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Das große Experiment

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Paris, im Juli 1954.

Der Waffenstillstand in Indochina, der einen langen, unglücklich geführten und unpopulären Krieg beendete, stellt ein Ereignis dar, das die gesamte französische Innen- oder Außenpolitik im Guten wie im Schlechten verändern kann. Ohne Zweifel wurden damit die bisher üblichen Methoden der IV. Republik aufgegeben, und das neue Regime hat nicht nur bisher vielfach unbekannte Männer hervorgebracht, sondern völlig neuartige Vorstellungen von der Tätigkeit einer Regierung gegeben. Denn die Arbeit aller Regierungen nach 1945 war stets darauf gerichtet, eine im wesentlichen zufällige Mehrheit zu finden und sie auf ein Mindestprogramm zu einigen. Dieses sehr oft angewandte Spiel, das von der jeweils gültigen Stimmung der parlamentarischen Gruppen abhing, fand nur in geringem Ausmaß die Anteilnahme der öffentlichen Meinung. Die Regierungskrisen in Paris glichen einem Schauspiel, das wohl dramatische Akzente zeigte, aber infolge mangelnden Interesses der Zuhörer in der Gleichgültigkeit und im Vergessen abflachte.

Erst die Zuspitzung des Indochina-Krieges und die ruhmvolle Epopöe von Dien Bien Phu schreckte Frankreich auf und unterbrach den gleichmäßigen Ablauf der Regierungswechsel. In gewisser Beziehung glich die Situation in der französischen Innenpolitik dem Regierungsantritt P i n a y s, als die französische Währung ins Uferlose abzugleiten drohte und Pinay die Rettung des Francs unternahm. Im damaligen wie im jetzigen Augenblick suchte, ja begründete Frankreich eine Persönlichkeit, um ein bestimmtes, Staat und Ordnung bedrohendes Problem zu lösen. Man sprach von einem „Experiment Pinay“, wie man heute von einem „Experiment Mendes-France“ spricht.

Der Krieg fand genau so wenig Interesse wie seinerzeit die unglückliche Expedition Napoleons in Mexiko. Die extreme Linke tat das übrige, um die breiten Massen von der Sinnlosigkeit dieses Krieges zu überzeugen. Aber weit schlimmer, die Leiter der französischen Politik wagteq keine endgültige Entscheidung zu treffen, weder wurde der Krieg mit allen Mitteln durchgekämpft, wie es Marschall Lattre de Tassigny gefordert hatte, noch der Ausgleich zu einer Zeit gefunden, als mit Ho Chi Minh ein vernünftiges Abkommen möglich gewesen wäre. Die alte Wahrheit von der natürlichen Zusammenarbeit zwischen der explosiven Kraft der kommunistischen Doktrin und dem Nationalismus der farbigen Völker wurde nicht rechtzeitig beobachtet und einkalkuliert. Die Französische Union hat noch nicht jenen Ausdruck gefunden, den die Briten in so meisterhafter Weise ihrem Weltreich gegeben hatten.

Es lag eine Fatalität über diesem Krieg, der nicht nur die in diesem Drama Handelnden als Opfer traf, sondern Frankreich immer wieder unter der Oberfläche zu Fragen drängte, auf die keine Antworten gegeben würden. Es fehlte, wir sprechen es offen aus, der Mut zur absoluten Wahrheit und der Wille, die Tatsachen mit den Möglichkeiten in Einklang zu bringen. Einer der wenigen, der immer wieder durch eine Art Kassandraruf das französische Parlament auf die Gefahren aufmerksam machte, war Mendes- France. Er hat diese Gefahren nunmehr liquidiert.

Entspricht der Waffenstillstand den Inter- “sseri Frankreichs und damit der westlichen Welt? Es muß ehrlich bekannt werden, daß die westliche Welt eine schwere Niederlage hinnehmen mußte; Millionen von Menschen wurden dem östlichen Universum angegliedert, blühende katholische Bischofsitze sind der Gnade eines Siegers ausgeliefert — und schon kommen die ersten Nachrichten von Kirchen- und Priesterverfolgungen. Wieder einmal erwies sich der Osten als ein Meister des diplomatischen Spieles. Aber der Mut und die Entschlußkraft, besonders jedoch das Wagnis, neuen Termin für die Erreichung des gesteckten Zieles anzugeben, werden Mendes-France bis auf weiteres großen Einfluß in der französischen Politik sichern.

