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Der Krieg im Dra-Tal

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Zwischen den steinigen und vegetationslosen marokkanischen Vorwüstengebirgen des Anti-Atlas und des Djebel-Sarro zwängt sich ein Rinnengefüge südwärts in Richtung Sahara; Kies und lehmige Erde bilden ein Geäst von großen Furchen, läai8bisf:S6i32ehn Kilomet brart die öde1 Söhötfettändschaff düfchbricht. Im Rinnengeäkt fließt iri guteh Jahren hinreichend, vom Südhang des Atlas stammendes Wasser. Selbst in trockenen Jahren bleibt der Flußboden feucht. Wie eine grüne Schlange windet sich eine Dattelpalmenkultur, dem Flußlauf folgend, durch die graugelbe Öde, passiert das zum touristischen Wüstenvorort ausgestaltete marokkanische Zagora und verläuft sich etwa 300 Kilometer weiter südlich im Sand. Wasserlos biegt das Grabensystem hier nach Südwesten um und zieht sich über 600 Kilometer als breite Senke zum Atlantik hin, den es nordwestlich des alten Karawanenknotenpunktes Tindouf erreicht. Dieses gesamte System heißt, bei Nichteingeweihten falsche Vorstellungen erweckend, Dra-Tal und die südlich des Grabens liegende trostlose, steinübersähte Fläche von der Größe Hollands und Belgiens zusammen Hammada-el-Dra, Dra-Hochebene. Fluß und Senke bilden indessen Marokkos natürlichen Ein- oder Ausgang von oder zur Sahara.

Alte Ansprüche

Schon vor neunhundert Jahren war eine fanatische islaemitische Tuareg-Sekte aus der südlichen Sahara über das Dra-Gebiet nach Marokko vorgedrungen, hatte sich des Scherifenthrons bemächtigt und nach Eroberung der südspanischen Kalifenreiche die sogenannte Almo- raviden-Herrschaft vpm Senegal bis vor die Tore Madrids gegründet. Seitdem erhebt die marokkanische Dynastie Anspruch auf die gesamte Westsahara, der freilich über die Jahrhunderte nur durch gelegentliche Expeditionen der marokkanischen Sultane demonstriert wurde. Die Expeditionen dienten der Eintreibung von Steuern für ihre ewig defizitäre Hofhaltung. Im 19. und 20. Jahrhundert robbten sich die Franzosen sowohl vom Süden, aus der alten Kolonialsiedlung Dakar am Senegal, wie vom Norden, aus dem eroberten Algier kommend, in die West- und Zentralsahara vor und schlossen diese aus verwaltungstechnischen Gründen später Algier an.

Seit 1956, Marokkos Unabhängigkeitsjahr, ist denn auch der letzte marokkanische Militär- und Grenz-

posten in Mhamid, einer Lehmhüt- tensiedlung des Ait-Atta-Stammes am Nord-Südwest-Knie der Dra- Senke, stationiert. An die 50 Kilometer weiter südlich und 100 Meter höher, am Rande des Dra-Plateaus, saß bis vor anderthalb Jahren das èrsté Miilfiärkorhnäartdo’ ‘Frahzörisch- Älgeriens “ in " einem " gleichartigen Lehmhaufen, um àie von Mhamid auf der Pißte nach Tinfouchy ziehenden Kamelkarawanen nach eventuellen Waffentransporten zu durchsuchen, welche über Südmarokko Algeriens Aufständischen im Inland zugedacht sein konnten. Dieser Funktion mit der algerischen Unabhängigkeit entledigt, war das Dra- Gebiet für kurze Zeit wieder in die archaische Ruhe früherer Zeitalter versunken.

Angeregt durch die Ölfunde ln der algerischen Mittel- und Ostsahara wird nämlich auch in der Westsahara und in Südmarokko eifrig nach neuen Quellen flüssigen Goldes gesucht. Marokko ließ sich schon die größte Raffinerie Nordafrikas vom italienischen Staatskonzern ENI unmittelbar neben seinen Großhafen Casablanca — den Ergebnissen der Ölsucher vorgreifend — errichtet. Nördlich der marokkanischen Militärpostenlinie begannen die Marokkaner daher schon kurz nach der Unabhängigkeits erklärung Algeriens, sich über die strategische Beschaffenheit der Militärpasten und den Fortgang der Ablösung durch algerische Besatzungen auf der anderen Seite zu informieren. Ende August dieses Jahres gingen sie schließlich dazu über, die eigene Besatzung-i ‘der Ihnen vdr sieben Jahren ebenfalls den

Franzosen überlassenen, mit gezackter Lehmmauer umgebenen „Bordj“, einer Art befestigten Feldlager, von Mhamid zu verstärken. Die algerische Volksarmee zog ihrerseits Mannen in den von den Franzosen geräumten Lehmfestungen auf dem Hammada-el-Dra zusammen. Seit zwei Wochen etwa streunen die beiderseitigen Militärkommandos durch die Öde und demonstrieren in den verstreuten Oasen entlang der Sickerringe des Dra wie an verlorenen Wasserlöchern des Ham- mada das Dasein ihrer respektiven Staatsmacht.

Tatsächlich hatten weder der marokkanische Thron noch die marokkanischen Nationalisten sich seit der Wiedererrichtung des unabhängigen Scherifenreichs jemals mit dem kartographischen Linealstrich von Tindouf bis Colomb-Bechar abgefunden und verlangten seit 1956, mit zunehmender Lautstärke auf die alte Steuereintreiberhoheit pochend, „ihr Stückchen Sahara“.

Zu Ende des Algerienkrieges sah Marokko seine Zeit gekommen, den Wunsch auf eigenes bodenschatzträchtiges Ödland wenigstens bis zur mauretanischen Grenze in Paris anzumelden. Eilfertig sicherte Rabat de Gaulle die saharischen Sonderrechte zu, um die dieser mit Algerien gerade in Evian feilschte. Während einer Pause der französischalgerischen Verhandlungen schickten die algerischen Nationalisten daher den damaligen Chef ihrer Exilregierung, Ferhat Abbas, nach Rabat, Marokko wegen des Griffs nach eigenem saharischen Hintergelände auf die Zeit nach der Unabhängigkeit Algeriens zu vertrösten und den französisch-algerischen Handel nicht zu stören.

Von der lauen Bruderschaft zum ideologischen Wüstenkrieg

Marokkos König, Hassan, ließ sich vertrösten, hatte er doch seinen Drang nach Süden mit „brüderlichen Vorleistungen“ untermauert, indem er die sogenannte algerische Grenzarmee vor der Unabhängigkeit auf seinem Gebiet operieren ließ und ihr überdies in Casablanca gelandete Waffen zuschleuste — eben jener Armee, welche Benbella und den Obersten Boumedienne später gegen den Widerstand der „inneren“ oder „Wilaja-Kämpfer“ in Algier an die Macht brachte. Algiers neue Herren vergaßen indessen bisher, den Wechsel auf marokkanischen Sahara- Anteil einzulösen. Gelegentliche zarte Erinnerungen auf diplomatischem Wege stießen in Algier auf Nicht-verstehen-Wollen. Ein Jahr lang mußte Hassan, noch nicht lange auf dem Thron, warten, um die mit seiner eigenen Hilfe bei seinen Untertanen aufgeputschte Sympathie fürs algerische Bruder- und Heldenvolk, voran für Benbella, ab- klingen zu lassen.

In der Zwischenzeit tat sich freilich Weiteres, für Hassan Unerquickliches, bei den algerischen „Brüdern“, nämlich deren zwar reichlich improvisierter, indessen bei der Landbevölkerung jenseits der Grenzen Anklang findender Eilmarsch in den „algerischen Bauernsozialismus“. Zeitweise mußte Hassan schon den Grenzübergang Oujda am Mittelmeer sperren, um das algero- äo äljstisclVe "Gift aus .seinen)’, Reich iernziihait¥n. Glücklicherweise sammelten sich im Gegenzug an seinem Hofe die prominentesten Gegner Benbellas, von Krim Belkassem bis zu Boussouf, welche die in Marokko verbliebenen sonstigen mit Benbella nicht einverstandenen Algerier als potentielles Hilfsvolk gegen Algier um sich scharten. Mit diesen Trümpfen ausgerüstet, zudem beglückt durch einen Wink Allahs in Form der Anfang Oktober ausgebrochenen Revolte einiger kabyli- scher Abgeordneter und des Kaby- len-Obersten Mohand in Inneralgerien, warf Hassan schließlich einige tausend Mann in den Dra-Vor- posten Mhamid und ließ diese vor kurzem im Frontalangriff gegen die algerischen Volksarmeekommandos am Rande des Dra-Plateaus Vorgehen. Nach dem Zusammenbruch marokkanisch-algerischer Verhandlungen auf Ministerebene wegen Aneinandervorbeiredens (die Algerier sprachen von örtlichen Grenzfestlegungen, die Marokkaner von „ihrer“ Sahara) reagierte Algier am Dienstag darauf mit den höchsten Registern des massenhysterischen Dramas. Auf dem berühmten Forum von Algier, wo der französische General Salan noch vor zweieinhalb Jahren zum totalen Krieg gegen die algerischen Nationalisten aufrief, verkündete Benbella unter einheizendem Volksgeschrei die „Totalmobilmachung“ aller ehemaligen algerischen Aufstandskrieger.

Marokkos in den Zeiten der unentbehrlichen Operationshilfe für die algerischen Nationalisten schon halb anerkannten Sahara-Anspruch umgingen Benbellas Propagandisten mit einem ideologischen Trick: Nordafrika und die Sahara seien eine Art maghrebinischen Volkseigentums, von dem bis dato nur die algerischen Teile wirklich befreit seien. Das unglückliche marokkanische Brudervolk befinde sich dagegen noch in der Hand eines reaktionären Königsregimes. Dessen Ansprüche auf Sahara-Anteile seien folglich ein imperialistischer Angriff auf die nordafrikanische Revolution. Mit dieser Dialektik wird der ideologische Abgrund zwischen Rabat und Algier, den bisher beide Seiten in einer Art maghrebinischer Koexistenz umgingen, erstmals offen bezeichnet.

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