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Eine Moslemfrau namens Fatma

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ALS SIE IN DAS ZIMMER TRAT, verschwanden die Männer. Die Frauen blieben und wollten mit ihr sprechen. Dann kam ein alter Mann und gab den Frauen ein Zeichen. Sie verließen den Raum. Nur zwei junge blieben. Sie wurden einige Minuten später von ihrem Vater geholt, unter recht ungünstigen Vorzeichen für die nächsten Stunden.

Dann stand sie allein da, in dem großen Vorraum zur Bürgermeisterei in Menaville, das am Fuße der Kabylen liegt. Sie trug einen Overall, das Haar war kurz geschnitten, ihr Gesicht war nicht blaß, wie sonst die Gesichter von Moslemfrauen sind, sondern von einem Braun, an dem nicht nur die Sonne, sondern auch der Wind, Regen und Schnee gearbeitet hatten.

Abends brachte Leutnant Sian Charbell uns in die Lehmhütte, die ihr vom Militär zugewiesen worden war, nachdem kein Moslem sie aufnahm und keine Moslemfrau mit ihr zu sprechen wagte. Nächtens standen Fallschirmjäger um die Lehmhütte herum und bewachten sie wie den Palast eines Generalgouverneürs.

Fatma Broukri war an diesem Morgen von Algier, von dem großen Propagandazirkus, den Soustelle aus dem ehrlichen Willen der Zusammenarbeit zwischen Franzosen und Arabern ge--macht hatte, in ihr Heimatdorf zurückgekommen. In Algier war sie auf dem Balkon des Gouvernement Generale gestanden und hatte zu den Tausenden von Frauen gesprochen. Sie riß sich den Schleier vom Gesicht und stand in jenem Overall vor den zehntausenden Moslems und Europäern, in dem sie monatelang den Grand-Kabylie durchstreift hatte, um ihren Mann zu finden, den Mann, der ihre beiden Brüder und ihren Vater ermordet hatte.

Vor einem Jahr war Ared Broukri von ihr davongegangen. Zuerst nach Tunesien, dann in die unzugänglichen Schluchten des Grand-Kabylie, als Fuhrer der FLN. Die Brüder der Fatma hatten ihn aufgefordert, zu seiner Frau zurückzukehren oder für sie zu sorgen. Ared forderte ihre Brüder dagegen auf, ihr Dorf zu verlassen und mit der FLN zu kämpfen. Er forderte sie dreimal auf. „Ich bin mit meiner Ehre verpflichtet, dafür zu sorgen, daß meine und meiner Frau Familie den patriotischen Krieg führen“, ließ er sie wissen. Nach dem dritten Mal schickte er keine Briefe mehr, sondern Mörder. Und als der Vater der Familie nach Algier fuhr, um die Franzosen anzuklagen, weil sie ihre Generäle schützten, aber nicht sein Dorf, unterschrieb auch er sein Todesurteil.

Fatma stellte sich an die Spitze der Patrouille von Harkas, einer Moslem-Selbstverteidigungsorganisation gegen die FLN. Sie nahm den Krieg gegen die FLN auf und gegen ihren Mann. Das Dorf Menaville stand unter ihr. Aber als sie dann im Jubel der Verbrüderungsfeiern zwischen Moslems und Franzosen nach dem 13. Mai in Algier auf den Balkon des Gouvernement Generale trat, sich den Schleier vom Gesicht riß, das weiße Tuch in die Menge warf und tausende Frauen ihr folgten, stand sie plötzlich allein da. In ihrem Dorf, das sie geliebt hatte, mußte sie nun durch französische Parachutisten geschützt werden vor den Männern, die ihre Frauen schlugen, wenn sie nur den Namen Fatme Broukri aussprachen.

Fatma Broukri war an die Hilfe, war an das Mitgefühl und war an die Liebe ihres Dorfes gewöhnt gewesen. Als ich nach drei Wochen wieder nach Menaville kam, waren keine Wachtposten mehr um die Lehmhütte, in der man sie untergebracht hatte, war die Lehmhütte leer. Ihr Nachbar, Besitzer eines Citroen-DS-19-Taxi und „Ancient Combatant“, sagte: „Sie hat ihren Schleier abgelegt. Sie hat ihr Gesicht Zehntausenden von Menschen gezeigt. Moslems und Europäern. Jetzt ist sie fortgezogen. Nach dem Süden, wahrscheinlich in irgendeines jener Viertel, wo die Moslemfrauen keine Schleier tragen.“ Und er meinte damit eines jener mittelalterlichen Bordellviertel in den Mauern einer Saharaoase, Ankerplatz der von ihren Familien verstoßenen und entwurzelten Frauen aus dem ganzen Maghreb.

