6785581-1970_11_16.jpg
Digital In Arbeit

Algier—Traum und Wachen

19451960198020002020

In der Hetze des Alltags, im bitteren Kampf der Konsumgesellschaft träumt jeder von uns gelegentlich von einem fernen Eiland oder einer geheimnisvollen Stadt am Meer, wo sich Orient und Occident begegnen. Die Hauptstadt des 14-Millionen-Volkes der Algerier ist eine solche Stadt, sie steht jedem Besucher gastlich offen. Doch sollte man, wenn man sie verstehen will, europäische Vorurteile abbauen, ihre leidvolle Geschichte in den letzten Jahrzehnten studieren uiid sich mit der arabischen Mentalität vertraut machen.Algier zählt gegenwärtig 1,4 Millionen Einwohner. Wie jede Großstadt, droht es alle Grenzen zu sprengen, baut Satellitenstädte, riesige Universitätszentren und Siedlungen für Fellachen, die sich in Industriearbeiter verwandeln.

19451960198020002020

In der Hetze des Alltags, im bitteren Kampf der Konsumgesellschaft träumt jeder von uns gelegentlich von einem fernen Eiland oder einer geheimnisvollen Stadt am Meer, wo sich Orient und Occident begegnen. Die Hauptstadt des 14-Millionen-Volkes der Algerier ist eine solche Stadt, sie steht jedem Besucher gastlich offen. Doch sollte man, wenn man sie verstehen will, europäische Vorurteile abbauen, ihre leidvolle Geschichte in den letzten Jahrzehnten studieren uiid sich mit der arabischen Mentalität vertraut machen.Algier zählt gegenwärtig 1,4 Millionen Einwohner. Wie jede Großstadt, droht es alle Grenzen zu sprengen, baut Satellitenstädte, riesige Universitätszentren und Siedlungen für Fellachen, die sich in Industriearbeiter verwandeln.

Werbung
Werbung
Werbung

Von den Ufern des Meeres zu den Verwaltungspalästen, welche die Franzosen errichtet haben, bis hinauf zu den luxuriösen Villen der Botschafter breitet sich Algier auf den Berghängen strahlend weiß aus

in den Luxushotels Saint-Georges und Arletti oder in den herrlichen Geschäftsstraßen des Zentrums. In der arabischen Altstadt, der berühmten Casbah, empfindet man den Hauch des Morgenlandes und bewegt

und bietet unaufhörlich das Schauspiel einer sich in den Fluten spiegelnden Sonne. Diese Metropole zeugt von einer gelungenen Synthese zweier Kulturen. „Wir wollen eine Brücke zwischen euch Europäern und dem arabischen Raum bilden“, proklamieren pathetisch die Technokraten, die das Algerien von morgen planen.

In den Straßen offenbart sich arabischer Fatalismus. Jugendliche wie Greise, die sich in der Frühe an einer Straßenecke niederhocken und gedankenvoll in die Ferne starren. Stunden später — das gleiche Schauspiel. Man fragt sich unwillkürlich, wovon diese Leute leben, denn es sind keine Bettler im üblichen Sinn. Das neue Regime sucht die strukturelle Armut zu beseitigen. Es ist ihm jedoch nicht gelungen, wie Kemal Atatürk das Mittelalter radikal aus der Gesellschaft zu entfernen. Nach wie vor spielt die Frau eine völlig untergeordnete Rolle. In Bars und arabischen Eßlokalen sieht man keine Frauen. Der Grundsatz des christlichen Altertums wird strikt eingehalten: die Frau möge in der Kirche schweigen. Im Bereich der Fakultätsgebäude freilich tummeln sich Mädchen in Miniröcken oder Hosen, aber sie wagen selten, die Bannmeile der Universität zu überschreiten. Nicht nur einmal ist es geschehen, daß übereifrige Polizisten ihnen die Beine mit Farbe „verzierten“. In den ländlichen Gegenden ist die Emanzipierung der Frau nicht über erste schüchterne Versuche hinausgekommen.

In den Gassen der Casbah Das echte Algerien findet man nicht

sich in einer Märchenwelt. Obwohl auf engem Raum über 200.000 Menschen, vielleicht sogar 250.000, zusammengepfercht sind, stößt man nirgends auf Not, Schmutz, Laster. Tauseride Kinder, gut gekleidet und genährt, tollen auf den Stiegen und winzigen Plätzen, betrachten den

