6679769-1961_38_06.jpg
Digital In Arbeit

Die Bombe war kein „Spaß“

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn es noch eines Ereignisses bedurft hätte, Frankreich ins Bewußtsein zu bringen, in welchem Maße seine politischen Sitten entartet sind, dann hätte es sich keine bessere Inszenierung. als diesen Sprengstoffanschlag auf den Staatspräsidenten an der Route Nationale No. 19 wünschen können. Was General de Gaulle anfänglich als „Spaß von schlechtem Geschmack“ zu bagatellisieren suchte, war in Wirklichkeit eine Gewalttat äußerster Entschlossenheit seiner Feinde, um eine verhaßte Algerienpolitik zu torpedieren, bevor eine neue Situation geschaffen wird, die nicht mehr zu korrigieren wäre. Während die Prozesse gegen die Verschwörer vom 22. April noch nicht abgeschlossen sind, liegen neue unmißverständliche Anzeichen vor, nach denen ein geglücktes Attentat unweigerlich das Signal zu einem neuM Putsih bedeutet hätte.

E?i,e Entwicklung ist denkbar,logisch: Im Mai 1958 wurde der Beweis geführt, daß die Armee Sprungbrett eines neuen Regimes sein kann. Die Ereignisse des Jänner 1960 ließen erkennen, daß man in Algerien ohne die Mitwirkung der Metropole nichts vermochte. Der 22. April dieses Jahres schließlich machte klar, daß die Persönlichkeit de Gaulles das entscheidende Hindernis aller Umsturzpläne darstellt. Daraus ergab sich zwingend der Schluß, daß einzig die Beseitigung des Staatspräsidenten Aussichten auf Erfolg verheißt.

Die Tatsache des Mordversuches an sich bot also wenig Anlaß zur Überraschung, aber die Bestürzung war gleichwohl tief und allgemein. Für den bangen Zeitraum einer Schrecksekunde hatte sich für die Franzosen ein Blick in den Abgrund geöffnet, dessen beklemmende Leere ihre Phantasie ahnungsvoll durchmaß. Jäh fanden sie s;ch vor der Einsicht, daß ihre politische Zukunft von lächerlichen Zufällen wie dem Funktionieren von Zündungsmechanismen und dem zersetzenden Einfluß von Regenfällen auf Plastikbomben abhängig schien. In diesem Moment klammerten sich ihre Hoffnungen nur noch stärker an diesen Mann, der in seiner zunehmenden und offenbar auch gesuchten Vereinsamung Gewalttaten gegen seine Person geradezu noch herausfordert.

Was wäre gewesen, wenn …

In einem Zeitpunkt, da weitere parlamentarische Kreise entschlossen wären, Präsidentschaft und Kabinett zu einer engeren Zusammenarbeit mit dem Parlament zu beschwören, sie dazu bewegen wollten, von einer weiteren Berufung auf den Vollmachtenartikel 16 der Verfassung abzusehen, um der Demokratie Gelegenheit zu geben, sich wieder in ihren normalen Gang einzuspielen, in diesem Zeitpunkt liefern krasseste Ereignisse der Regierung jeden Vorwand, auf den Notwendigkeiten einer dramatischen Ausnahmesituation zu beharren. Mehr als je wird damit dem verhängnisvollen Eindruck Vorschub geleistet, daß nach de Gaulle die Sintflut folgen muß. Die erwähnte Schrecksekunde gab dem französischen Bürger Gelegenheit, die politischen Alternativen zu de Gaulle Revue passieren zu lassen: er sah keine. Einige Blätter waren immerhin veranlaßt, ihren Lesern — etwas verschämt — eine Darstellung des verfassungsrechtlichen Prozesses zu geben, der einem erfolgreichen Attentat hätte folgen müssen. Aber vergeblich suchte man auch nur nach einer Spekulation darüber, welche Persönlichkeiten oder Gruppen etwa geeignet wären, diesem formellen Gerippe politisches Leben zu verleihen. Im Vergleich zu diesem absoluten politischen Vakuum böte die Bundesrepublik ungefähr das Bild einer garantierten demokratischen Kontinuität.

Von dunklen Mächten…

Diese Entartung politischer und demokratischer Sitten im weitesten Sinn)?, vermag uns wohl die eigentümliche "Betroffenheit mancher Franzosen zu erläutern, als Expräsident Quadros von den dunklen Mächten sprach, die sich gegen ihn erhoben hatten. War ein Gran von dieser Resignation nicht auch in der jüngsten Pressekonferenz des Generals zu verspüren, in jenem Absatz, der von seinem Kummer über das heutige Frankreich sprach? Ist nicht auch in Frankreich die Armee eine dunkle Macht, von deren Entschlüssen das Wohl der Nation abhängt?

Aber ein de Gaulle hat mehr politische Substanz als ein Quadros; keine Gefahr, daß auch er vor den Gegnern — und seien es selbst dunkle Mächte — das Feld räumt. Beunruhigend ist im Gegenteil sein Hang, sich selber zu einer historischen Persönlichkeit einsamer Größe und Betrübnis zu mysti fizieren und darob einer engen Zusammenarbeit mit den positiven politischen Kräften der Nation zu entraten. Die einhellige Reaktion der französischen Öffentlichkeit auf das Attentat muß ihn jedoch davon überzeugen, daß seine Person — ungeachtet der mannigfachen Kritik — heute mehr denn je Kristallisationspunkt aller Hoffnungen ist.

So konzentrieren sich denn die bangen Sorgen um die Frage, ob es gelungen sei, dem Apparat der verschwörerischen Organisation der Geheimen Armee (OAS) und den an ihrer Spitze stehenden geflüchteten Offizieren und rechtsradikalen Fanatikern einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Die Loyalität der in Algerien und in der Metropole stehenden Truppen vorausgesetzt, hält man sie nicht

,für stark gepug, einen Putsch durchzii-.

führen. Aber eines von mehreren Attentaten könnte schließlich Erfolg haben, und schon damit sähe sich Frankreich in den dramatischesten Wirren.

Am gefährlichsten ist die Lage zweifellos in Algerien, wo die französischen Sicherheitsbehörden nicht mehr Herr der Situation zu sein scheinen. Übereinstimmende Berichte aus Algerien melden eine fortschreitende Herrschaft der OAS, der die überwiegende Sympathie der französischen Siedler gehört. Die Auseinandersetzung zwischen algerischen und französischen Nationalisten radikalisiert sich zusehends. Die Erregung der europäischen Bevölkerung und das Malaise in der Armee scheinen nun einem Höhepunkt entgegenzutreiben, dem ein rasches Handeln de Gaulles unbedingt zuvorkommen müßte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung