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Es begann mit einem Husarenstück

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Mit einer Anteilnahme und Leidenschaft, wie sie Paris und Frankreich seit langem nicht mehr gekannt, wurden die Ereignisse in Ungarn verfolgt und kommentiert. Für einen Augenblick schienen die Gefahren in Nahost und in Afrika zurückzutreten. Die überraschende Gefangennahme der algerischen Rebellenführer beleuchtete jedoch blitzartig die Dramatik der Situation. Diese Arretierung wurde im allgemeinen begrüßt und als eine Art Husarenstück gefeiert, obwohl die völkerrechtliche Seite dieser an einen Polizeiroman erinnernden Aktion zu diskutieren ist.

Der Sultan Mohammed V. und der Chef der tunesischen Regierung, Bourghiba, hatten zur Vorbereitung ihres Treffens in Tunis und unter stillschweigender Duldung französischer Stellen Kontakte mit den Rebellen aufgenommen, um die Möglichkeit eines Friedens in Algerien zu sondieren. Die Motive dazu waren vor allem eine gewisse Eifersucht gegenüber dem sich als Schirmherr aufspielenden Aegypten sowie die Angst, in einem Nasserischen Großraum eingegliedert zu werden. Darüber hinaus wurde jedoch der Wunsch der beiden arabischen Staatsmänner deutlich, einen schwärenden Abszeß zu beseitigen, der immer mehr die innere Ordnung ihrer Länder gefährdet. So trafen die militärischen und politischen Führer des Aufstandes in Rabat ein und wurden auf ihrem Rückflug vom französischen militärischen Sicherheitsdienst verhaftet. Unter den umfangreichen Dokumenten, die den französischen Dienststellen in die Hände fielen, wurden Unterlagen entdeckt, die eindeutig bewiesen, daß die Regierung Nasser in systematischer Weise die Aufständischen nicht nur mit Geld und durch Radiosendungen unterstützte, sondern auch in maßgebender Weise die militärische Ausbildung vornahm.

Hätte es zusätzlicher Beweise bedurft, so wurden diese wenige Zeit später in der eindeutigsten Form erbracht. Patrouillenboote kaperten vor der algerischen Küste ein Schiff, die „Athos“, welche von Aegypten nach Algerien unterwegs war, vollgepropft mit Waffen aller Art, meistens tschechischer Herkunft, und die von der Regierung Nasser den Rebellen zur Verfügung gestellt wurden.

Die französische Regierung mußte also in immer stärkerem Ausmaß mit einem Gegner rechnen, der aller Ansicht nach sich aktiv in das nordafrikanische Geschehen einzuschalten gedachte.

Als am 27. Juli Nasser den Suezkanal nationalisierte, sahen sich England und Frankreich an einer der vitalsten Linien ihrer Volkswirtschaft bedroht. Sie wagten jedoch nicht, eine sofortige militärische Antwort zu geben, obwohl diese psychologisch von beiden Ländern und wahrscheinlich auch von anderen Staaten gebilligt worden wäre. England und Frankreich waren darauf nicht vorbereitet, und beide Mächte hofften, ein internationales Mandat zu erhalten. In unzähligen Konferenzen und Kommissionen wurde das Suezproblem breitgetreten und zerredet. Es kristallisierte sich jedoch keine brauchbare Methode heraus, um eine Garantie der freien Schiffahrt durch den Kanal zu erlangen. Wir dürfen nicht vergessen, daß den israelischen Schiffen die Einfahrt gesperrt war. Nachdem sich auch die höchsten internationalen Institutionen unfähig erwiesen, eine brauchbare Lösung durchzusetzen, wurde von den beiden Regierungen ein Plan ausgearbeitet und die schwere Kriegsmaschine angedreht. Der Entschluß, das Suezproblem durch ein Eingreifen der Armeen zu lösen, wurde daher nicht erst in den letzten Tagen oder Stunden gefaßt, sondern es ist klar, daß schon viele Wochen vor den ungarischen Ereignissen eine Entscheidung gefaßt worden war. Die Karte Israel war ebenfalls noch nicht ausgespielt worden. Dieser junge Staat fühlte sich bedroht. Die Blockade durch die arabischen Staaten legte sich als ein eiserner Ring um dieses eigenartige kleine Staatsgebilde, und Staatschef Nasser hatte nicht nur einmal verkündet, daß er Israel ersticken oder, nach einer klassischen Terminologie, „ausradieren“ werde. Es steht fest, daß Besprechungen zwischen dem französischen und dem israelischen Generalstab abgehalten wurden und der Angriff Israels mit den Engländern und. Franzosen koordiniert werden sollte. Trotzdem löste Israel die militärischen Maßnahmen früher als vorgesehen aus, um die Ereignisse in Mitteleuropa auszunützen. Bei den vielfach scharfen und verständlichen Kritiken der Handlungen Israels und der Westmächte darf ein Faktor jedoch nicht übersehen werden: Nasser wie einige andere arabische Politiker wurden ein Instrument Moskaus, welches dadurch die ganze Nahostposition aufzurollen hoffte. Diese Gebiete wurden durch russische Handelsdelegationen mit Waffen versorgt. Instruktoren und Agenten überschwemmten die Länder, und was weder dem Zaren noch Stalin bisher gelungen war, nämlich im östlichen Mittelmeer Fuß zu fassen, hat in relativ kurzer Zeit die derzeitige russische Führung verwirklicht.

Das. vorzeitige Auslösen der militärischen Aktion Israels nötigte England und Frankreich ebenfalls, ihr Dispositiv in Bewegung zu setzen. Die französische öffentliche Meinung, die durch die angeführten Vorfälle und die ständigen Sticheleien Nassers auf das tiefste aufgebracht war, billigte fast ausnahmslos den Schritt der Regierung Mollet. Selbst der berühmte kleine Mann von der Straße stieß ein befreiendes „Endlich“ aus. Frankreich hat viel weniger gezögert als England, sich einer sogenannten Polizeiaktion anzuschließen. Die tiefen Zusammenhänge oder die Rückwirkungen auf die Ereignisse in Ungarn wurden nur von den wenigsten erkannt. Endlich sollten die ständigen Demütigungen durch einen maßlos gewordenen Diktator aufhören, die permanente Bedrohung, unwürdig einer Großmacht, beendet werden. Nur die Kommunisten klagten in den schärfsten Worten die Aggression an, während sie die russische Intervention in Ungarn bagatellisierten oder rechtfertigten. Auch Mendes-France stieß seine gewohnten Kassandrarufe aus. Nachdem sich jedoch die Radikale Partei am Kongreß in Lyon neuerlich gespalten hatte, folgten nur die wenigsten Abgeordneten seinen Argumenten. Die Poujade-Bewegung, welche sich auf Befehl ihres Gründers gegen den Angriff am Suezkanal aussprach, mußte ebenfalls die Demission einiger ihrer Abgeordneten verzeichnen.

Im Gegensatz zu Eden konnte Mollet seine politische Stellung beachtlich stärken. Jede Volksfront oder Aktionseinheit zwischen Sozialisten und Kommunisten ist künftighin ausgeschlossen, und eine neue Mehrheit bildete sich spontan, welche die unabhängige Rechte, das MRP und die SFIO einschließt, also jene Mehrheit, die in der derzeitigen Struktur des Parlaments als einzige eine politische Stabilität verspricht. Wird diese innenpolitische Neugruppierung als positiv gewertet, so müssen die Folgen des militärischen Angriffes mit allergrößter Sorge beurteilt werden. Das Ziel der Aktion bestand darin, die Kontrolle des Suezkanals wieder zu erlangen, und im Unterbewußtsein hoffte Frankreich, daß eine innere Revolte in Aegypten Nasser hinwegschwemmen und Naguib an die Macht bringen werde. Auf der negativen Seite ist jedoch eine derartige Fülle von Nachteilen verzeichnet, daß unseres Erachtens allein der moralische Verlust, den der Westen erlitten hat, alle Vorteile aufwiegt.

Die ungarische Tragödie wäre wahrscheinlich in diesem Ausmaß nie möglich geworden, wenn die Westmächte der kommunistischen Propaganda nicht so ein ausgezeichnetes Material geliefert hätten. Der Eindruck auf die arabischen und asiatischen Staaten, die sich in ihrer neugeborenen Souveränität bedroht fühlten, war ein ungeheurer, und es liegen Beweise vor, daß sich der kommunistische Einfluß in Nahost in immer stärkerem Ausmaß verbreitet. Die Einheit der westlichen Welt wurde auf das schwerste erschüttert, der Atlantikpakt in Frage gestellt und auf den Beziehungen zwischen Frankreich und Amerika liegen schwere Schatten. Die UNO erhielt einen beinahe tödlichen Stoß. Die Westmächte schienen zu demonstrieren, daß machtpolitisches Denken stärker wiege als die internationale Moral. Die juridische Motivierung des Eingreifens am Suezkanal ist in der Tat außergewöhnlich schwach. Die Spannungen in Tunis und Marokko haben sich vervielfacht. Die Terrorakte gegen Europäer mehren sich in erschreckendem Maß. Die Verurteilung im übrigen Europa, die scharfen Reaktionen in den USA und die Einsicht, daß der Leidensweg des ungarischen Volkes dadurch verlängert würde, haben die Regierungen in Paris und London bewogen, die militärischen Maßnahmen zu stoppen und der Entsendung von UNO-Truppen beizustimmen.

Das Prestige Nassers ist wohl angeschlagen, doch er bleibt weiter ein gefährlicher Faktor im Spiel der Kräfte des Nahostens, und es ist unnötig hinzuzufügen, daß die Gefahr von dieser Seite aus in keiner Weise abgeschwächt werden konnte.

Fast gleichzeitig richtete Mollet einen pathetischen Appell an die Algerier, an Stelle des Bruderkrieges um eine politische Lösung zu ringen, doch sein . Ruf verhallte ungehört. Jederzeit kann in Nordafrika in einer Art Kettenreaktion eine Explosion der politischen Leidenschaften erfolgen und das Präludium für eine noch gefährlichere Weltkrise darstellen.

Mit tiefem Ernst und Erschütterung muß jeder politische Beobachter und jeder Europäer eine Situation beurteilen, in der die Schwäche und Unfähigkeit Europas, die Ereignisse zu meistern, so deutlich wurde. Soll nicht eine weitere Schwächung der westlichen Welt erfolgen, so sind sofortige Maßnahmen einzuleiten. An Stelle steriler Konferenzen, nationaler oder persönlicher Ressentiments soll die Ueber-zeugung treten, daß kein Staat Europas, wie groß oder klein er auch sein mag, den Zusammenbruch des westlichen Staatssystems überdauern kann. Die europäische Politik muß mit viel größerem Eifer alle Möglichkeiten suchen, jene Einheit herzustellen, die uns derzeit in so gefährlichem Maß fehlt.

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