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Palmström und die OAS

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„Seit 21 Jahren spreche ich im Namen Frankreichs", erwiderte Präsident de Gaulle auf seiner letzten Provinzfahrt in Aix-en-Provence einigen lärmenden Demonstranten. Noch manches andere sagte der General während dieser Reise, was nun von den Auguren wie alle übrigen Reden seit Anfang 1959 unter die Lupe genommen wird. Die Untersuchung dieser sibyllinischen Formulierungen ergibt tatsächlich keine ungenaueren Resultate als die Befragung des Kaffeesatzes, der Karten und des Vogelfluges. Die Zukunft Algeriens liegt somit weiterhin in dichtem Nebel.

Das Archiv des „Express" erzählt Unser berühmter Kollege vom „Express", Herr Servan-Schreiber, hat sich unter Hinzuziehung eines bemerkenswert lückenlosen Archivs die Aufgabe gestellt, die Entwicklung der Algerienfrage im Spiegel der Reden de Gaulles darzustellen. Das Resultat sei in kurzen Zügen wiedergegeben: Anfang 1959 in Bourges: „Der Tag ist in Sicht, da Algerien dank dem allgemeinen Verständnis seiner Bewohner befriedet sein wird.“ Vier Monate später im Fernsehen: „In Algerien ist der Erfolg der öffentlichen Ordnung von nun ab durchaus in Sicht.“ Drei Monate später in Beifort: „Ich glaube, daß wir den Weg gefunden haben, der uns zum Frieden führt." Neujahr 1960: „In Algerien ist der Weg des Friedens abgesteckt." Einige Monate später im Fernsehen: „Ich glaube, daß man einer wirklichen Lösung niemals näher war.“ Im Oktober in Brianęon: „Der Friede in Algerien steht vor der Tür.“ Ende 1960 in Digne: „Wir sind im Begriff, diesen Krieg in Algerien zu beenden, denn wir werden ihn beenden.“ Anfang 1961 in Bar-le-Duc: „Der algerische Krieg, der gegenwärtig seinem Ende entgegengeht, muß beendet werden.“ In Nancy: „Dieser Algerienkrieg geht zu Ende.“ In Metz: „Dieser Krieg geht nach militärischen Gesichtspunkten zu Ende." Zwei Monate später in Ville- franche-de-Rouergue: „Das ist das Ende dieser algerischen Affäre." Anfang Oktober im Fernsehen: „Seit drei Jahren haben wir nicht aufgehört, uns dem Ziele zu nähern.“

Der „Express“ kann seine Bewunderung darüber nicht hinter dem Berg halten, wie hier ein einziger Mann mit einem einzigen Thema die Weltöffentlichkeit in Atem hält. De Gaulle versteht sein Publikum zu fesseln wie ein Meisterregisseur. Und wie die Welt des Films, hat die Welt seiner Reden mit der Realität wenig gemein. Es ist eine Welt, in der das Opfer gerade noch rechtzeitig vom Marterpfahl losgebunden wird, der Herr Graf das Blumenmädchen heiratet und ab und zu ein Unschuldiger geopfert wird, um die Intellektuellen bei der Stange zu halten. Es ist eine Welt der prunkvollen Galaabende in der Oper, nicht der blutigen Folterungen in Polizeikerkern; eine Welt der ruhmvollen Waffentaten, nicht der meuternden Offiziere; eine Welt der nationalen Kohäsion, nicht der nationalistischen Hysterie. Sie will nichts hören von öffentlich manifestierenden Ge heimorganisationen, vom Hungerstreik tausender FLN-Häftlinge, von Gewaltstreichen gegen die algerischen Nationalisten in der Metropole im Vorfeld von Verhandlungen (die „von einem Tag auf den ändern" beginnen können), von gewissen Persönlichkeiten, die es bis zur Ministerpräsidentschaft gebracht haben und zufällig eine diametral gegensätzliche Auffassung von der französischen Algerienpolitik vertreten als der Präsident der Republik.

Wie antwortete doch der General in Draguignan, als ein Senator das Gespräch vorsichtig auf die OAS zu bringen versuchte? „L’OAS? Connais pasl“ — „OAS? Noch nie gehört I“ Der Leser erinnert sich gewiß an Christian Morgensterns Palmström, der an einer Straßenbeuge und von einem Kraftfahrzeug überfahren wurde, eingehüllt in feuchte Tücher die Gesetzesbücher prüfte, entdeckte, daß Wagen dort nicht fahren durften, und

/um Schluß kam, daß das Ganze nur ein Traum sei, da „nicht sein kann, was nicht sein darf". Wir sind weit davon entfernt, Herrn Palmström zu belächeln. Seine Haltung ist von einer großartigen Konsequenz, die jedoch einem Staatsmann höchst gefährlich werden müßte.

Während der Budgetdebatte im Palais Bourbon ist die OAS nämlich mittlerweile als salonfähige politische Kraft anerkannt worden. 138 von 537 Deputierten sprachen sich in Formulierungen, die den Gedankengängen der OAS verzweifelt nahe kamen, gegen die Politik der Selbstbestimmung aus. In der Armeedebatte unterstützten 80 Deputierte eine Vorlage, die nahezu wörtlich einem Brief Salans vom 11. September an alle Abgeordneten entnommen war. Sie forderte die Rekrutierung einer algerischen Sonderarmee durch die Aufbietung von acht Jahrgängen der französischen Siedler in Algerien. Damit hat sich eine offiziöse OAS-Fraktion im französischen Parlament gebildet, die sich vornehmlich aus algerischen Abgeordneten, dem rechten Flügel der Unabhängigen und einer Reihe Fraktionsloser zusammensetzt.

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