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Randbemerkungen ZUR WOCHE

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KEIN KAVALIERSVERGEHEN ist es, wenn sich ein Betrunkener an den Volant setzt, in hemmungslosem Kraftgefühl Passanten in Grund und Boden fährt und sich dann den Folgen und der Hilfepflicht durch Flucht entzieht. In einer der letzten Wochen gab es irt Oesterreich 38 Todesopfer des Straßenverkehrs, 39 Fälle von Fahrerflucht und in 46 Fällen wurde eine Verkehrskatastrophe durch Trunkenheit des Fahrers verursacht. Das ist, auf das Jahr umgerechnet, ein furchtbarer Blutzoll. Der Tod hält reiche Ernte auf unseren Straßen — sträfliche Unvorsichtigkeit und schuldhaftes Verhalten tragen daran die Schuld. Niemand kann es verstehen, daß den Schuldigen nicht entschieden das Handwerk gelegt wird. Geldstrafen in der bisherigen Höhe sind dazu nicht das rechte Mittel. Sie machen nur einen Bruchteil der Zeche aus, die der zu Bestrafende gerade vorher leichten Herzens beim Heurigen für seine Alkoholisierung beglichen hat. Auch bedingte Arreststrafen und vorübergehender Entzug des Führerscheines sind da nicht mehr als „Vogeldunst“, abgefeuert gegen dickhäutige Elefanten. Mitten in Wien werden bei hellem Tage auf den Ausfallstraßen förmliche Äuto- und Motorradrennen abgehalten. Von fernher hupend, sausen in weit auseinandergezogenem Feld die Konkurrenten daher, und wehe dem, der da in wörtlichem Sinn „unter die Räder kommt“. Zeigt sich eine — von weitem als solche kenntliche — Polizeistreife, so wandelt sich wie mit einem Zauberschlag das Bild, wie in einer tobenden Schulklasse, wenn der Professor unvermutet den Raum betritt. Es ist viel demoralisierender, Scheinstrafen zu verhängen als gar keine. Tiefer geht es nicht mehr mit der Sicherheit auf unseren Straßen! Warum geschieht nichts Ernsthaftes gegen dieses unverantwortliche Treiben? Es ist Zeit, ein mit entsprechenden Strafsanktionen ausgestattetes Gesetz zur Regelung des Straßenverkehrs endlich auszuarbeiten.

PMF: das ist die Kurzform der Initialen des französischen Ministerpräsidenten Pierre Mendes-France, und die Mitglieder seines „Brain-Trusts” nennen ihn einfach so, statt wie bisher üblich gewesen, „le President” zu sagen. Damit beginnt aber schon eine Reihe von schlüssigen „Beweisen”, die alle davon sprechen, daß Mendes-France und seine Umgebung etwas wie einen französischen „New Deal" im Kopf haben. Ohne Zweifel, auch PMF liebt es, wie seinerzeit FÜR Franklin Delano Roosevelt, statt seiner hier und dort widerspenstigen EVG! Minister seine technischen Berater zu Rate zu ziehen. Er liebt die „action directe", die mehr als häufig einer Ueberrumpelung nicht nur der Oeffentlichkeit, nicht nur des Parlaments, sondern auch seiner eigenen Ministerkollegen gleichkommt. Selbst „Le Monde”, das seit dem Regierungsantritt von Mendes-France als sein Sprachrohr geltende Pariser Blatt, bemerkt hierzu, daß es dem Regierungschef kaum mehr lange gelingen wird, seine Politik des „fait accompli” fortzusetzen. Bis jetzt ging alles gut. Mendes- France verdankt seine sehr starke Position dem Umstand, daß er es bis zuletzt vermeiden konnte, in der zentralen Frage der französischen Politik, die EVG heißt, Farbe zu bekennen. Demnach unterstützten ihn bisher im In- und Ausland sowohl das MRP wenn auch nur durch Stimmenthaltung und die Amerikaner als auch die Linken und Molotow, denn sie alle sahen in ihm die einzig noch übriggebliebene Möglichkeit, jeweils der eigenen Konzeption doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. In dieser einmaligen Lage, die selbst dem geschicktesten Equilibristen des Pariser Zirkus Medrano zur Ehre gereichen würde, errang Mendes-France auch seine letzten Abstimmungssiege: er erhielt sowohl die erwünschten Sondervollmachten für die Durchführung seines Finanz-, Wirtschafts- und Sozialprogramms bis Ende März nächsten Jahres mit Stimmenthaltung der KP und unterstützt vom MRP, als auch die Vertagung einer sich als, hitzig versprechenden Parlamentsdebatte über Tunis und Marokko auf den 27. August, wobei lediglich die beiden politischen Gruppen in ihrer Stellungnahme den Platz wechselten. Zwei Tage nach diesen Siegen änderte sich die Lage schlagartig. Mendes-France hatte nämlich einer Konferenz der sechs Signatarmächte der Europaverträge in Brüssel für den 19. August zugestimmt und sich bereit erklärt, seine Partner über seine Absichten anläßlich der am 24. August beginnenden parlamentarischen Behandlung der EVG-Verträge zu orientieren. Nun war es also an der Zeit, zunächst einmal sein Kabinett mit der „Zauberformel”, die die Gegner und Anhänger der EVG „einander näherbringen’’ sollte, vertraut zu machen. Das ist auch geschehen. Und schon vernimmt man Rufe von Abdankungsabsichten: die Reihen der Kabinettsminister und einer imposanten Parlamentsmehrheit werden sich bald lichten, wenn es wahr sein sollte, daß die französischen Vor-schlage zur Abänderung von Zusatzklauseln erst nach der Ratifizierung des Ganzen den Vertragspartnern unterbreitet werden sollten. An die Stelle der Ausscheidenden werden aber wohl andere treten: vor allem Volksrepublikaner und Sozialisten. Die waghalsigste Etappe der „Tour de Mendes-France" ist gegenwärtig im vollen Gange. Nur eines kann Erleichterungen bringen: der gegenwärtige Zeitpunkt. Der greise Bonner Regierungschef ist von Chimären und Schatten, die nicht nur sein abtrün- - niger Abwehrchef wieder ins Leben rufen will, momentan eingekreist. Und auch die Streiks finden diesmal nicht in Frankreich statt…

