6554502-1948_14_06.jpg

Die Rettung des französischen Kolonialreiches

Werbung
Werbung
Werbung

Paris, 20. März

Mehr noch als andere Rechtsgebiete kennt das Völkerrecht die Neu- und Umbildung von juristischen Begriffen. Zu diesen Neugebilden gehört auch die „Union Fran- ę a i s e", worunter man, vergröbert gesprochen, das französische Kolonialreich versteht. Der Unterschied zu den früheren Kolonien ist nicht bloß in einer rein optisch . berechneten Bezeichnungsänderung gelegen; sicher spielte auch diese eine sehr gewichtige Rolle, denn im letzten Weltkrieg traten für die Regierung De Gaulle, die ursprünglich nur kleine Teile (Äquatorialafrika), später aber mit fortschreitender Schwächung des Vichy-Regimes den weitaus größten Teil der französischen Uberseebesitzungen beherrschte, einleuchtende Notwendigkeiten auf, das Wort „Kolonie" zu vermeiden. Aber weit über diesen Zweckmäßigkeitsgrund hinaus war Frankreich bei Kriegsende gezwungen, neben der Neuordnung der Verhältnisse im Mutterland auch an eine solche in den Uberseebesitzungen zu schreiten. Es entschloß sich, den offen oder versteckt auftretenden Abfallserscheinungcn dadurch zu begegnen, daß es die gesamten Überseebesitzungen in die Form einer neuen völkerrechtlichen Gemeinschaft zusammenschloß, die nach außen hin zwar nur durch Frankreich vertreten wird, nach innen jedoch weitgehende Autonomie und — wenigstens de jure — Gleichberechtigung mit Frankreich hat. Dieses Gebilde nennt man Union Franęaise (Französische Union).

Man kann nicht behaupten, daß die Aussichten Frankreichs, sich auf diese Weise den bestimmenden Einfluß auf sein einstiges Kolonialreich zu bewahren, sehr günstig waren. Dazu war die Gesamtlage des Mutterlandes zu schlecht: ein trotz des alliierten Sieges in vieler Hinsicht verlorener Krieg, Währungskalamitäten (die Mehrzahl der französischen Kolonien hat den Franc des Mutterlandes als Währung), durch die politische Säuberung ein Mangel an fähigen Beamten bei Weiterbestehen von Gegensätzen zwischen Vichy- und De-Gaulle- Anhängern unter den zahlenmäßig ohnehin wenigen Franzosen der Überseegebiete, kein Schiffsraum, Ausbleiben jeglicher materieller Hilfe aus dem Mutterland, ganz unzureichende militärisch" Sicherung der Gebiete, kommunistische Propaganda und Abfallbewegung. Es ist nicht verwunderlich daß zunächst alle Anzeichen auf eine rasche Liquidierung des französischen Kolonialreiches hindeuteten, dies um so mehr, als von allen Kolonialverwaltungen die französische die schlechtest organisierte war und am stärksten auf rein wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonialgebine abzielte; auch die Behandlung der Eingeborenen ließ sehr viel zu wünschen übrig.

Am gründlichsten schien die französische Herrschaft in der weitest entfernten Kolonie, in Indochina, verlorenzugehen. Diese hatte sich am längsten bei Vichy gehalten, da das mit Deutschland verbündete Japan eine latente Drohung darstellte. Auf die Dauer begnügte sich Japan aber nicht mit einer bloß freundschaftlichen Neutralität, sondern besetzte gegen Kriegsende (9. März 1945) unter dem Titel eines Militärbündnisses die ganze Kolonie Als die Japaner nach verlorenem Krieg das Land verlassen mußten (2. September 1945), hinterließen sie ungeheure Waffenarsenale, zu deren Übernahme nicht etwa die Franzosen, sondern die in chinesischen und japanischen

Armeeinheiten geschulten Annamiten kommunistischer Färbung bereitstanden. Versuche der französischen Behörden, diese Entwicklung aufzuhalten, führten zu keinem praktischen Ergebnis, da via facti ein kommunistischer Staat. Viet-Nam, unter der Leitung von Ho Chi M i n h (Führer der Partei des Viet-Minh) entstanden war, der zwar mit Frankreich einen modus vivendi vereinbarte (provisorische Charta Indochinas vom 6. März 1946), diesen aber nur zum Ausbau einer schlagkräftigen

Armee benützte und dann, beginnend mit der Oktoberrevolte des Jahres 1946, die

Franzosen unter Grausamkeiten praktisdi aus fast ganz Indodiina hinausjagte.

