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Wenn der letzte Dämm bricht...

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Während alle Welt in den kritischen Tagen, da sich die Absetzung des Sultans Ben Jussuf zum zweiten Male jährte, besorgt nach Marokko blickte, ist es am vergangenen Wochenende vor allem in Algerien zu Unruhen gekommen, wie sie Nordafrika seit den Aufständen der Rif-Kabylen unter Abd el Krim nicht mehr erlebt hat. Durch die Verlegung starker französischer Einheiten nach Marokko war Algerien weitgehend von Truppen entblößt worden. Während die antifranzösischen Aktionen in Marokko eher spontanen Charakter trugen, zeichneten sich die Ueber-fälle der algerischen „Armee Allahs“ durch eine fast militärische Präzision aus. Sie operierte nach dem Muster der Vietminh in Indochina: nach den Ueberfallen zogen sich die Rebellen sofort zurück. Auch die französischen Legionäre gingen nach dem „Schema Indochina“ vor und machten neun Heimatdörfer der Aufständischen dem Erdboden gleich. „C ' e s t 1 a g u e r r e“ — „das ist kein Terror mehr, das ist offener K r i e g“, sagten Soldaten, die die Kämpfe mitgemacht hatten. Weit über tausend Tote forderte das Wochenende, davon allein tausend in Algerien, darunter mehrere hundert Europäer — nach ersten vorsichtigen Schätzungen. Frankreich hat die Chance, Marokko und Algerien nach dem Beispiel Tunesiens zu befrieden, versäumt. Die Verhandlungen zwischen französischen und nordafrikanischen Politikern, die in diesen Tagen in Aix-les-Bains stattfinden, stehen unter dem Schatten der schrecklichen Katastrophe. Wird es noch möglich sein, eine friedliche Lösung für Nordafrika zu finden? — Unser Bericht, der noch vor dem blutigen Wochenende geschrieben wurde, versucht eine eingehende Analyse der algerischen Situation zu geben. Er deckt die „Sprengstoffe“ auf, die nun zur Explosion geführt haben. „Die Furche“

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Während alle Welt in den kritischen Tagen, da sich die Absetzung des Sultans Ben Jussuf zum zweiten Male jährte, besorgt nach Marokko blickte, ist es am vergangenen Wochenende vor allem in Algerien zu Unruhen gekommen, wie sie Nordafrika seit den Aufständen der Rif-Kabylen unter Abd el Krim nicht mehr erlebt hat. Durch die Verlegung starker französischer Einheiten nach Marokko war Algerien weitgehend von Truppen entblößt worden. Während die antifranzösischen Aktionen in Marokko eher spontanen Charakter trugen, zeichneten sich die Ueber-fälle der algerischen „Armee Allahs“ durch eine fast militärische Präzision aus. Sie operierte nach dem Muster der Vietminh in Indochina: nach den Ueberfallen zogen sich die Rebellen sofort zurück. Auch die französischen Legionäre gingen nach dem „Schema Indochina“ vor und machten neun Heimatdörfer der Aufständischen dem Erdboden gleich. „C ' e s t 1 a g u e r r e“ — „das ist kein Terror mehr, das ist offener K r i e g“, sagten Soldaten, die die Kämpfe mitgemacht hatten. Weit über tausend Tote forderte das Wochenende, davon allein tausend in Algerien, darunter mehrere hundert Europäer — nach ersten vorsichtigen Schätzungen. Frankreich hat die Chance, Marokko und Algerien nach dem Beispiel Tunesiens zu befrieden, versäumt. Die Verhandlungen zwischen französischen und nordafrikanischen Politikern, die in diesen Tagen in Aix-les-Bains stattfinden, stehen unter dem Schatten der schrecklichen Katastrophe. Wird es noch möglich sein, eine friedliche Lösung für Nordafrika zu finden? — Unser Bericht, der noch vor dem blutigen Wochenende geschrieben wurde, versucht eine eingehende Analyse der algerischen Situation zu geben. Er deckt die „Sprengstoffe“ auf, die nun zur Explosion geführt haben. „Die Furche“

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G. H., Algier, im August Marokko und Tunis sind Protektorate, also Staaten, deren Souveränität de jure anerkannt und nur vorübergehend beschränkt ist. Algerien hingegen, das zwischen Tunis und Marokko liegt, mit beiden durch Geschichte, Kultur, Sprache und Religion verbunden, gilt als französisches Land, in nichts von einem der europäischen Departements Frankreichs verschieden. In Tunis und Marokko werden nationalistische Bewegungen, die auf die Wiederherstellung der völligen Unabhängigkeit ihrer Länder hinarbeiten, als selbstverständliche Erscheinungen betrachtet, was nicht hindert, daß man sie unter Umständen verbietet. In Algerien kommt den gleichen Bewegungen landesverräterischer Charakter zu, was nicht hindert, daß man sie unter Umständen zuläßt, ja sogar fördert. Tunis wurde in diesen Tagen die interne Autonomie zugestanden, Marokko steht vor Reformen, die es früher oder später so weit bringen müssen wie Tunesien. Algerien aber wird unverändert als französisches Land angesehen, auf das Vorgänge in den beiden Nachbarstaaten, mit denen es eine geographische und kulturelle Einheit, nämlich den Moghreb, das „Land der untergehenden Sonne“, bildet, keinen Einfluß haben können — weil ein Gesetz es so vorschreibt.