EINE GLANZVOLL BESTÜCKTE LABOUR- DELEGATION mit den Antagonisten Attlee und Bevan an der Spitze begab sich auf eine mehrwöchige „Goodwill Tour" über Moskau, unter Berührung der sibirischen Stadt Irkutsk und der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator, nach Peking und wohin sie die Herren des chinesischen Protokolls, welche sich von ihren russischen Kollegen bestimmt nicht leicht ausstechen lassen werden, noch hiniühren mögen. Allein schon der Klang dieser an Jules Verne gemahnenden Ortsnamen genügt, sich vorzustellen, mit weich immensem Erlebnismaterial der trockene, wortkarge Leader der „Opposition Ihrer Majestät", das Sorgenkind und eniant terrible hitziger Parlamentsdebatten am Themseufer, Aneurin Bevan, der stets klug lächelnde Morgan Phillips und die übrigenMitglieder der Fahrt fertig werden, bis sie, wenn auch noch nicht die grauen Felsen von Dover, aber die vertraut-freundlichen australischen Ufer erblicken. All diese Einzelheiten regen die Phantasie der Leser an. Es Iragt sich nur, ob hinter der Biedermeierfassade des blumenpflückenden Kremlgewaltigen — die Presseleute schrieben „ein Bukett Gladiolen und Phlox" — bemerkt wurde, was von uns unbedingt bemerkt werden sollte: einerseits der Geist des großen Enttäuschten — die Szene spielte sich bekanntlich im ehemaligen . Landhaus, Nähe Moskau, des resignierten Stalin-Freundes Maxim Gorkij ab —, sodann . die grundsätzliche Reserve des Labourführers gegenüber „vertraulichen Gesprächen", die er in seinen kürzlich erschienenen Memoiren als unfruchtbar bezeichnete, wenn sie nicht von der emsigen, Arbeit von Experten gründlich vorbereitet wurden. Es ist sicher, daß er dieser seiner Meinung auch zwischen den ungezählten Wodkatrinksprüchen eingedenk blieb und dies sollten auch jene amerikanischen Zeitungsschreiber bedenken, die angesichts- dieser Reise „in diesem unglücklichen Zeil- ‘ punkt" den Kopf zu verlieren scheinen. Andere wiederum munkeln von „Geheimverhandlungen", die in Genf stattgefunden und eine „abendliche Pilgerfahrt" des englischen Premiers zum Ziele gehabt hätten. Diese Nachricht wurde übrigens von dem Foreign Office ‘ dementiert. Wird aber dennoch Attlee ein heimlicher Kundschafter oder sogar Vorbote Churchills in Moskau gewesen sein? Sei es wie immer, das Thema: Oppositionsführer als Quartiermacher des Regierungschefs im Ausland, um von den weltweiten Sorgen und Problemen diesmal ganz zu schweigen; dieses Thema wäre erst recht dazu da, um die Phantasie aller, die es angeht, anzuregen. Nicht nur im Sommer und — schon gar nicht allein in England.

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