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„Der General hat die Menschen wirklich verachtet..

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Jeder Mitkämpfer General de Gaulles beansprucht den Ehrentitel „Der erste Gaullist“, aber nur einer kann ihn historisch belegen. Es ist dies Jacques Soustelle, geboren am 3. Februar 1912 als Sohn protestantischer Eltern in Montpellier.

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Jeder Mitkämpfer General de Gaulles beansprucht den Ehrentitel „Der erste Gaullist“, aber nur einer kann ihn historisch belegen. Es ist dies Jacques Soustelle, geboren am 3. Februar 1912 als Sohn protestantischer Eltern in Montpellier.

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Nach Studien in Lyon und an der Sorbonne promovierte er 1937 mit linguistischen und ethnologischen Fragen. Er gilt als einer der besten Kenner der vor- kolumbischen Kulturen und verfaßte zahlreiche Werke über die altmexikanischen Zivilisationen. Jacques Soustelle, der bereits vor dem Kriege mit dem schon damals berühmten Dichter Mal- raux antifaschistische Organisationen leitete, begegnete 1940 in London de Gaulle und wurde Chef seines Geheimdienstes während des gesamten zweiten Weltkrieges. Er zählte zu den aktivsten politischen Persönlichkeiten in der Umgebung des Generals, wurde Generalsekretär der von de Gaulle gegründeten Sammel- bewegiung RPF 1947 und schuf

FURCHE: Sie haben kürzlich eine politische Partei gegründet, die sich zum „Zentrum“ bekennt. Geben Sie einer Zentrumspartei außerhalb der gegenwärtigen Mehrheit eine Chance? SOUSTELLE: Zu dieser Frage ist eine Nuancierung notwendig. Wir haben keine Partei, sondern eine politische Bewegung ins Leben gerufen. Dieser Unterschied erscheint mir wichtig. Unsere Bewegung steht mehreren Parteien offen. Bis zu den nächsten Wahlen 1973 schaffen wir vielleicht eine Partei, aber wir haben diesbezüglich noch keine Doktrin ausgearbeitet. Unsere Bewegung spricht die Wähler der Mitte an. Wir lehnen jede Verbindung mit der Linken ab, obwohl ich persönlich nicht die geringste Abneigung gegenüber Mitterand oder Savary habe. Ebenfalls ist eine Annäherung an die extremen Rechten oder faschistischen, ja

1958 die noch jetzt mit absoluter Mehrheit ausgestattete gaullistische Partei UDR, damals UNR. Als Hoher Kommissar in Algerien, von der Regierung Mendes- France entsandt, lernte er sämtliche Probleme des algerischen Aufstandes und eines subversiven Krieges kennen. Jacques Soustelle wurde energischer Vertreter des Konzeptes eines „französischen Algerien“ und bekämpfte die Politik des Gründers der V. Republik, dem er durch seine aktive Teilnahme an der Revolte der weißen Siedler und der Armee am 13. Mal 1958 zur neuerlichen Macht verholfen hatte. 1960 schied er aus der Regierung und mußte bis Oktober 1968 im Exü leben. In dieser Zeit verfaßte er politische und faschistoiden Richtungen ausgeschlossen. Die gegenwärtige Mehrheit ist keine echte. Nach dem Wahlsystem erlangte diese Mehrheit zwar 1968 63,8 Prozent der Sitze in der Nationalversammlung; aber in den Gemeinden und auf dem Lande konnte sie in Wirklichkeit nur 18,3 Prozent vereinigen. Ich weise auf die jetzigen Gemeinderatswahlen hin. In der Stadt Lyon wurde in neun Bezirken je eine Liste des Bürgermeisters aufgestellt. In meinem Bezirk hat die UDR keine Kandidaten bekanntgegeben. Von 61 Gemeinderäten zählt die UDR nur neun. Ich glaube an eine neue Mehrheit und sehe unsere Rolle darin, daß diese so schnell wie möglich entsteht. Diese wird aus Abgeordneten der derzeitigen Majoritäten und aus Persönlichkeiten der gegenwärtigen Opposition zusammengesetzt sein. Natürlich ist es völlig ausge-

ethnologische Werke, unter anderem „Der Traum von Frankreichs Größe, 28 Jahre Gaullismus“. Nach seiner Rückkehr gründete er im April 1970 einen politischen Klub: „Die Ideen, die Menschen und die Tatsachen.“ Diesen Klub verwandelte Jacques Soustelle vor kurzem in eine Bewegung, die in Versailles am 23. und 24. Jänner 1971 ihren Kongreß abhielt Jacques Soustelle wurde im ersten Wahlgang der Gemeinderatswahlen März 1971 in der Stadt Lyon triumphal gewählt. Seine Nominierung auf einer Liste des Bürgermeisters Pradel führte zu schweren Spannungen innerhalb des gaullistischen Lagers. Der Schwager General de Gaulles und der frühere Innen- und Unterrichtsminister Fouchet verließen wegen der Aufstellung Soustelles die Samimelpartei.