In Madagaskar kam es unter kommunistischer Führung schon 1946 zu aufruhrartigen Unruhen, die aber von der französischen Verwaltung nicht ernst genommen wurden, bis Anfang 1947 die vier wichtigsten Städte der Insel angegriffen wurden und die Aufständischen praktisch die ganze Kolonie in ihre Verwaltung nahmen.

Die französischen Niederlassungen in I n- dien (Pondichery, Chandernagor, Yanaon, Karikai und Mahč, zusammen etwa 320.000 Einwohner) mußten in dem Augenblick als verloren gelten, als die Engländer sidi aus Indien zurückzogen. Schon vorher hatte Frankreich juf die ..Logen" (Zollfreizonen im britischen Gebiet Indiens) verzichtet. Nun gelang es den indischen Nationalisten unter Führung des Kommunisten S u b b a y a bald, in Pondichery die Macht an sich zu nehmen und die Flagjen Pakistans und Hindustans zu hissen (15. August 1947). Mit Pondichery, der Hauptniederlassung, waren die restlichen, weit auseinanderliegenden Besitzungen in Indien ebenfalls abzu- sdi reiben.

Nodi bedrohlicher, weil wichtigste Außenposten Frankreichs berührend, war die Entwicklung in Nordafrika. Hier hat vor allem die Flucht Abd-el-Krims im Vorjahr neue Komplikationen hervorgerufen. Wie bekannt, begab sich Abd-el- Krim nach Kairo als dem Mittelpunkt der neuen panarabischen Bewegung, deren Ziel die völlige Beseitigung jeglicher europäischer Herrschaft im arabischen Kulturbereich ist. Ein Manifest des marokkanischen Anführers, das in einer von Abd-el-Krim erlassenen Auslegung (Interview im „Nuovo Giornale d’Italia" vom 15. Februar 1948) offiziell interpretiert wird, besagt, daß die neugegründete „Arabische Liga“ für Marokko, Algerien und Tunesien nichts anderes anerkenne als vollständige Freiheit, und müßte diese mit Waffengewalt erkämpft werden. Es gäbe in Zu- ' kunft nur noch eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Europa und Amerika. Wenn die europäischen Mächte, Frankreich ebenso wie Großbritannien und Italien, nicht aufhörten, die arabische Welt als Kolonien zu betrachten, so würden die Kommunisten die daraus entstehenden Konflikte für ihre Zwecke ausnützen; der Betrug an den Kolonialvölkern werde bald zum dritten Weltkrieg führen.

In' Marokka im besonderen ist seit der Rede Roosevelts in Anfa (Jänner 1943) eine verstärkte Unabhängigkeitsbewegung zu beobachten, da Roosevelt in dieser Rede zu einer solchen Bewegung sich wohlwollend stellte. Der Sultan von Marokko, bis dahin ein getreuer Vasall Frankreichs, wurde plötzlich schwierig und weigerte sich — zum erstenmal seit dem Marokko- Abkommen von 1912 — Verwaltungserlässe zu bestätigen, die der Generalresident vorlegte. Im April 1947 hielt der Sultan in Tanger eine aufsehenerregende Rede, die allgemein als der Anfang vom Ende der französischen Herrschaft in Marokko angesehen wurde.

Auch in Französisch-Äquatorial- und Westafrika zeigten sich, wenn auch in geringerem Ausmaß, Schwierigkeiten (vergleiche „La revue de Presse“ vom 16. Jänner 1948).

In diesen zweifellos gefahrdrohenden Monaten des Jahres 1947 hat sich über- rasdienderweise alles geändert. Nicht, daß die Union Franęaise schon gesichert wäre, aber sie ist wenigstens eine Realität geworden und hat begründete Aussicht, Frankreich zu erhalten, was England sich nicht zu retten vermochte: sein Kolonialreich. Und wieso war dies möglich? Knapp ausgedrückt: weil man mit

Nachgiebigkeit um jeden Preis Schluß machte und bei Anerkennung notwendiger Verwaltungsreformen und Autonomievorschläge betonte, daß ieder gewaltsamen Loslösung mit Gewalt begegnet werden würde. Begonnen hat diese neue Politik in Indochina, wo ja bekanntlich offen der Krieg ausbrach und heute noch andauert. Die Parteiarmee des Viet-Minh, die über die kommunistischen Nadibarprovinzen Chinas starke Unterstützung fand und in ihren besten Zeiten auf 50.000 Mann geschätzt wurde, erlitt nach anfänglichen Erfolgen in steigendem Maße Verluste, je energischer

Frankreich sich zu bewaffnetem Widerstand entschloß. Gegenwärtig haben die französischen Streitkräfte unter dem neuen Gouverneur Bollaert den größeren Teil der verlorengegangenen Gebiete wiedergewonnen, während der Viet-Minh in der Hauptsache noch Gelände im südlichster/ Kambodscha und bei Vinh in Annam beherrscht. Die Beziehungen zu Ho Chi Minh wurden abgebrochen, nachdem er die geschlossenen Verträge verletzt hatte; sein Delegierter in Frankreich, Tran Ngoc Danh, wurde Anfang 1948 in Haft genommen. Hingegen bahnten sich noch heute andauernde Verhandlungen mit dem Exkaiser von Annam, B a o D ä i, an, die teils in London, teils in Paris und der Schweiz, teils in der Bucht von Along stattfanden und mindestens den Erfolg zu haben scheinen, daß sich in Indochina verschiedene Gruppen bilden, wovon jene um Bao Dai bereit sein dürfte, Indochina wenigstens in der Union Franęaise zu belassen. Nach einem eingehenden Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung“ aus Saigon (17. Jänner 1948) ist Bao Dai zwar nicht gewillt, die französischen Zugeständnisse an Viet Nam einschränken zu lassen, aber er dürfte immerhin halten, was Ho Chi Minh versprach und niemals hielt. Indessen geht die Wiedereroberung Indochinas zu Ende.

Mit der Ernennung eines energischeren Gouverneurs in Madagaskar (Pierre de Chevignč) ist die Ruhe auch dort wiedergekehrt. Verwaltungsreformen geben der Insel eine gewisse Autonomie, doch wurde allen gewaltsamen Aktionen energisch ein Ende gemacht. In ähnlicher Weise gelang es inFranzösisch-Indien durch eine Ende August erlassene Verwaltungsreform (Verordnung vom 12. August 1947) mit Ausführungsbestimmungen vom 17. November 1947, den Aufständischen Subbayas den Boden zu entziehen, indem die von vielen Seiten geforderte Autonomie jeder Niederlassung („assemblee municipale“ für jede Stadt) erlassen wurde. Da Pandit Nehru gleichzeitig in einer Note an die französische Regierung sich von Subbaya distanzierte und den Wunsch äußerte, die französischen Niederlassungen möchten als Eingangspforten europäischer Kultur und als Möglichkeiten zur Erlernung der französischen Sprache für ganz Indien dienen, verlor Subbaya jegliches Prestige und heute sind diese Niederlassungen merkwürdigerweise am festesten wieder an die Union Franęaise gebunden, obwohl Frankreich dort so gut wie keine Truppen hat.

In Marokko bezog nach Abberufung des früheren nachgiebigeren Generalresidenten in der Person des Generals Juin ein neuer Mann klare Linien und es gelang ihm gerade dadurch — nach einem kurzen Zwischenfall infolge eines Briefes des Sultans vom 3. Dezember 1947 — das verlorengegangene gute Verhältnis zu dem einflußreichen Herrscher wieder herzustellen. Das Ergebnis ist eine tiefgreifende Reform des scherifischen Statuts, wodurch eine gegenseitige engere Zusammenarbeit von Muselmanen und Franzosen in allen wichtigen Ämtern gewährleistet ist. Was aber die Aufrufe Abd-el-Krims anlangt, die bis zur Gründung eines „Nordafrikanischen Befreiungskomitees“ mit dem Sitz in Kairo führten, so wird berichtet, daß angesichts der parteipolitischen Spaltung der Eingeborenen Nordafrikas selbst die Rückwirkungen nur beschränkten Umfanges sind. Die Abweisung der UNO-Beschwerde des Istiqlal (nationalistische Bewegung in Marokko) durch die Amerikaner bedeutete auch einen Dämpfer.

Frankreich ist, so versichert man nicht nur am Quai d’Orsay, sondern auch in den mit der Kolonialverwaltung direkt betrauten und vertrauten Kreisen, aus dem Stadium der Lethargie und des Gewähren- lassens in jenes reformatorischer Festigkeit eingetreten und hat damit die zweite Runde im Kampf um sein Weltreich gewonnen. Während Großbritannien zum erstenmal seit dem Verlust der nordamerikanischen Kolönien einen Teil seines Empires gänzlich aufgab (Birmanischer Unabhängigkeitsvertrag vom 17. Oktober 1947, unterzeichnet von Attlee und Thakm Nu) und andere Gebiete (Indien) in ein nur mehr sehr loses Dominienstatut entließ, vermochte Frankreich überraschenderweise seine Überseebesitzungen fester an sich zu binden. Ob dies auf Dauer gelingen wird, hängt nicht von Frankreich allein ab. Aber es hat — zum Unterschied vom Labour- England — offenbar den Willen dazu.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung