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Das Neujahrsgeschenk

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Paris, im Dezember

Wie in vielen europäischen Ländern, ist es auch in Frankreich Sitte, sich am Neujahrstag bei seinen Freunden mit Geschenken einzustellen. Diese „Etrennes“ spielen eine noch größere Rolle als die Bescherung am 24. Dezember in den deutschsprachigen Regionen. Diesmal jedoch hat die französische Regierung für ein ausgiebiges Geschenk an die Nation gesorgt. Die Parlamentswahlen, die am 2. Jänner durchgeführt werden müssen, nachdem der Staatsrat als höchste Verfassungsbehörde die Verschiebung bis zum 8. Jänner nicht zugebilligt hatte, stören alle bisher üblichen Gebräuche des Neujahrstages.

Der Zweikampf F a u r e gegen M e n d e s-France erhält damit seine echte dramatische Note. Seit 1877 ist es das erstemal, daß ein Regierungschef es gewagt hat, die Auflösung

der Kammer zu vollziehen. Kenner der Dritten Republik wissen, daß dieser Akt MacMahons wie ein Schatten über der französischen Innenpolitik bis 1939 lag und stets schärfstem verurteilt wurde.

Als am 29. November 195 5 Edgar Faure das Mißtrauen ausgesprochen wurde, geschah dies mit 318 gegen 218 Stimmen. Am 5. Februar 195 5 wurde die vorhergehende Regierung Mendcs-France mit 319 gegen 273 Stimmen ebenfalls gestürzt. Damit trat ein Artikel der Verfassung in Kraft, der vorsieht, daß bei zweimaligem Mißtrauensvotum der Kammer gegenüber der Regierung innerhalb 18 Monaten die letztere das Recht für sich in Anspruch nehmen kann, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Es steht fest, daß die Parteien über den Ausgang der Abstimmung selbst überrascht waren. Der Verdacht kann nicht ent-

kräftet werden, daß politische Freunde Edgar Faures gegen die Regierung gestimmt haben, um die seit Wochen schwebende Krise mit einer Art Hieb durch den gordischen Knoten zu beenden.

Die Auflösung der Kammer war streng legal — wenn es auch in der Verfassung lautet: Sie kann unter diesen Umständen aufgelöst werden. Sofort erhob sich ein Proteststurm aus allen jenen Kreisen, die Mendes-France unterstützen. Der Mut des Regierungschefs wurde in Zweifel gezogen, seine wahren Absichten verzerrt, und das Mindeste war, daß man von Ver-fassungs- oder Gesetzesbruch sprach. Die Wahlen müssen nach dem Wahlgesetz 1951 abgehalten werden, das heißt Mehrheitswahlrecht in Paris und Seine et Oise, Mehrheitswahlrecht mit Listenkoppelung in allen übrigen Wahlkreisen. Wenn eine Liste die absolute Mehrheit erhält, so werden alle übrigen Stimmen dieses Wahlkreises nicht gerechnet. Sollte dieser Fall nicht eintreten, so'werden die Ergebnisse nur proportionell den einzelnen wahlwerbenden Parteien zugeteilt. Das System ist ohne Zweifel unübersichtlich, bietet Gelegenheit zu oft kleinlichem Kuhhandel, und der Wähler weiß sehr oft nicht, was sich tatsächlich hinter der Etikette einer Liste verbirgt. Denn schließlich und endlich verwenden alle Parteien die Ausdrücke „republikanisch“ und „sozial“.

Mendes-France, dessen Pläne so empfindlich gestört wurden, zögerte jedoch nicht und holte zu einem nach seiner Meinung vernichtenden Gegenschlag aus. Als unumschränkter Gebieter des Apparates der Radikalen Partei rief er eine Art Hohen Gerichtshof ein, ließ Edgar Faure zitieren, der von diesem Forum in feierlicher Form in Acht und Bann getan wurde. Von seinem republikanischen Olymp aus gab der alte Herriot dazu sein Placet. Doch die Radikale Partei war bis dahin Mitglied einer weit größeren Sammelbewegung, des RGR (Rassem-blement de la Gauche Republicaine), welche eine Reihe kleinerer Mittelparteien umschloß und ebenfalls über eine ausgezeichnete lokale Organisation verfügt. Man nenne es Zufall, aber Edgar Faure hat es verstanden, sich zum Präsidenten des RGR erküren zu lassen, und dieser Umstand genügte, um die Spaltung zwischen RGR und der Radikalen Partei zu vollziehen. Der Schlag von Mendes-France ging also ziemlich daneben. Viele Parlamentarier erwägen nun, von welcher der beiden rivalisierenden Gruppen sie die Investitur annehmen sollen, Gruppen, die vorläufig nicht zögern, ihre schmutzige Wäsche öffentlich zu waschen, und die jeweils mit der anderen Richtung sympathisierenden oder verdächtig erscheinenden Mitglieder auszuschließen.

Die Ueberstürzung, mit der die Wahlen ausgeschrieben wurden, ermöglicht natürlich keinen durchdachten Wahlkampf. Die Wahlregister sind nicht auf den letzten Stand gebracht. Zu Tausenden müssen die wahlpflichtigen Bürger auf den Gemeindeämtern warten, um sich einschreiben zu lassen. Samstag, den 10. Dezember, lief die dafür gestellte Frist ab. Man kann annehmen, daß viele zehntausende junge Wähler keine Aufnahme in die Listen finden und dadurch von der Wahl ausgeschlossen werden — ebenfalls ein gegen Mendes-France gerichteter Zug, da dieser es liebt, immer wieder an die Jugend zu appellieren. Am Rande sei als pikante Einzelheit bemerkt, daß die mit der Wahl betrauten Beamten wegen Lohnforderungen mit Streik drohen und dies bereits für den 2. Jänner mehr oder weniger offen angekündigt haben.

In ebenso großer Hast werden inzwischen die Listen in den Wahlbezirken ausgearbeitet. Die Verhandlungen zwischen den Parteien spielen sich vielfach in vollständiger Verwirrung ab. 1951 erlangten 39 Listen die absolute Mehrheit. Diesmal wird mit 30 gerechnet. Immerhin haben sich bisher 1300 Listen gebildet und 5000 Kandidaten für das undankbare Geschäft eines französischen Abgeordneten angemeldet (1951 gab es 722 Listen und 3960 Kandidaten).

Die Sozialisten haben die drängenden, ständigen Angebote der Kommunisten nach Listenverbindung abgelehnt, Die Gefahr einer Volksfront bei diesen Wahlen scheint damit gebannt. Daß es in einzelnen Bezirken zu Bindungen zwischen Sozialisten und Kommunisten kommen kann, darf jedoch nicht vollständig ausgeschlossen werden. Die SFIO hat die Nationalinteressen vor parteipolitische gesetzt. Sie gründete vielmehr mit Mende-France, der UDSR Mitterands, den Sozialen Republikanern Chaban-Delmas (Ex-Gaullisten) eine „Republikanische Front“. Dies ist also die gleiche Mehrheit, welche die Regierung Mendes-France unterstützt hat. Jede der Parteien bewahrt dabei ihre vollständige Autonomie. Als wichtigster Programmpunkt wurde verkündet, daß eine zweite Wahl mit Persönlithkeitswahl durchgeführt werden solle, wenn diese Parteigruppierung am 2. Jänner den Sieg davontragen I würde. Ueber den Zeitpunkt schwiegen sich jedoch die Gründer der Republikanischen Front ; aus. Bisher sind noch keine konkreten Anhalts-: punkte hinsichtlich des außenpolitischen, sozialen oder wirtschaftlichen Konzeptes dieser Gruppe bekanntgegeben worden.

Die Volksrepublikaner (MRP), die Unabhängigen, die Unabhängigen Bauern, ein Teil der Ex-Gaullisten (ARS) und das RGR Edgar Faures bilden die zweite große Gruppe. Es ist also die traditionelle französische Rechte, verstärkt durch das MRP, das aus dem Dilemma zwischen Rechts und Links die einzig mögliche Schlußfolgerung gezogen hat, welches ihren Fortbestand als große nationale Partei sichert.

Die Kommunisten verharren gezwungenermaßen in ihrer erhabenen Einsamkeit, werden jedoch alles unternehmen, um in letzter Minute Verwirrung zu stiften. Durch den Umstand der Spaltung im nichtkommunistischen Lager muß angenommen werden, daß die Kommunisten nach dem 2. Jänner über mehr Sitze verfügen als in der vergangenen Kammer. Die diesbezüglichen Schätzungen schwanken zwischen 20 bis 50 Sitzen, dies will jedoch nicht heißen, daß sie an Stimmen gewinnen.

Die beiden ersten Gruppen überschneiden sich natürlich im regionalen Rahmen, zahlreiche wirtschaftliche Interessen tauchen auf, persönliche Intrigen werden gesponnen, undefinierbare Einflüsse machen sich geltend. Das Wort hat jetzt der französische Wähler. Natürlich hätte

der Staatsbürger lieber seinen Neujahrstag in Ruhe genossen, als sich auf die höchsten Probleme des Staates und der Gesellschaft vorzubereiten. Doch er beginnt sich Gedanken zu machen, vielfach wird eifrig diskutiert, das Für und Wider abgewogen. Immer wieder stellt sich die Frage, für welche Partei zu stimmen sei. Werden Mendes-France und seine Kohorten den Sieg davontragen, der gegen die „Katastrophenpolitik“ von Dien-Bien-Phu, die Absetzung des marokkanischen Sultans und für einschneidende soziale Reformen kämpft? Wird es die konstruktive und konservative Ruhe eines Pinay sein? Das europäische Programm eines Robert Schu-man, um die Zustimmung der Wähler zu finden? Ist die Entscheidung bereits gefallen? Man hat den Eindruck, als hätte sich bereits jetzt der größte Teil der Wähler für eine der drei Gruppen entschieden.

Die Zukunft der Nation wird auf alle Fälle am 2. Jänner für längere Zeit hin entschieden. Und ganz Europa soll mit großer Aufmerksamkeit diesen weihnachtlichen Wahlkampf analysieren und sein Ergebnis als ein Ereignis werten, welches weit über die Grenzen des Landes strahlen wird.

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