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Das Dilemma als Staatsform

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Lange blieb in jener Nacht des Verfassungsreferendums ein Fenster der „Boisserie“ in Colombey-les-Deux-Eglises erleuchtet. Bis zu den letzten Zahlen verfolgte Staatspräsident de Gaulle die eingehenden Abstimmungsresultate, und die Verschiebung seiner Rückkehr nach Paris gab zu verstehen, daß ihm die Analyse der Ergebnisse kein geringeres Kopfzerbrechen bereitete als vielen anderen Politikern; sie ließ sogar ahnen, wie dicht die Versuchung ein weiteres Mal an ihn herangetreten war, der Politik in würdevoller Verachtung den Rücken zu kehren. Vielleicht wird uns de Gaulle später in einem vierten Band seiner Memoiren in dieses stumme Zwiegespräch zwischen ihm und „dem General de Gaulle“ einweihen, das sich damals im Arbeitszimmer der „Bois-serie“ abspielte. Bis dabin bleiben Wir auf “Vermutungen und auf jene Re-fkktioheri angewiesen) mit denen er in „Le Salut“ die Demission vom Jänner 1946 erläuterte.

Ist er heute wieder in derselben Lage wie 1945/46? Wenn man das betreffende Kapitel durchblättert, kann man sich dieses Eindrucks tatsächlich nicht erwehren. Steht er denn nicht wieder vor dem Dilemma einer Wahl zwischen dem „exklusiven Parteiensystem“ und der Diktatur, „von der ich nichts wissen will und die zweifellos einen schlimmen Ausgang nehmen würde“? Ist nach dem prekären Ergebnis des Referendums nicht erneut der Punkt erreicht, da es „vergeblich und gar unwürdig“ scheint, das Geschäft des Regierens zu simulieren, „jetzt, da die Parteien im Wiederbesitz ihrer Kräfte ihre Spiele von einst wieder aufnahmen“? Ist es nicht auch jetzt wieder die Absicht der „Rädelsführer“, den General de Gaulle in die Rolle eines Staatspräsidenten zu drängen, „der nicht den geringsten Einfluß auf das Getriebe des Staates hat und auf eine fade Repräsentationsfunktion beschränkt ist“?

Wenn die heutige Situation mit jener von 1946 im Grunde verglichen werden kann, so hat sich iedenfalls de Gaulle gewandelt. Er weiß nun, daß er die Macht nicht mehr fahren lassen darf, wenn er seine außenpolitische Konzeption verwirklichen will, und daran ist ihm mehr gelegen als an der Unabhängigkeit Algeriens. Auch jetzt will er sich nicht vom Intrigenspiel der Parteien die Hände binden lassen; auch jetzt schreckt ei — der Humanist, der Mann dei Feder — von der Diktatur zurück. Alse sucht er nach einem dritten Weg. Dei dritte Weg: das ist die Institutionalisierung des Dilemmas; die Verteidigung der Macht durch die Rücktrittsdrohung, die Maxime des „ich odei die anderen“, die Demokratie „als ob“

De Gaulle suggeriert Frankreich seine eigene Bewußtseinsspaltung. Di ist einerseits „der General de Gaulle“ von. dem de Gaulle in seiner Memoiren in der dritten Person Einzahl spricht; das Idol, der Rettei Frankreichs; „der einzige, der keine Politik macht“wie der Volksmu sagt. Das ist auch der de Gaulle der Verfassung von 1958; der Staatspräsident als Hüter des Grundgesetzes und als Schiedsrichter über dem Geplänkel der Parteien. Aber da ist anderseits auch der de Gaulle kompromißloser und umstrittener politischer Auffassungen, die nicht selten eine Mehrheit von Deputierten gegen sich haben und damit in direkten Konflikt mit dem an die Nationalversammlung delegierten, souveränen politischen Willen des Volkes treten. Dies ist de Gaulle in der Rolle des vom Volke direkt gewählten „Führers“, der „das nationale Handeln inspirieren, orientieren, animieren“ muß.

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