Der Pariser FURCHE-Korrespon- dent Alexander Karell sprach am 24. März mit Jacques Soustelle im Hauptquartier der Partei in der Avenue Neuilly.

schlossen, daß diese so konstituierte Mehrheit Kommunisten aufnimmt. Unsere Zukunft ist durch zwei Faktoren bestimmt: De Gaulle verfügte bei seinem Abgang über keine Macht. Er ist inzwischen gestorben. Dies erleichtert uns, bei den nächsten Parlamentswahlen der Öffentlichkeit eine neue Koalition vorzustellen.

FURCHE: Andrė Malraux erklärte, ein Gaullismus ohne General de Gaulle sei unmöglich. Und was ist Ihre Meinung? SOUSTELLE: Malraux hat bestimmt recht. Der Gaullismus, so wie er war, ist ohne den General unmöglich Der sogenannte Neo- Gaullismus entwickelte seit zehn Jahren keine Doktrin und keine Linie. Alle Entscheidungen hingen vom General ab. Hätte de Gaulle gesagt „Heute marschieren wir gegen den Osten!“, hätten alle Gaullisten geantwor tet: „Wir marschieren!“ — „Wir sind Freunde Israels!“ —„Selbstverständlich!“ — „Ein Waffenembargo gegen Israel!“ — „Das ist auch selbstverständlich!“ Am besten kann ich durch eine Anekdote den Neo-Gaullismus illustrieren. Der General fragt seinen Minister Debrė: „Welche Stunde ist es?“ Antwortet Debrė: „Die Stunde, die Sie wünschen, mein General!“ Wir, die engsten Mitarbeiter de Gaulles, wollten eine politische Doktrin schaffen. Wäre diese zustande gekommen, existierte heute ein Gaullismus wie der Sozialismus. Aber alles beruhte im letzten auf dem General. Und dieser hat die Menschen wirklich verachtet…

FURCHE: Man nennt Sie den ersten Gaullisten. Was ist Ihr Urteil über den General im Lichte der beiden Bände seiner Memoiren?

SOUSTELLE: Ich habe den Stil des Generals und auch seine Kunst, die französische Sprache zu handhaben, nicht wiedergefun- den. Den beiden Werken ist nichts hinzuzufügen. Sie sind historisch gesehen in ihrer Gesamtheit wertlos und nur in einigen Zeilen für die Geschichte aufschlußreich. Seine Einstellung gegenüber den Menschen war in den letzten Jahren haßerfüllt. Im ersten Band verurteilt er alle Parteien, die 1945 gegen ihn gewesen sind. Seine Behauptung ist vollkommen falsch. Außer den Kommunisten haben alle Parteien, selbst die Sozialisten, für ihn gestimmt. Er verfügte über eine stabile politische Mehrheit. Ein Senator prägte damals bezüglich des Re gimes das Wort von einer ,,pl«- biszitären Monokratie“. Bei geglücktem Referendum 1969 hätten sich diese Tendenzen verstärkt. Der Senat als retardierendes Moment wäre vernichtet worden. Der Staatschef hätte dann selbst seinen Nachfolger bestimmen und mit einfacher Parlamentsmehrheit die Verfassung ändern können.

FURCHE: Nach Ihren letzten Erklärungen waren Sie kein überzeugter Europäer und glaubten an eine mehrrassige Gemeinschaft zwischen Europa und Afrika. Ist eine solche europäisch-afrikanische Union ein Traum oder auch heute noch eine wirtschaftliche und politische Realität?

SOUSTELLE: In den Jahren um 1950 hoffte ich auf eine mehrrassige Gemeinschaft zwischen Europa und Afrika. Es kam dann zur Auflösung der französischen Union, die afrikanischen Staaten gewannen ihre Unabhängigkeit. Ich mußte daher meine Meinung ändern. Heute trete ich absolut für eine europäische Union ein, der ich konföderalen Charakter zuordne. Allerdings wünsche ich die sofortige Bildung eines europäischen Parlaments, welches dieselbe Funktion hätte, wie sie der Bundesrat der deutschen Bundesrepublik ausübt. Dieser europäische Bundesrat soll durch allgemeine Wahlen konstituiert werden. Ich vertrete auch die Idee einer europäischen Exekutive, welche ihre Entscheidungen mehrheitlich fällt und nicht einstimmig, wie dies der Präsident der Französischen Republik, Georges Pompidou, vorschlägt.

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