Gewiß ist die These, daß Algerien nichts als die Verlängerung Frankreichs in Nordafrika darstellt, juristisch und historisch kaum anfechtbar. 1830, bei Beginn der Eroberung Algeriens durch die französischen Truppen, wurde das Land in aller Form annektiert und seitdem verwaltungsmäßig als Teil Frankreichs behandelt. Außerdem ist es in seiner heutigen Form eine französische Schöpfung, die mit dem Seeräuberstaat, der vor 125 Jahren den Franzosen in die Hände fiel und nur an der Küste eine prekäre, stets von Berg- und Wüstenstämmen bedrohte Existenz führte, nicht viel mehr als den Namen gemein hat. Doch Gesetze sind, besonders in eroberten Gebieten, nicht unwandelbar und historische Ansprüche müssen oft vor denen der lebenden Generationen weichen. So entstand auch in Algerien eine nationalistische Bewegung, gleich der in Marokko und Tunis, die denselben Quellen entspringt, die nämlichen Ziele verfolgt und die nur für das Gesetz etwas völlig anderes darstellt, da nicht sein kann, was nicht sein darf.

Wie die Nationalisten in den beiden anderen Ländern des Moghreb fordern auch die algerischen die Unabhängigkeit ihres Landes und seine Trennung von Frankreich. Doch nicht immer war es so. Der algerische Nationalismus entstand ursprünglich nicht mit dem Ziel, die Trennung Algeriens von Frankreich, sondern ganz im Gegenteil zu dem Zweck, die völlige Verschmelzung beider Länder herbeizuführen, die das Gesetz befahl, die algerische Praxis aber verhinderte. Erst zwischen 1920 und 1930 vollzog sich allmählich die Wandlung der nationalistischen Bewegung, die endgültig etwa seit 1940 die Unabhängigkeit des Landes fordert, dessen völliges Aufgehen in der französischen Nation sie bis vor kurzem noch als das Erstrebenswerteste ansah. Das Verhängnis für die französisch-algerischen Beziehungen war, daß Paris diesen Richtungswechsel der nationalistischen Bewegung Algeriens nicht zu verhindern wußte.

Für den alten Herrn mit dem roten Fez auf den weißen Haaren gibt es auch heute nur eine Lösung der algerischen Frage: die Integration. „Zeit meines Lebens kämpfte ich für die Gleichberechtigung meiner Landsleute mit den Franzosen. Aber Frankreich behandelte uns im besten Fall wie die französische Frau bis zum zweiten Weltkrieg: es gab uns die Staatsbürgerschaft, aber verweigerte uns die politischen Rechte. Das Statut von 1947, das heute Algeriens Stellung regelt, würde die Handhabe bieten, um uns zu vollberechtigten Bürgern zu machen; es gibt uns das Wahlrecht, die Parität mit den ansässigen Franzosen in den Gemeinde-und Departementsräten so wie in der .Algerischen Versammlung' (dem über Steuer- und Budgetfragen beschließenden Parlament in Algier); es sichert uns eine Anzahl von Sitzen in der Pariser Nationalversammlung und im Senat — aber noch immer ist die gesamte tatsächliche Verwaltung unseres Landes in den Händen der Franzosen. Noch halte ich es nicht für zu spät, um Algerien politisch und wirtschaftlich völlig in das französische Leben einzugliedern und die Algerier in der Praxis den Franzosen gleichzustellen. Versäumt man aber die heute sich bietenden letzten Möglichkeiten dazu, so ist das Land für Frankreich verloren.“

Der junge Mann im Trenchcoat, ohne der Kopfbedeckung, die den traditionsgebundenen Moslem kennzeichnet, mit den Allüren eines Studenten aus dem Quartier latin, führt eine völlig andere Sprache: „Wir haben das Vertrauen zu Frankreich verloren, zu seinem guten Willen, uns die Gleichberechtigung zu geben, oder auch bloß den Glauben, daß es möglich ist, mosleminische Araber zu Franzosen zu machen. Unser Vaterland ist Algerien, das in den 130 Jahren der französischen Herrschaft zu einem Staat mit eigener Persönlichkeit wurde. L'nd wenn man diese These nicht gelten lassen will, nun so ist der Islam unsere Heimat, die arabische Welt unser Vaterland. Für uns gibt es nur eines: die Trennung von Frankreich und die Vernichtung jeder Spur von Kolonialismus in unserem Land.“

Exaltiert wie diese Worte sind heute die gesamte politisch erwachte Jugend Algeriens und die ganze nationalistische Bewegung — Minderheiten zweifellos, aber von entscheidender Bedeutung in diesem Land, das immer nur von Minderheiten gelenkt wurde. Mögen es auch bloß drei verhältnismäßig kleine, schlecht organisierte Parteien sein, die den nationalistischen Gedanken vertreten, so ist ihr Einfluß auf die Massen doch groß, die ihnen um so lieber folgen, je unwahrscheinlicher die Versprechungen sind, die man ihnen macht. Von den drei nationalistischen Gruppen ist die „Demokratische Union des algerischen Manifests“ die gemäßigste, vielleicht deshalb, weil ihr Führer, Ferhat Abbas, den totalen Richtungswechsel des algerischen Nationalismus in sich selbst erlebte. Vor kaum 20 Jahren konnte Abbas sich nicht genug lustig machen über die paar Sektierer, die damals schon von einem algerischen Vaterland sprachen. Heute aber fordert er im Namen des algerischen Patriotismus für Algerien die interne Autonomie, die Paris eben Tunis zugesteht, betont aber immerhin die Notwendigkeit einer dauernden französisch-algerischen Verbindung. „Wir sind der letzte Damm“, erklärte Ferhat Abbas einmal von seiner Partei, „bricht er, dann hält nichts mehr die Orientalisierung Algeriens auf!“

Diese „Orientalisierung“, die Wendung zu Kairo und zur Arabischen Liga hin, ist in der Tat das Ziel der beiden radikalen nationalistischen Gruppen Algeriens, der illegalen, aber sehr aktiven „Bewegung für den Triumph der demokratischen Freiheiten“, und der teils religiöse, teils politische Ziele verfolgenden „Vereinigung der Ulemas“ (Korangelehrten). Die „Bewegung“ war vor dem zweiten Weltkrieg ein unbedeutender Ableger' der französischen KP und ihr Führer, Hadsch Messali, nichts als ein fanatischer, politischer Führer ohne Jünger. Nach 1945 aber, als man die „Messalisten“ trotz ihres separatistischen Programms und im Widerspruch zu allen französischen Versicherungen, daß Frankreich und Algerien auf ewig miteinander verbunden seien, zu den Wahlen zuließ, zeigte sich, daß die „Bewegung“ inzwischen die Massen für sich gewonnen hatte: die Gemeinderäte fast aller nordalgerischen Städte wurden homogen „messalistisch“. Die „Bewegung“, die bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit verboten wurde, darum aber nicht aufhört, „die“ nationalistische Partei Algeriens zu sein, spaltete sich in letzter Zeit mehrmals, und eine ihrer Splittergruppen, das „Revolutionskomitee für Aktionseinheit“, tut unter ihrem Leiter, Ben Bella, von Kairo aus ihr Bestes, um den algerischen Aufständischen Hilfe aus dem Mittleren Orient zukommen zu lassen. Trotz den Spaltungen ist die „Bewegung“ nicht zu unterschätzen, da alle ihre Richtungen durch den Kampf gegen den „Kolonialismus“ und das Ziel, Algerien in die'arabische Welt einzugliedern, im entscheidenden Moment stets vereint werden.

Die für Frankreich weitaus gefährlichste nationalistische Gruppe aber ist die „Vereinigung der Ulemas“, eine ursprünglich rein religiöse Reformbewegung, die Algerien zum wahren, reinen Islam zurückzuführen sucht. Für sie ist der bloße Gedanke einer Verbindung mit dem ungläubigen Westen schon sündhaft und ihr Vorbild ist nicht das modernisierende Aegypten, sondern Saudi-Arabien, der islamische Puritanerstaat. Dieser weit verzweigte Bund kluger, gebildeter und geduldiger Menschen ist ohne Zweifel das Dynamit, das Algerien einmal in die Luft sprengen könnte, da alle großen Erschütterungen in der Geschichte Nordafrikas von religiösen Reformbewegungen gleich der „Vereinigung der Ulemas“ ausgingen.

Den nationalistischen Gruppen kommt der heutige Terror, der aus Not und der Banditentradition einiger Stämme entstand und den die Unentschlossenheit der Behörden gefährlich anwachsen ließ, höchst gelegen. Denn er dient als Beweis für ihre Behauptung, daß Algerien frei werden will, und erlaubt es anderseits den Banditen, die ursprünglich nichts als Beute zu machen suchten, sich in die Pose von Freiheitshelden zu werfen. Der Terror, den die radikalen Elemente der nationalistischen Parteien direkt unterstützen, die gemäßigten zu Agitationszwecken ausnützen, das Gezänk unter den eingesessenen Franzosen Algeriens, der Chor unkompetenter Ratgeber aus dem französischen Parteienhorst, die beschränkten. Mittel des Generalgouverneurs in Algier, die nicht immer glücklichen Einmischungen der Pariser Regierung schaffen eine Verwirrung in diesem Land, die es zu einer akuten Gefahrenzone machen. Der Terror kann ohne Zweifel, die nötige Entschlossenheit vorausgesetzt, gebrochen werden. Zurückbleiben aber wird als ungelöstes Problem das Vorhandensein eines algerischen Nationalismus, den die alte Versicherung, daß Algerien ein Stück Frankreichs ist, nicht aus der Welt schafft. So lange die nationalistische Frage besteht, ist Algerien, mit und ohne Terror, ein Krankheitsherd im französischen Organismus. Jeden Tag kann er aufbrechen. Die Folgen werden dann furchtbar sein. (Ein zweiter Aufsatz folgt.)

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