Um diesen Mann beginnt sich ein Mythos zu bilden, und man wird sich, fragen, wo die Wirklichkeit beginnt. Dieser Mythos wurde von Zeitungen, beispielsweise dem „Express“, begründet. Diese Wochenzeitschrift gewann sehr bald starkes Echo in den Kreisen der Intelligenz, der hohen Verwaltung und des Parlaments. „France-Soir“ und „Le Monde“ unterstützen den Regierungschef in einer Weise, die vorher nur dem General de Gaulle zugute gekommen war. Man suchte eine Inkarnation aller Aspirationen und Hoffnungen, aber an Stelle eines autoritären Führers trat die bestechende, jedoch kühle Dialektik eines Wirtschaftsfachmannes. Die Umgebung Mendes - Frances verstand es weiter, eine psychologisch großartige Offensive zu starten, die es Frankreich gestattete, diesen Ausgleich hinzunehmen und daraus noch eine neue Erwartung zu schöpfen. Gegenüber der Politik der Woche steht eine Politik der Tatsachen, und das sprengt den Rahmen der IV. Republik.

Mendes-France verstand es, sich eine Equipe junger, dynamischer Abgeordneter zu sammeln. Ihre Aktion gleicht dem therapeutischen Schock und hat nichts mit der Abwägung parlamentarischer Mehrheit zu tun. In dieser Mehrheit befindet sich seit 1947 erstmalig wieder die Kommunistische Partei, obwohl ihre Mitarbeit weder verlangt noch angenommen wurde. Gewisse Kreise des Auslandes hatten nach der Ueber- nahme der Regierungsgeschäfte durch Mendes- France die Furcht ausgesprochen, daß eine Veränderung der Alliancen in den Bereich des Möglichen gerückt sei. Damit hätte sich die weltpolitische Lage an einem Schwerpunkt maßgebend verändert. Daß Mendes-France die Vereinigten Staaten von der Ehrlichkeit seiner Absichten bisher überzeugen konnte, mag sein politisches Meisterstück gewesen sein. Allerdings werden jene Kräfte, welche die schicksalshafte Verknüpfung der westlichen Welt nicht erkennen wollen, alles daransetzen, um den zweiten Wettlauf mit der Zeit, nämlich die Ratifizierung der EVG, hinauszuzögern. Amerika und England haben dehTS. August als Datum genannt. .

Wenn ein französischer Staatsmann die Ratifizierung der EVG erreichen kann, so ist dies derzeit nur Mendes-France. Er führte den Dialog zwischen den EVG-freundlichen und -feindlichen Ministern ein, ohne sich selbst bisher zu exponieren. Die EVG ist jedoch einer der Schlüsselpunkte der französischen Innenpolitik. Es wird wohl immer ein Rätsel bleiben, warum alle Regierungen vor Mendes-France die Texte des Vertrages nicht dem Parlament vorgelegt haben. War es die Besorgnis, eine endgültige Antwort zu erhalten, die entweder außenpolitisch oder innenpolitisch schwerwiegende Folgen nach sich gezogen hätte? War es der Zweifel am Werte dieser Konstruktion oder nur die Unbeweglichkeit eines erstarrten Verwaltungsapparats?

Mendes-France hatte es in Genf vermieden, für den Waffenstillstand einen anderen Preis zu zahlen als jenen, der durch die militärische Situation erforderlich war. Werden aber nicht später neue Forderungen gestellt und mit Hinblick auf die moralischen Verpflichtungen in Genf der Verzicht auf die EVG verlangt werden? Der, Verzicht auf die europäische Integration hieße, daß Europa- sich selbst- aufgibt und nur noch im Konnex mit einer der Weltmächte zu leben gedenkt. Wenn die beiden Weltmächte verstehen könnten, daß die Konsolidierung Europas eine Stärkung des so heiß errungenen Friedens bedeutet, könnten die in Europa schwebenden Fragen einer Lösung nähergebracht werden. In vielem liegt auch hier die Entscheidung bei der neuen französischen Regie- rung. Allerdings bedarf es nach dem langen Zögern und zu einem Zeitpunkt, da sich wieder der Nationalismus zu entwickeln beginnt, einer spektakulären Entscheidung, um die Europäische Idee zu retten. Die Fortführung der von Frankreich angeregten Integrationspolitik kann nur durch Paris erfolgen. Dazu gehört, daß Frankreich auch seine wirtschaftlichen Fragen zu lösen beginnt, und dies ist neben Indochina und EVG der dritte Punkt des Regierungsprogrammes.

Vergessen wir nicht, daß die Liberalisierung in Frankreich nur sehr geringe Fortschritte gemacht hat. Der erste Monnet-Plan hat wohl eine Linie aufgezeigt, vermochte jedoch nicht die Struktur der französischen Wirtschaft zu ändern. Die Maßnahmen auf diesem Gebiet — und es handelt sich hierbei um

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