6683873-1962_06_06.jpg
Digital In Arbeit

Der Pflug und die Waffen

Werbung
Werbung
Werbung

„Wenn die1 Vierte Republik am Leben geblieben wäre — und das haben mir viele gesagt, die in Algerien direkt zu ihrem Sturz beitrugen —, dann wäre das algerische Problem heute einer Lösung näher. Vom militärischen Gesichtspunkt aus betrachtet, war die Rebellion 195,8 geschlagen. Die große Masse der Muselmanen unterstand wieder der Autorität der französischen

Marcel-Edmond Naegelen

Armee und Verwaltung. Algerien schien im Mai 1958 befriedet. Das französische Parlament hatte am 30, Jänner 1958 definitiv ein Rahmengesetz angenommen, das den Muselmanen einen sehr großen Einfluß einräumte, aber die Europäer gleichzeitig beruhigte, weil es eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Bevölkerungsgruppen forderte. Damals wäre es noch möglich gewesen, Algerien mit einer weitgehenden Autonomie im Rahmen der französischen Republik zu erhalten.“

Begegnung mit einem Mann der Vierten Republik

Es sind die Reminiszenzen eines Mannes der Vierten Republik; eines Mannes, der im Februar 1948 zum Algerienminister ernannt wurde, als die Metropole einmal mehr vom Auftreten heftiger Spannungen alarmiert worden war. Marcel-Edmond Naegelen sprach aus der praktischen Kenntnis der Dinge und urteilte mit kühler Distanz. Er wußte, daß die Zeiten sich geändert haben. In den vergangenen dreieinhalb Jahren durchlief die Politik de Gaulles viele Kurven. Von der „Algerie fran-caise“ gelangte man zur Selbstbestimmung, von der Selbstbestimmung zur faktischen Anerkennung der provisorischen algerischen Regierung als maßgebliche Repräsentantin der muselmanischen Bevölkerung; schließlich folgte eine Art „Prädestination“, als de Gaulle wiederholt seiner Überzeugung Ausdruck gab, daß Algerien unabhängig sein werde, daß eine algerische Republik entstehen werde, daß die große Mehrheit der Muselmanen auf der Seite des FLN sei.

Minister Naegelen kostete den Bordeaux in bedächtigen Zügen, aber er stimmte ihn nicht milder: „Im Moment, da der Präsident der französischen Republik eine derartige Erklärung abgibt, braucht man sich nicht weiter zu wundern, wenn der FLN seine Forderungen noch erhöht. In den Städten geht die aktive Masse der Muselmanen mit dem FLN, aber im Bled fühlt sich die große Mehrheit der muselmanischen Bevölkerung stark der französischen Verwaltung verbunden, der sie viel zu verdanken hat. Und da es bei den algerischen Muselmanen stets innere Kämpfe gab, wird der FLN von vielen Muselmanen gefürchtet. Selbst wenn die Behauptung de Gaulles richtig wäre, stünde es einem französischem Staatschef niemals zu, sie zu proklamieren.“

Ein Sozialist alter Schule

So sprach nicht ein Ultra, sondern ein Sozialist alter Schule, der sich noch am Feuer Jean Jaures erwärmt hatte, für den eine Lösung des Algerienproblems gleichbedeutend ist mit einer

aufrichtigen und uneingeschränkten Verwirklichung der Prinzipien: Liberte, Egalite, Fraternite. Und er machte sich keine Illusionen darüber, ob die Politik der Selbstbestimmung wieder aufgegeben werden könnte. Weder aus dem algerischen noch aus dem französischen und am allerwenigsten aus dem internationalen Gesichtspunkt sah er hierfür eine Chance. „Eine Politik der

Selbstbestimmung in Algerien widerspracht zwar der Verfassung, aber die Konstitutionen und Gesetzestexte können den Ereignissen nie widerstehen.“

„Wenn ich der Präsident wäre...“

„Darf ich Sie fragen, was Sie als Präsident der Republik in dieser Situa-

tion tun würden?“ (Und mit einem Quentchen Glück für meinen Gesprächspartner hätte diese Hypothese Tatsache sein können.)

„Wenn ich der Präsident der Republik wäre, würde ich zuvorderst gemäß der Verfassung der Regierung und dem Parlament das Recht und die Aufgabe überlassen, die Verantwortung für die Algerienpolitik zu übernehmen. Man wird mir natürlich entgegenhalten, daß das Land zu diesen Entscheidungen befragt worden ist. Aber erkundigen Sie sich beim Nächstbesten, welche Fragen ihm am 8. Jänner 1961 vorlagen. Die wackeren Leute wählten, weil sie den Frieden wollten und nicht einsahen, weshalb ihre Söhne nach Algerien gehen mußten.“

Es entsprach dies der nahezu traditionellen sozialistischen Kritik an de Gaulles persönlicher Machtstellung, die keine echte demokratische Grundlage habe. Hatte nicht auch Napoleon III. eine große Mehrheit erhalten, als er erklärte, das Kaiserreich

bedeute den Frieden? Wenige Monate später wurde er in der militärischen Niederlage gestürzt.

Demnächst wird im Verlag Flammarion ein Buch erscheinen, „L'Algerie, la charrue et les Armes“ (Algerien, der Pflug und die Waffen), in dem Minister Naegelen seine These verficht, daß ein intensiver Gebrauch des Pfluges zur rechten Zeit den Einsatz der Waffen unnötig gemacht hätte. Wie sieht er aber den Ausgang des algerischen Konfliktes heute? Ist in der gegenwärtigen Situation ein unabhängiges Algerien nicht ebensowenig in Reichweite wie ein französisches Algerien?

„Ja“, nickte der weiße Haarschopf des Ministers bestätigend, „und dies darum, weil der Vertrag zwischen de Gaulle und der provisorischen algerischen Regierung von zwei Männern signiert werden soll, von denen keiner imstande ist, seinen Fuß auf algerischen Boden zu setzen. Das Außergewöhnliche an dieser Situation ist die .Tatsache, daß man einem Vertragsabschluß beiwohnt, der weder von der einen noch von der anderen Seite ohne großen Widerstand in Algerien durchgesetzt werden könnte. Die Zeit arbeitet jedenfalls nicht zugunsten einer guten Lösung.

Gesinnungswandel der Linken

Außerdem wird ein Waffenstillstandsabkommen nicht nur in Algerien, sondern wahrscheinlich auch in manchen politischen Kreisen der Metropole auf Widerstand stoßen. Was mich in diesem Moment sehr frappiert, ist die Evolution der Linksparteien, die lange Zeit nach dem Wort Guy Mollets erklärten: die Lösung des algerischen Problems führt über de Gaulle. Heute behaupten sie, Gegner des Degagements zu sein, von dem de Gaulle am 29. Dezember gesprochen hat, und sie setzen sich sehr nachdrücklich für die Garantien für die Europäer ein, was sie bis jetzt ebenfalls nie getan hatten. Ich glaube, daß die Linksparteien einen Fehler machten, als sie der extremen Rechten

das Monopol überließen, die legitimen Interessen und Rechte der Europäer und Muselmanen, die sich als Franzosen betrachten, zu verteidigen. Heute werden sie dieses Fehlers inne. In den letzten Besprechungen und Reden von Guy Mollet, Maurice Faure — Präsident der Radikalsozialisten — und sogar Mendes-France war sehr eindringlich von den Garantien für die Europäer in Algerien die Rede. Guy Mollet und Maurice Faure haben sich für Gegner eines Degagements erklärt, Es hat also eine Evolution stattgefunden, die beweist, daß auch in der Metropole und nicht nur rechts Widerstände gegen die Politik eines totalen Degagements erwachsen werden!“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung