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Die ersten Karten liegen auf

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Endlich beginnt man in dem Spiel um Algerien einigermaßen klar zu sehen. Gewiß hat noch keiner der Partner seine Karten ganz aufgedeckt. Man wird noch eine Unzahl von Finten, Propagandaaktionen und „Intoxikationen” über sich ergehen lassen müssen. Aber die ersten Karten liegen nun auf dem Tisch, und man kann an ihnen ablesen, was sich die Spieler zumindest als taktisches Nahziel gesetzt haben. Das strategische Fernziel braucht nicht genau in der Verlängerung dieser Linie zu liegen; es kann aber auch nicht genau in der entgegengesetzten Richtung liegen...

Die Ausgangslage ist bekannt. Nach dem Referendum vom 8. Jänner hat sich der FLN bereit erklärt, mit de Gaulle zu verhandeln, und irgendwelche Vorbedingungen dazu hat er schlauerweise nicht mehr aufgestellt. De Gaulle jedoch, der im Plebiszit vom französischen Volk die Vollmacht zum Verhandeln erhielt, hüllte sich in sein an bunt schillernden Andeutungen reiches Schweigen. Zwar ließ er durch die Stimmungsmacher des Regierungslagers das Gerücht verbreiten, daß direkte Verhandlungen mit dem FLN unmittelbar bevorstünden. Aber offiziell hat er sich nie zu solchen Verhandlungen bekannt, und er wiederholte nicht einmal ausdrücklich das limitierte Verhandlungsangebot des letzten Jahres, das auf politischem Gebiet bloß die Garantien einer freien Selbstbestimmungsprozedur als Verhandlungsgegenstand zuließ, die Waffenniederlegung des FLN zur Vorbedingung machte und ihn erst noch als eine algerische Gruppierung unter anderen behandelte. Kurzum: de Gaulle mußte zumindest in den Augen der neutralen und der roten Welt, wenn nicht sogar in denen der Amerikaner, als der Partner erscheinen, der eine friedliche Lösung des Algerienkonflikts verhinderte.

Der „Wind der Geschichte”

Das Schweigen de Gaulles hatte jedoch seine guten Gründe. Der FLN hat es leicht: er hat nichts und will alles. Sein offizielles Ziel ist zwar nur die Unabhängigkeit Algeriens; ist diese Unabhängigkeit jedoch einmal wirklich erreicht, so dürfte der FLN — oder eine Fraktion des FLN — bald im Besitz der absoluten Macht in Algerien sein. De Gaulle hät žw’ar įdie Franzosen immer wieder beschworen, sich dem „Wind der Geschichte” nicht entgegenzustellen, es ist aber die algerische Emanzipationsbewegung, die diesen Wind im Rücken hat. Dem französischen Staatschef jedoch fällt die unangenehme Rolle des „Aufhalters” zu, der aus einer Liquidationsmasse noch möglichst viel zu retten sucht.

Wieviel de Gaulle retten will, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Opposition auf der Rechten, die Ultras, unterstellt ihm, daß er alles „abstoßen” (brader) wolle. Und die Opposition am anderen Flügel, die französische Linke, scheint mehrheitlich der gleichen Meinung zu sein — sie weiß nur noch nicht, ob sie sich darüber freuen soll, daß de Gaulle „ihre” Politik durchzuführen scheint. (Nobelpreisträger Franęois Mauriaq, dieser kuriose Fall eines gaullistischen Poetą laureatus auf der letzten Seite des antigaullistischen „Express”, hat sich über diese Seelenqualen lustig gemacht: „Damit auf der Linken jedermann zufrieden ist, müßte zur gleichen Zeit der Krieg ein Ende finden und de Gaulles Politik scheitern.”) Doch jene Unterstellung geht sicherlich zu weit. Schuld an ihr ist eine der zahlreichen Mythen, die sich um de Gaulle gebildet haben: nämlich die, daß er, was man von seiner übrigen Politik auch halten möge, von Anfang an zur Liquidation der französischen Kolonialpositionen oder, verschwommener gesagt, des „Kolonialismus” ent schlossen gewesen sei. Beweisstück für diesen Mythos ist de Gaulles Erklärung von Brazzaville aus dem Jänner 1944. Es ist anzunehmen, daß diese Erklärung nur von wenigen in extenso gelesen worden ist. Liest man sie nämlich genau, so geht nicht mehr aus ihr hervor als ein Reformwille innerhalb des Rahmens des Kolonialreiches, an dem der de Gaulle von damals durchaus festhält.

De Gaulle: Politik und Biographie

Hat sich daran etwas geändert seither? Direkt kann diese Frage nicht beantwortet werden, da de Gaulle nicht erst seit dem 13. Mai 1958, sondern im Grunde seit dem brüsken Ende seiner ersten Regierungszeit im Jänner 1946 auf allen Gebieten der Politik einer eindeutigen Stellungnahme ausgewichen ist. Man muß darum seine Absichten indirekt erschließen. Dabei darf man nie aus- dem Auge verlieren, was der Leitstern all seiner Handlungen ist: der Aufbau seiner geschichtlichen Gestalt. Das letzte Kapitel seiner Biographie wäre aber verpatzt,

wenn er in die Geschichte als der französische Staatsmann einginge, der endgültig die Frankreich gegenüberliegende Küste des Mittelmeeres verloren hat. Darum ist auch anzunehmen, daß er mit allen Mitteln versuchen wird, die französische Stellung im Maghreb zu halten. An die Möglichkeit einer Verschmelzung des algerischen mit dem französischen Volke glaubt er aber, wie er des öfteren zu verstehen gegeben hat, nicht. Was bleibt dann? Im Grund nur jener „Neokolonialismus”, der unter Konzessionen im Juristischen (die von der Zuerkennung der „inneren Autonomie” bis zu lockeren „Assoziations”plänen gehen können) und unter verstärkter Sozialfürsorge für die autochthone Bevölkerung die wirtschaftlichen und militärischen Positionen halten möchte.

In der Konfrontation mit diesem Neokolonialismus” scheiden sich aber die Geister in den afrikanischen Emanzipationsbewegungen, sei es nun im arabischen Nordafrika oder im schwarzen Afrika. Seit Jahren ist uns von Vertretern der radikalen Strömungen innerhalb jener Bewegungen immer wieder gesagt worden: „Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, daß wir auf eine von Mendės-France oder Defferre geführte französische Regierung besonders scharf wären. Das sind ja gerade die Männer, die der Welt und sogar einem Teil unserer Bevölkerungen ein Weiterdauern der weißen Herrschaft unter nur leicht veränderter Oberfläche schmackhaft machen könnten! Da ist uns ein Kolonialist von der alten Art lieber — da weiß doch jedermann, woran er ist...”

Ob de Gaulle nun auf eine ähnlich geartete Feindschaft stoßen könnte? Das latente Mißtrauen gegen ihn im FLN, und zwar nicht nur auf dessen radikalen Flügel, könnte ein Indiz dafür sein: es ist kein Zufall, daß von seiten des FLN immer wieder betont wird, man wolle de Gaulle erst glauben, wenn er konkrete Beweise für seinen guten Willen auf den Tisch lege. (Die Freilassung Ben Bellas und mehr noch der Empfang von Ferhat Abbas durch de Gaulle werden immer wieder als mögliche Beispiele genannt.) Und daß nun Bourgiba, Exponent des gemäßigten Hügels innerhalb der arabischen Welt, mit seiner traditionell mendesistischen Umgebung sich zum Fürsprecher de Gaulles gemacht hat, ist sicherlich nicht dazu angetan, jenes Mißtrauen zu dämpfen.

Bourgibas Vermittlung

De Gaulle mit seinem wachen Sinn für politische Machtverhältnisse hat seine erste Begegnung mit Bourgiba dazu benützt, um Frankreich aus seiner diplomatischen Isolierung herauszumanövrieren. Wenn der kluge tunesische Staatschef sich auf dieses Spiel eingelassen hat, so hat das seinen guten Grund: trotz einiger Konfliktstoffe zweiten Ranges zwischen Tunis und Paris sind Bourgibas Interessen mit denen de Gaulles auf weite Sicht identisch. Heute ist er durch den plötzlichen Tod seines Rivalen Mohammed V. der unbestritten erste Mann des Maghreb geworden; bekäme jedoch der FLN Algerien ganz in seine

Hand, so würde er automatisch an die Peripherie gedrängt, und zwar nicht nur, weil dann die kampferprobte und ihres Gegners ledige algerische Armee die stärkste Macht im Maghreb wäre. Eine allgemeine politische Radikalisierung des Maghreb wäre die Folge, und die innertunesische Opposition, der in den Untergrund verdrängte Jussefis- mus, könnte unter Nachhilfe von seiten der „harten” Kräfte im FLN wieder Luft gewinnen.

So ist es denn zu dem Spiel mit verteilten Rollen gekommen, in dem Bourgiba und de Gaulle auch den jungen, die radikalen Strömungen in seinem eigenen Lande fürchtenden König Hassan II. von Marokko vorläufig auf ihre Seite ziehen konnten. Bourgiba leistete de Gaulle den unschätzbaren Dienst, der Welt zu verkünden, de Gaulle wolle den Kolonialismus liquidieren und Algerien in die Unabhängigkeit entlassen, ohne daß de Gaulle dadurch ein für allemal festgelegt wäre. (Das Elysee hat sich wohlweislich gehütet, Bourgiba zu bestätigen oder zu dementieren.) Und darauf hat Bourgiba jene Karte ausgespielt, die glaubwürdiger ist, wenn nicht de Gaulle, sondern immerhin ein arabischer Staatschef sie ausspielt: gewiß, Unabhängigkeit Algeriens im Prinzip, aber zuvor eine lange „Übergangszeit” mit einer „Assoziation” an Frankreich.

Das Ziel: der „geeinte Maghreb”?

Um ihnen diese Assoziation schmackhafter zu machen, wurde den Algeriern Tunesien und Marokko als „Puffer” in dieser „Assoziation” in Aussicht gestellt: es wurde wieder vom „geeinten Maghreb” gesprochen, der während der langen Rivalität zwischen Bourgiba und Mohammed V. in der Requisitenkammer verschwunden war. Daß bei diesem „geeinten Maghreb’ das Adjektiv „arabisch” inzwischen verschwunden war, ließ deutlich erkennen, daß Bourgiba seinem Partner de Gaulle die Türe offenhalten wollte.

Daß man im FLN durchaus merkte, was sich da anspann, war schon aus der Zeitlupenanfahrt von Ferhat Abbas zum Begräbnis Mohammeds V. ersichtlieh. Er kam offensichtlich deshalb in Rabat zu spät an, um den jungen König nach Bourgibas Wegflug wieder aus der Dreierkombination PansVfünis-Rabat loszUeisen. Der tunesische Staatschef verschob jedoch seine Rückkehr zu dem von ihm nicht besonders geschätzten rohen Karotten der Bircher-Klinik in Zürich gerne um einen Tag, um Hassan bei der Stange zu halten. Und es ist anzunehmen, daß Ferhat Abbas zweistimmig das „bour- gibistische” Kredo rezitiert erhielt: gebt euch mit einem Kompromiß zufrieden: wenn ihr erst einmal „drin” seid, wird sich das Weitere schon von selbst ergeben...

An diesem Punkte aber kam dem in die Ecke gedrängten FLN eine Ungeschicklichkeit der französischen Diplomatie zu Hilfe. Statt ganz ihren „Geschäftsträger” Bourgiba wirken zu lassen und selbst stumm zu bleiben, trat sie verfrüht wieder ins Spiel ein. Man glaubte wohl in Paris die erste Runde bereits gewonnen und zog sich wieder auf die alte, „harte” Position zurück: man wolle mit dem FLN erst dann direkt verhandeln, wenn er die Waffen niedergelegt habe, und man erkenne ihn nur als einen unter mehreren Verhandlungspartnern an. Das erlaubte dem FLN, sich der freundschaftlichen Umarmung Bourgibas zu entziehen und Frankreichs „Vorbedingungen” für unannehmbar zu erklären.

Das Spiel wird weitergehen. Und Frankreich hat einen Trumpf, mit dem es die Panne wieder wettmachen kann: die Sahara und ihre Schätze. Der FLN hat erklärt, daß nicht einzusehen sei, weshalb die Sahara, die bisher in den französischen Atlanten zu Algerien geschlagen war, nicht auch zu einem unabhängigen Algerien gehören sollte. Das sind Töne, die man nicht nur in Tunis und Rabat ungern hört — auch den jungen Republiken, die südlich an die Sahara grenzen, ist es nicht gleichgültig, was in dieser Wüste mit ihren fabulösen Reichtümern vor sich geht. Das aber könnte es einer klugen französischen Diplomatie erlauben, die nächste Umarmung, in welcher der FLN domestiziert werden soll, noch etwas umfassender anzulegen. Ganz abgesehen davon, daß, je größer die Zahl der Teilhaber an der Sahara wird, desto unbeschränkter auch die Bewegungsfreiheit ihres bisherigen Verwalters bleibt.

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