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De Gaulles Gardinenpredigt

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Wie ein Schlüsselwort beherrscht der Begriff des „Degagements“ nahezu sämtliche Ansprachen des Staatspräsidenten in den ersten vier Jahren der gaullistischen V. Republik. Oft genug

betonte de Gaulle das „direkte nationale Interesse, uns von kostspieligen und ausweglosen Belastungen zu befreien“ (so in einer Fernsehrede am 12. Juli 1961). Dieses Bestreben, sich schwerer und unnützer Lasten zu ent-

ledigen, hat der gaullistischen Algerienpolitik bei der großen Masse des französischen Volkes zweifellos jene überwältigende Unterstützung eingetragen, die den Weg zum Erfolg eb-

nete. Der heute von de Gaulle so heftig angeprangerte Hang zur Bequemlichkeit („facilite“), er war noch vor einem Jahr ein entscheidender psychologischer Faktor in der Algerienpolitik des Staatschefs.

Degagement — Engagement

In der jüngsten Fernsehrede des Generals ist der Begriff „Degagement“ noch einmal aufgetaucht: „Vom Genie der Erneuerung wieder erfaßt, in voller Entwicklung der Erfindung, der Produktion, der Demographie, mit soliden Institutionen versehen, befreit (degage)

von den kolonialen Bindungen, findet sich Frankreich zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert mit freiem Geist und freien Händen“. Wenn das französische Volk jedoch geglaubt hatte, es werde sich nun des freien Geistes und der freien Hände bedienen können, um nach den Früchten des algerischen Degagements in Form von Steuererleichterungen, erhöhten Einkommen und Arbeitszeitverkürzungen

zu greifen, so sieht es sich heute allerdings in enttäuschendem Widerspruch zu den ehrgeizigen außenpolitischen Zielen seines Staatspräsidenten. Nicht allein die vage Sympathie für die Grubenarbeiter und ihren Streik, sondern vor allem die dämmernde Einsicht dieses Mißverständnisses hat die Popularität de Gaulles unterspült. Heute wird es den Franzosen klar, daß das „Degagement“ von den kostspieligen algerischen Belastungen in den Plänen des Staatschefs bloß das Engagement in eine nicht minder kostspielige Großmachtpolitik ermöglichen sollte.

Das gaullistische Regime ist damit ohne Zweifel an einem kritischen Punkt angelangt. De Gaulles Feldzug gegen die Bequemlichkeit hat den Sinn eines Umbruchs seiner innenpolitischen Allianzen, denn er wird sich in Zukunft gewiß in schwindendem Maße auf seine Beliebtheit allein verlassen können, wenn es Widerstände zu überwinden gilt. Die wachsende Zahl von „Unzufriedenen“ in den Resultaten der Meinungsumfragen dürfte deshalb nicht bloß als vorübergehende Episode zu werten sein.

Feldzug gegen die Bequemlichkeit

In dieser Situation entsprach de Gaulles Gardinenpredigt gegen die Verlockungen des „süßen Lebens“ im Inhalt einer veritablen Regierungserklärung, die üblicherweise in einer repräsentativen Demokratie vom Ministerpräsidenten dem Parlament vorgelegt werden müßte. Sie enthielt nämlich nicht nur die Warnung vor dem Abgleiten in wirtschaftliche Euphorie und inflationäre Tendenzen, sondern fällte die grundsätzliche Entscheidung, ein durchaus dringliches Sozialprogramm hinter hochfliegenden militärpolitischen und außenpolitischen Zielsetzungen zurückzustellen.

Was diese letzteren Themen betrifft, konnten Frankreichs Partner feststellen, daß sich der Ton seit der Pressekonferenz vom Jänner zwar etwas gemildert hat, daß der General jedoch um kein Jota vom eingeschlagenen Kurs abgewichen ist. Noch immer ist die Unberechenbarkeit der militärischen Reaktionen der Großmächte für de Gaulle ein zwingender Grund für die Schaffung einer autonomen atomaren Schlagkraft Frankreichs. Noch immer bedeutet die Überlassung nationaler Souveränität an supranationale Gremien die „Abdankung der euro-

päischen Staaten“, die „unausweichlich zu einer Unterwerfung von außen führen würde“. Noch immer wird das „große englische Volk“ eingeladen, sich aller Bindungen außerhalb des

Gemeinsamen Marktes tu entledigen, um die Bedingungen dieser Institution zu akzeptieren. De Gaulle hat also auch in diesem Bereich nicht den leichten Weg der Bequemlichkeit gewählt.

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