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Lohn des Terrors

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„Ca y est!“ rief der ehemalige Bürgermeister von Algier, Jacques Chevalier, am Sonntagmorgen gegen 10 Uhr aus: „Es war vollbracht!“ Jean-Jacques Susini, der zornige, junge Zivilist der OAS (Sektion Pieds noirs), dessen politisches. Talent sich in den zähen Verhandlungen der letzten Wochen etablierte, hatte die Erklärung des FLN-Delegierten bei der provisorischen Exekutive, Dr. Mostefai, ein letztes Mal geprüft und genehmigt. Vier Stunden später wurde der Text der algerischen Bevölkerung über den Sender France V bekanntgemacht. Die Sensation war perfekt: Der FLN hatte sich unter kräftiger Beihilfe des Präsidenten der provisorischen Exekutive, Abderrahmane Fares, mit seinem Erzfeind OAS verständigt und ein zweites Ende-Feuer in Algerien verkündet.

Ohne Terrorismus keine Revolution. Nach diesem Gesetz ist der algerische Staat angetreten. Es ist weder von den Politikern der Vierten Republik noch von Salan und anderen französischen Militärs und schließlich auch nicht von General de Gaulle widerlegt worden. Der Terrorismus war die erklärte Methode der algerischen Nationalisten, „das Problem zu stellen“. Sie führte insofern zum Sieg, als sie die „Kolonialisten“ zwang, das Prinzip der Selbstbestimmung anzuerkennen und die „Rebellen“ von gestern zu amnestieren. Es war dieses Vorbild, mit dem die OAS-Terroristen die Pieds noirs zu überzeugen wußten, daß die politische Anerkennung der europäischen Minorität in Algerien ebenfalls mit Gewalt erzwungen werden mußte. Und zum zweitenmal hat sich nun das Gesetz bestätigt. Das ist also die düstere „Moral“ der algerischen Staatsgründung: In der Politik lohnt sich das Verbrechen, wenn es nur genügend lange durchgestanden werden kann.

Dieses zweite algerische „Ende-Feuer“ bedeutet, daß sich nun endlich die Bevölkerungsgruppen an einen Tisch setzen, die anscheinend wider Willen dazu auserkoren sind, gemeinsam den algerischen Staat zu errichten. Das ist ein gewaltiger Schritt vorwärts in der Anerkennung politischer Realitäten. Er könnte zu guter Letzt herausführen aus dem Zwielicht des ,,Als-ob“ und dem Schattendasein unterwühlter Autoritäten. Es ist eine Situation, die sich manche Beobachter schon lange herbeigewünscht haben, und so hört man denn auch oft die Frage: Warum nicht schon früher? Lag es dehn nach dem Prinzip der Selbstbestimmung nicht von Anfang an auf der Hand, daß jene politischen Gruppen an den Verhandlungen beteiligt werden mußten, die später unter den erzielten Vereinbarungen zu leben hatten? Ist die europäische Minorität nicht gerade deswegen in die Fänge ehrgeiziger und gewissenloser Aktivisten getrieben worden, weil sie sich nicht rechtzeitig zu den Papieren von Evian äußern konnte? Doch das sind vielleicht Fragen, die der Geschichte überlassen werden müssen.

Die feierliche Erklärung Mostefais enthielt drei wesentliche Punkte: Die OAS wird als Verhandlungspartner ausdrücklich anerkannt, ihre Mitglieder und Anhänger kommen in den

Genuß einer Amnestie für alle vor dem 17. Juni begangenen Gewalttaten, und schließlich wird die europäische Minorität an der Schaffung der lokalen Ordnungstruppen im Dienste der provisorischen Exekutive beteiligt. Die Vereinbarungen von Evian sind also durch dieses zweite „Ende-Feuer“ nicht desavouiert, sondern lediglich ergänzt worden. Es entspricht dies der wiederholt bekräftigten Verpflichtung der algerischen Nationalisten. Aber damit hängt wohl der nordafrikanische Hirnmel noch lange nicht voller Geigen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Exilregierung in Tunis und 4er OAS-Clan der Exobersten in Oran zu dieser Entwicklung stellen. Daß Mostefai aus Tunis bis zu einem gewissen Grad grünes Licht bekam, darf gewiß vorausgesetzt werden; aber es bleibt offen, wie sich die radikalen Elemente um Ben Bella nun verhalten werden. Ebenso unübersichtlich bleibt die Frage, ob es dem jungen Susini gelingt, den OAS-FIügel in Oran mitzureißen.

In erster Linie haben jedoch die europäischen Siedler zu entscheiden, ob die in Algier zustande gekommene Einigung für Algerien wirklich eine Wende bringen kann. Bis zur Stunde hält ihre panikartige Flucht unvermindert an. Eine Fortsetzung des Exodus kann natürlich die Texte von Evian binnen weniger Monate völlig gegenstandlos werden lassen. Dies bedeutete gleichzeitig eine gewaltige finanzielle und politische Belastung für Frankreich und ein ungeheures Handikap für die wirtschaftliche Entwicklung Algeriens. Paris sieht sich also im Moment in der etwas paradoxen und peinlichen Lage, vom zusätzlichen Verhandlungserfolg der OAS ein Abflauen der Flucht zu erhoffen. Der politischen Rechten in Frankreich käme es natürlich wie ge-wunschen, wenn die OAS durch eine derartige „Rettung“ der Verträge von Evian noch mehr feurige Kohlen auf de Gaulies Haupt sammeln würde, gerade weil sie dadurch auch selber ganz erheblich aus dem Konzept geworfen wurde.

Der Regierung dürfte es jedenfalls nicht ganz leicht fallen, der Öffentlichkeit plausibel zu machen, weshalb in diesem Moment zu einer Wiederaufnahme des Salan-Prozesses geschritten werden muß, da der FLN in Algerien seinem Erzfeind eine Amnestie gewährt. Aber solange die politischen Ambitionen der Exobersten in Oran und des verworrenen Klüngels um Sou-stelle und Bidault undurchsichtig und gefährlich erscheinen, kann das Argument der inneren Sicherheit Frankreichs noch heftig strapaziert werden. Wie sehr eine echte Waffenruhe in Algerien die innenpolitischen Akzente zu verschieben vermöchte, läßt sich jedoch bereits vermuten. Schon die nächste Parlamentsdebatte könnte darüber vielleicht schon erste Auskünfte geben.

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