Ausländer mit Neugierde, ohne Abneigung oder Fremdenhaß zu zeigen. Verblüffend nach einem Krieg, der die algerische Nation 1,4 Millionen Opfer kostete und mit unvorstellbarer Grausamkeit geführt wurde. Die Algerier treiben mit ihren Märtyrern keinen Heroenkult. In der Casbah von Algier entwik-kelte Yacef Saadi die Technik des subversiven Krieges, fabrizierten Geheimlaboratorien Bomben, die von Minderjährigen und von grazilen Mädchen durch die Absperrungsketten der Fallschirmjäger geschmuggelt wurden, um in Bars und Kinos der weißen Bevölkerung gezündet zu werden. General Massu und seine legendären „Paras“ hatten in der Schlacht um Algier versucht, die nationalistische Partei FLN und ihre Organisationen der parallelen Verwaltung zu vernichten. Ein Besuch der Casbah bestätigt, daß dort jede Taktik einer europäischen Armee zum Scheitern verurteilt war. Während in Frankreich gegenüber dem souveränen Algerien zahlreiche Ressentiments glimmen, die erst in den letzten Monaten vom Regime Pompidou teilweise erstickt wurden, beurteilten die Araber die Epoche der Kolonialherrschaft als historisch abgeschlossen. Sie wünschen zwar die noch immer existierende einseitige wirtschaftliche und kulturelle Verflechtung mit Frankreich zu lockern, begegnen aber den Franzosen mit einem beachtlichen Maß an Toleranz. Algerien ist jung. 65 Prozent der Bevölkerung sind unter 20.

Die letzten Franzosen

Die 50.000 Franzosen, die im Land geblieben oder zurückgekehrt sind, können ohne Schwierigkeiten ihrer Arbeit nachgehen. Soweit sie die algerische Staatsbürgerschaft angenommen haben, genießen sie alle politischen Rechte des Staatsvolkes. Obwohl der Islam die offizielle Religion ist, erfreut sich die katholische Kirche uneingeschränkter Freiheit. Priester und Missionare erhalten vom Kultusministerium sogar ein monatliches Gehalt. Jeden Sonntag wird der katholische Gottesdienst von den Behörden anerkannt und gefördert. Der Kardinal-Erzbischof stellte die Kathedrale dem Islam zur Verfügung, aus der Stadtmitte ragt ein gewaltiges Beduinenzelt aus Stahlbeton — die Bischofskirche. Auf die Bewunderer gotischen oder romanischen Stils mag dieses Gotteshaus befremdend wirken. Aber es entspricht — versichern die Priester — den Ansprüchen einer Kultstätte, in der sich der christliche Araber

wohlfühlen soll. Die katholische Kirche Algeriens zeigt Gelassenheit und verfolgt die Spannungen im westlichen Katholizismus mit Skepsis und Abwehr.

Während in vielen anderen, von den Europäern geräumten Ländern Spuren des Verfalls wahrzunehmen sind, ist dies weder in Algier noch in der landwirtschaftlich genutzten Region zwischen der Metropole und den Felsengebirgen der Fall. Im Stadtteil Bab el Oued, der einstigen Hochburg europäischer Arbeiter und Kleinkaufleute, hat sich fast nichts geändert. Nach wie vor rumort es in den Straßen, wird gekauft und verkauft, werden die letzten Gerüchte verbreitet, Stammlokale aufgesucht, bahnen sich die Autos mühsam den Weg durch die Menge. Anders als in süditalienischen oder südspanischen Städten gebärden sich die Leute ruhig und würdevoll. Uberhaupt ist

festzustellen, daß der Algerier seine Selbstsicherheit wiedergefunden hat und dem Europäer gleichrangig gegenübertritt, bisweilen ■ freilich wird eine leichte Überheblichkeit spürbar.

Betörender Duft

Wir durchfuhren eine blühende Ebene. Europa lag noch unter den Schneemassen. Hier herrschte ewiger Frühling. Es war die Saison der Orangenernte, der Duft der Früchte verströmte über dag Land bis zu den pittoresken Marktplätzen der Provinzstädte.

Berühmte Schriftsteller, unter ihnen Camus, haben diese Atmosphäre, diese Stimmung beschrieben, aber das eigene Erleben übertrifft jede dichterische Aussage. Auf Karren häufen sich Berge von Orangen zum Verkauf, selten fragt ein Abnehmer nach dem Preis. Denn die Löhne sind niedrig, die Gehälter der Staatsbeamten und Industrieangestellten bescheiden. Eine Mahlzeit im Restaurant oder ein Anzug kosten ebensoviel wie.inParis.

Unvermittelt brach die Nacht herein. Eben noch stand die Sonne glühend am Horizont. Minuten später verbarg tintige Finsternis die Bauernhöfe der Mitija und die Vororte von Algier. Alle Bars sind jetzt überfüllt, die Araber haben die Gewohnheiten ihrer ehemaligen französischen Mitbürger angenommen. Doch bereits um 22 Uhr sind die Straßen des Zentrums leer. Der Tourist sucht vergeblich Nachtlokale und muß mit den Bars der Hotels vorliebnehmen.

Dort treffen die nach letzter europäischer Herrenmode gekleideten Männer der Politik und Verwaltung ihre westlichen und östlichen Freunde und Geschäftspartner. Manchmal dauert die Diskussion bis ein oder zwei Uhr früh. Die algerische Elite ist wissenshungrig und kann sich stundenlang mit politischen und soziologischen Problemen auseinandersetzen. Jede Anspielung auf Privatle-ian oder Begegnung mit Frauen ist undenkbar. Sie preisen ihre Sozial- und Agrarrevolution an, die Sexualrevolution hat diesen nordafrikanischen Staat nicht erfaßt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung