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Tragödie des Georges Bidault

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Der französischen Polizei ist vor wenigen Tagen ein Haftbefehl übergeben worden, dessen Steckbrief sich wahrscheinlich erübrigte. Im Zeitalter der Bildpresse und der Filmaktualitäten dürfen wohl die äußeren Merkmale eines früheren Ministerpräsidenten als bekannt vorausgesetzt werden, namentlich dann, wenn es sich um eine Persönlichkeit handelt, die in dramatischen Zeitläufen an der Spitze des Staates gestanden hat. Weniger einprägsam sind dagegen die Umstände, die aus einer Hauptfigur des französischen Widerstandes gegen den deutschen Nationalsozialismus den Chef einer als faschistisch angesprochenen Organisation gemacht haben, die gegen die französische Staatsautorität komplot-tiert. An dieser Laufbahn läßt sich vielleicht der Weg ermessen, den Frankreich in den letzten Jahren gegangen ist.

Georges Bidault — denn um ihn handelt es sich hier — hat es nie an Mut gefehlt. Er hat ihn bewiesen, als er sich am Redaktionstisch des katholischen Blattes „I'Aube“ mit scharfer Feder für die spanischen Republikaner schlug. Als Präsident des Nationalrates des Widerstandes in dem von

Deutschland besetzten Frankreich hat er dies erhärtet. De Gaulle machte ihn („mon eher ami“) nach der Befreiung zu seinem Außenminister, da er „in überaus hohem Grad den Sinn und die

Gabe für die politische Sache besitzt“, wie die Laudation in den Memoiren des Generals formuliert. Bidault wurde zum Mitbegründer der von de Gaulle zunächst inspirierten volksrepublikanisehen Bewegung (M. R. P.) und nach dem Rücktritt des Generals in die Klausur von Colombey-les-deux-egli-ses zweimal Premierminister (1946 und 1949/50).

Derselbe Bidault Chef einer Organisation, die sich den Sturz des Gaullistischen Regimes auf die Fahne geschrieben hat? Das war eine bittere Entscheidung für die Deputierten, als sie über die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität zu befinden hatten. An einer einzigen Stimme hing es, daß die notwendige absolute Mehrheit erreicht wurde, denn 167 Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Die Gehässigkeit der Debatte ließ ermessen, welche Wunde die Unabhängigkeit Algeriens dem französischen nationalen Bewußtsein beigebracht hat, namentlich auf der politischen Rechten.

Bidault kontra de Gaulle: Einer der beiden muß wohl die Kurve verpaßt und aus dem Geleise geraten sein. Ist es Bidault, der in einer trotzigen Geste und mit dem ihm eigenen spöttischen Pathos den stolzen Titel des ehemaligen Nationalrates ^es Widerstandes (C. N. R.) mit ins Exil nahm? „Es sei mir erlaubt, daran zu erinnern“, meldete er sich mit unterspiel-ter Bescheidenheit in seiner Verteidigungsschrift an die Nationalversammlung zum Wort, „daß ich nie eine andere Sprache geführt habe als jene, die ich heute führen werde; jener Tag mit eingeschlossen, als mir zwei Drittel der Nationalversammlung

— die Gaullisten inbegriffen — stehend Beifall zollten für die Rede, die ich für die Integration gehalten hatte.“ Für Bidault und seine Anhänger steht also de Gaulle außerhalb der Legalität, denn die französische Verfassung gebe niemandem das Recht, französisches Staatsgebiet abzutreten: „ohne Legalität keine Legitimität“.

„Die Ursache des .Algerie fran-caise' ist die Revanche des Petainismus.“ Über dieses Wort General de Gaulies wird Bidault nun die Muße haben nachzudenken, während er sich in seiner engeren persönlichen Umgebung umsieht. Sollte er -a fewWtfiW Versöhnliche Gegner Vichy:Frank-reichs — auf dem Umweg über Algerien doch noch ins falsche Lager geraten sein? Seine stetig tiefer gewordene Abneigung gegenüber de Gaulle wird ihm den Weg zu dieser Einsicht verschließen. Aber er Wird nicht die Genugtuung in den Zügen des Petain-Verteidigers Maitre Isorni übersehen haben, vor dem er sich eines Abends aufgepflanzt hatte, um zu prophezeien: „Von nun an, und was auch immer geschehe, werde ich nie mehr ein Wort gegen Petain aussprechen; mit den ,Fritzen' auf dem Rücken, hat er, Petain, uns das Reich erhalten.“

Doch was mag — von den Beweggründen abgesehen — die Absicht Bidaults gewesen sein, als er die Nachfolge Salans an der Spitze der OAS antrat; und dies zu einem Zeitpunkt, da die Würfel praktisch gefallen waren? Zählt er auf den Groll der Armee, die Bitterkeit der algerischen Rückwanderer? Hofft er, mit fern- und feingesponnenen Intrigen den verhaßten „roi faineant“, den „Schattenkönig“ — wie er de Gaulle zu nennen pflegt —, zu Fall zu bringen? Oder hat der nachdrückliche Blick in jenes Sektglas, das ihm der giftige „Canard enchaine“ seit Jahren auf allen Karikaturen in die Hand drückt? sein politisches Urteil getrübt?

Die Chancen scheinen gering, und die Zusammensetzung des neuen OAS-Führungsstabes ist nicht geeignet, Paris ernsthaft zu beunruhigen. Bidault

— „this dear little man“ —, wie Bevin ihn zu nennen pflegte, der wortgewandte, zerbrechliche Knabenschullehrer mit Löwenmut und Mutterwitz; Soustelle, der linksintellektuelle Antifaschist, der 'von Mendes-France als Gouverneur in Algerien eingesetzt wurde und der Ausstrahlung dieses Landes völlig erlag; Exoberst Argoud, ein Verächter „intellektueller Perversion“, der Europa nicht in Berlin, sondern in Algerien gegen den Weltkommunismus verteidigen will und noch immer beträchtlichen Einfluß auf das Offizierskorps der französischen Armee ausübt: ein seltsames Triumvirat, vielleicht aber auch ein Kristallisationspunkt politischer und menschlicher Tragik.

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