre Substanz der westliche Sozialismus derzeit aufzuweisen hat. Die SFIO denkt wohl mit gewisser Sehnsucht an die erregenden Jahrzehnte, als es darum ging, die Arbeiterschaft im Staate zu verankern. Doch jetzt schwankt sie zwischen dem Humanismus eines Leon Blum und einem lauen, nicht ganz eingestandenen Marxismus. Dabei betrachtet sie mit großem Mißtrauen, man möchte fast glauben mit Minderwertigkeitsgefühlen, die dynamischere kommunistische Partei. Denn die SFIO ist verbürgerlicht, in den Kadern überaltert und weiß nur noch mit Begriffen zu manipulieren, denen jeder revolutionäre Hauch abgeht. Die Sozialisten stipulierten als ihr Ziel: die Vollbeschäftigung, die Vorbereitung auf die sozialistische Gesellschaft unter Beibehaltung der politischen Freiheiten. Sie treten für die Assoziation mit den überseeischen Gebieten ein und verlangen mit Nachdruck die allgemeine kontrollierte Abrüstung in der Welt. Die Sozialisten verlieren an Einfluß. 1946 zählte man 350.000 eingeschriebene Parteimitglieder, derzeit rechnen wir mit 110.000. Bei den wichtigsten Wahlen erhielten sie folgende Stimmenanzahl:

2. Juni 1946 .... 4,190.000 10. November 1946 . . 3,130.000 17. Juni 1951 . . . . 2,660.000

Die Partei ist überaltert. Im Gegensatz zur MRP oder selbst zu rechtsstehenden Parteien, sind 70 Prozent des Exekutivbüros über 40 Jahre alt. Von den Wählern sind 30 Prozent unter 3 5 Jahren, 22 Prozent zwischen 50 und 65 Jahren und 15 Prozent über 65 Jahre. Es ist für die Generation der 30- oder 40jährigen so gut wie unmöglich, in der SFIO Karriere zu machen. Die allmächtigen Provinzfederationen werden ausschließlich von alten Parteimitgliedern beherrscht. Die Partei steht seit Jahren außerhalb der Regierungsverantwortung. (Obwohl sie die stärkste Parlamentsfraktion hat, nachdem vor kurzem die Abgeordneten, die anläßlich der EVG-Krise ausgeschlossen wurden, in das Vaterhaus zurückkehren durften.) Ist die sozialistische Partei noch eine Arbeiterpartei? Auch hier werden uns die entsprechenden Zahlen Auskunft geben können: Funktionäre 24,9 Prozent, Arbeiter 24,3 Prozent, Rentenempfänger 12,8 Prozent, Handwerker und Kaufleute 12,3 Prozent, Angestellte 8,8 Prozent, Landwirte 7,4 Prozent, liberale Berufe 2,6 Prozent, ohne Beruf 6,9 Prozent

Infolge der Schulfrage hat sich die SFIO endgültig vom MRP getrennt. Die Laizität und der Antiklerikalismus, diese Gespenster aus 'der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts, werden wieder einmal ganz groß geschrieben. Sie verbinden die nichtkommunistische Linke am stärksten und könnten unter Umständen den Zement für eine neue Volksfront bilden. Die sozialistische Partei weigert sich, ein Wahlbündnis mit dem MRP oder den Kommunisten einzugehen. Sie fühlt sich, wie eine Karikatur treffend zeichnete, in erhabener Einsamkeit auf einer Insel, welche von einer Barriere aus drei Pfeilen umgeben wird. Ohne die Sozialisten gibt es jedoch keine politische Organisation der französischen Linken. Alle dahin gehenden Spekulationen rechnen nicht mit den Realitäten und eine Allianz mit der kommunistischen Partei würde unweigerlich nicht zur Volksfront, sondern zur Volksdemokratie führen.

Die Sozialisten waren die treuesten Anhänger von Mendes-France und sie versuchten durch ein „Comite d'Etude pour la Republique“ neuerlich mit Mendes-France und seiner von ihm beherrschten radikalen Partei ins Gespräch zu kommen. Mendes-France hat sich inzwischen in der radikalen Partei durchsetzen können. Das will jedoch nicht heißen, daß der mächtige nordafrikanische Lobby sein Spiel verloren gibt. Zu große wirtschaftliche Interessen sind gefährdet. Doch Mendes-France versteht es, darüber hinaus jene Schichten anzusprechen, die, sozial gesehen, nicht der Linken zugehören, die sich jedoch dorthin immer stärker zu orientieren beginnen. Es handelt sich dabei um die Gruppen junger Wirtschaftsfachleute oder Ingenieure, kurz die technischen Kader der Nation, die im Unternehmertum keinen Anklang gefunden haben. Sie glauben an die Theorien Kaynes, sind von dem Nutzen der Wirtschaftspläne überzeugt und fühlen sich doch in den traditionellen Parteien nicht zu Hause. Es handelt sich um sehr aktive Schichten, welche in Mendes-France ihren politischen Ausdruck zu finden glauben. Sein Sprachrohr, die Wochenschrift „Express“, tritt immer wieder für eine strukturelle Aenderung in der Politik und Wirtschaft ein, Diese Gruppen lassen sich weder von ideologischen Ueber-legungen leiten, sie suchen vielmehr eine dynamische Expansion, verlangen die Umstellung des Wirtschaftsapparates, der noch immer, nach ihrer Meinung, von konservativen Elementen zu stark beherrscht wird. „Express“ spricht wohl von „einer neuen Linken“, aber es ist B o u r d e t, der mit seiner Zeitschrift „France-Observateur“ eine neue Linkspartei zu schaffen versucht („La Nouvelle Gauche“). Dort flüchten sich die französischen Linksintellektuellen hin, die Neutralisten, alle jene, welche in der Organisation einer neuen Linken das Heil Frankreichs erwarten. Der Einfluß auf die studierende Jugend ist beachtlich. Doch werden sie im Lande über nicht mehr als 25.000 Anhänger verfügen. Die Farbe von Saint Germain des Pres' schimmert zu deutlich durch alle ihre Aeußerungen, um die Massen ansprechen zu können. Verquälte Intellektuelle besitzen nun einmal nicht die Kraft, vom Denken auch zur Tat zu schreiten.

Eine Studie über die französische Linke wäre unvollständig, ohne das Problem des Linkskatholizismus in Frankreich zu erörtern. Für die Linkskatholiken handelt es sich darum, das christliche Apostolat in jene Volksteile zu tragen, die sich immer stärker jeder geistigen Bindung entziehen. Die bekannte Revue „Esprit“ vertritt die Idee einer Linken, die in gefühlsbetonten Gründen eher eine Rechtfertigung findet, als in den harten politischen Tatsachen. Die Masse der Linkskatholiken stammt aus dem kleinen Bürgertum. Das Gefühl der allgemeinen Brüderlichkeit, das Bedürfnis, Zeugnis über Christus in einer Welt abzulegen, die zu stark von den mächtigen Kräften der Berufsverbände und Interessenvertretungen beherrscht werden, spricht besonders eine Jugend an, die in ihrer Großzügigkeit nicht immer die Grenzen erkennt. Eine Gruppe, die von Rom verurteilten sogenannten fortschrittlichen Christen (Chre-tiens Progressistes), hat sich als politische Partei konstituiert. Sie leistet im wesentlichen der kommunistischen Partei Schützenhilfe, konnte jedoch kein Echo finden. Auch die Junge Republik („La Jeune Republique“), einst Ausgangspunkt des MRP, verfügt weder über Kaders noch über einen Anhang, der zahlenmäßig ins Gewicht fällt. Die „Junge Republik“ kann in jeder Legislaturperiode mit zwei oder drei Abgeordneten rechnen, welche das MRP verlassen haben, weil die Volksrepublikaner sich zu sehr nach rechtshin orientiert hätten. Diese Anklagen gegen die christlichen Demokraten werden übrigens immer wieder von den Linkskatholiken erhoben.

Eine Reihe von Zeitschriften der Linkskatholiken, wie „La Quinzaine“, wurden auf Veranlassung Roms eingestellt. Nur „Temoignage Chretien“ beansprucht für sich diese Linie, aber neue Streiter, wie Mauriac, entstehen, ihr Einfluß ist im Wachsen begriffen. Auch das Experiment der Arbeiterpriester hat tiefe Spuren hinterlassen.

Der französische Linkskatholizismus hat bisher keine politische Ausdrucksmöglichkeit gefunden. Die Frage der Laizität hindert den Anschluß an die Sozialisten. Alle anderen Linksbewegungen gehören nur noch in den Bereich historischer Studien, wie etwa der Anarchismus. Der Wille der französischen Resistence, eine Arbeiterpartei im Sinne der englischen zu schaffen, darf als endgültig gescheitert betrachtet werden. Das Schicksal der politischen Linken in Frankreich wird davon abhängen, in welcher Weise die drei großen Tendenzen Sozia-Iismus, Mendesianismus und der Linkskatholizismus zu einer arbeitsmäßigen Allianz gelangen können. Davon hängt auch die Zukunft des MRP ab. Jedenfalls wird um neue Begriffe gerungen, Begriffe, die nicht nur für Frankreich ihre Bedeutung haben.

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