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Einsamkeit des Genies?

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Am Höhepunkt der Reise Pompidous nach Moskau platzte in Paris eine Bombe, die ein Meister des taktischen Kampfes vorsorglich gelegt hatte. Der erste Band der Friedensmemoiren Charles de Gaulles, der unter dem Titel „Die Erneuerung“ die Epoche 1958 bis 1962 umfaßt, erschien zur großen Überraschung des Publikums bereits am 4. Oktober. Die Publikation war ursprünglich für November (am 22. November feiert General de Gaulle seinen 80. Geburtstag) vorgesehen. Seit seinem Abgang hatte der Einsiedler in Colombey-les-deux-Eglises geschwiegen, sich jeder Geste enthaltten, einige Freunde empfangen und war sogar der nationalen Gedenkfeier des 18. Juni ausgewichen. Umso bedeutsamer mag der Zeitpunkt sein, an dem der Verfasser dem renommierten Verlagshaus Plön grünes Licht zur Verteilung des Werkes gegeben hat. Nach Meinung gutinformierter Kreise handle es sich dabei um einen kalkulierten Hinweis, mit dem Charles de Gaulle die Politik seines Nachfolgers desavouierte. Die Beziehungen der beiden Männer waren in den letzten Abschnitten der gemeinsamen Arbeit unterkühlt. Der Gründer der V. Republik richtete nach seiner Demission einen einzigen Brief an seinen ehemaligen Kabinettchef.

Der Verlag Plön (dort hatte de Gaulle seit 1938 seine Werke eingereicht) ging beim Druck und Vertrieb der „Memoiren der Hoffnung“ so vor, als wollte man den Schlachtplan eines Napoleons kopieren. Hunderte Druckereiarbeiter glaubten, die Reden des einstigen Staatschefs zu konfektionieren. Trotz aller Vorsorge wäre das Geheimnis beinahe gelüftet worden. Ein mit den Büchern be-ladener Lkw erlitt zwischen Straßburg und Paris einen Unfall, und Tausende Bände lagen verstreut umher. Aber kein Gendarm oder Neugieriger prüfte die kostbare Last. Der Verkaufserfolg der Memoiren de Gaulles ist phantastisch. Die erste Auflage war mit 240.000 Exemplaren programmiert und binnen 24 Stunden wurden 100.000 Stück abgesetzt.

Bis zum 14. Oktober melden die Buchhandlungen stolz geschwellt die Zahl von 350.000. Als Käufer treten in der Regel Männer mittleren Jahrganges aller sozialen Schichten auf. Die Polemik um diese Memoiren hat auf breitester Front eingesetzt. Bidault, der einst intime Mitarbeiter de Gaulles und Mitbegründer der Sammelparteien RPF und UNR, Soustelle, die Generäle Jouhaud und Challe, der letzte Ministerpräsident der IV. Republik, Pierre Pflimlin, haben in heftiger Form die Ausführungen des Memoirenschreibers kritisiert. Aus dem Ausland schallten erste Beobachtungen nach Paris, die vom belgischen Ex-Außenminister Spaak angeführt werden. De Gaulle selbst hat für eine weltweite Streuung seines Werkes gesorgt, indem er Sonderdrucke dem Papst, der Königin Elisabeth von England, Mac-millan und Chruschtschow sowie der Witwe Eisenhowers und dem Sohne Adenauers übermittelte. Gegenwärtig ist der alerte Greis dabei, für alle Personen, die namentlich im Werke figurieren, Luxusausgaben mit sorgfältig nuancierten Widmungen vorzubereiten. Ob er seine politischen Gegner, wie Soustelle und Bidault, ebenfalls bedenken wird?

In sieben Kapiteln schildert der General die wichtigsten Etappen seiner zweiten umstrittenen, aber glorreichen Laufbahn. Sogar eine flüchtige Lektüre gestattet es, den etwas pompösen Stil und die scharfe Beurteilung der politischen Zeitgenossen zu genießen. Fast jede Persönlichkeit, mit der de Gaulle zusammentraf, wird mit einigen Sätzen charakterisiert. Nur Pompidou und der österreichische Bundeskanzler Gorbach erhalten keine derartige Ehrung. Für den Gegenwartshistoriker interessant sind die Schilderung der Umstände, die de Gaulle im Mai 1958 neuerlich an die Macht verhalfen. Es war bisher ungewiß, ob der in der Einsamkeit eines lothringischen Dorfes lebende und grollende General von diversen Komplotten wußte,'die zum Aufstand der weißen Siedler und später der Armee am 13. Mai 1958 in Algerien führten. De Gaulle bestreitet energisch, vorher informiert gewesen zu sein. Er habe keinen seiner Anhänger bevollmächtigt, dieses Abenteuer zu kautionie-ren. Er wurde von der Revolte der Armee genauso überracht wie die Regierung. Man kann seiner Behauptung beipflichten, damals allein den drohenden Bürgerkrieg gebannt zu haben. Niemals sei er für ein französisches Algerien eingetreten und wäre seit Jahren überzeugt gewesen, daß Nordafrika und dem gesamten schwarzen Erdteil Freiheit und Souveränität zugebilligt werden müssen.

De Gaulle bestätigt, was wir bereits wußten: In der Einsamkeit des Genies ist er nur zwei Personen begegnet, denen er gleiche geistige und politische Potenz zuspricht. Es waren dies der Dichter Andre Malraux und Bundeskanzler Konrad Adenauer. Als Staatspräsident zeigte er keine Neigung, zugunsten übernationaler europäischer Einrichtungen die Souveränität Frankreichs zu opfern oder die Rolle eines europäischen Bismarck oder Cavour zu übernehmen. Nach seinem Konzepte sollten zwei gleichwertige Staaten, nämlich Frankreich und die Bundesrepublik, einen europäischen Machtkern bilden, während Großbritannien auf dem Kontinent nichts zu suchen habe.

Soweit es Österreich betrifft, wird auf Seite 280/281 ohne Kommentar der Besuch Bundeskanzler Gorbachs notiert. Der damalige österreichische Regierungschef habe sich beunruhigt, ob nicht etwa die deutsch-französische Annäherung die Unabhängigkeit Österreichs bedrohe und einen Anschluß vorbereite. De Gaulle erklärte seinem Gesprächspartner: der Vertrag von 1955 garantiere die Souveränität und Neutralität Österreichs. Diese wäre eine der Pfeiler einer ebenso prekären wie notwendigen Konstruktion, die sich europäisches Gleichgewicht nennt.

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