Das ist die Geschichte der Fatma Broukri, es' ist die Geschichte von Soustelles Versuch, die Emanzipation der Frauen zu erzwingen und über sie für die Franzosen, für sich den Eingang in die Steinhäuser und in die Lehmhütten der Moslems zu gewinnen, der in Wirklichkeit bis heute noch jedem Europäer verwehrt ist. Es ist die Geschichte eines jeden Versuchs der Frauenemanzipation von außen her. Denn das

Los der Moslemfrau, der Schleier vor ihrem Gesicht, ist heute noch das Axiom in den Lebensanschauungen jedes Moslems; des Marabou in einem gottverlassenen Nest des Atlas, der jede Minute seines Tageslaufes nach dem Koran richtete, genau so wie des Moslemchirurgen, der tagsüber im Operationssaal der Universität von Algier demonstriert und den ich abends mit europäischen Offizieren und Intellektuellen an der Bar des Hotels St-George traf. Seine Frauen — er hat drei, denn er kann es sich leisten — sind in seinem Haus eingeschlossen, und wenn er sonntags eine in seinem Bentley spazierenführt, ist ihr Gesicht bis auf die Augen verhüllt.

„IHR LOS IST SCHWERER GEWORDEN, seit die Europäer hier sind, und untragbarer seit dem Krieg zwischen Franzosen“, schildert mir Asrad, Moslemchauffeur, mit dem ich zwanzig Tage von Algier bis in die Erdölfelder von Edjeleh fuhr. Wir gingen durch die engen Straßen der Casbah in Boukari. Es ist bald Abend. Wenn wir Frauen sehen, so tragen sie schwere Lasten für die Nacht auf ihren Köpfen nach Hause. Wenn die Botengänge des Abends bestellt sind, wird keine Frau mehr außerhalb ihres Hauses sein.

Die französischen Villenbesitzer vor der Einfahrt zur Stadt müssen ihre Hausgehilfinnen vor 18 Uhr ihren Familien zurückgeben. Wenn die Mädchen später nach Hause kommen, wird nicht der französische Patron bestraft, sondern das Mädchen. Sie kommen dann um 6 Uhr wieder zu ihren „Herrschaften“ zurück, mit dem Geruch der Moslemhütte an sich, mit dem Druck der Strenge über sich. Im Haus der weißen Herrschaft dürfen sie den Schleier abnehmen und sind dann über kurze Stunden des Tages Mädchen mit schwarzem Haar, schönen Augen und einer etwas dunklen Haut, wie die Yvonne in einem Pariser Haushalt, die Mary in einem Londoner Haus, die Mitzi in Wien. Bis zum Abend, wenn sie den Schleier ums Gesicht nehmen und den Weg durch die engen Gassen der Casbah zum Haus ihrer Eltern gehen. An einem Tag werden sie dann nicht mehr bei ihrer Herrschaft erscheinen, die dann weiß, daß irgendein Moslem ihren Eltern einen günstigen Kaufantrag für die Ehe mit dem Mädchen machte.

„Freiheit für die Frauen? Warum, auch wir haben keine Freiheit“, sagt mir Asrad. „Meinst du die politische“, frage ich ihn. „Nein. Aber kann ich dich niederschießen, wenn ich will? Kann ich dir deine Uhr wegnehmen, weil sie mir gefällt? Genau sowenig kann eine Moslemfrau ihren Schleier ablegen und sich in Gesellschaft fremder Männer zeigen. Jeder hat seine Freiheit, aber jede Freiheit hat ihre Grenzen!“ — Seit die Europäer gekommen sind, bieten sie die Freiheit ihrer Frauen den Moslemfrauen an. Die Moslems versperren ihre Weiber deshalb nur um so fester in ihren Häusern. Seit der Krieg begann, sind die Straßen des letzten Dorfes von Soldaten überschwemmt, die Blicke den verschleierten Moslemfrauen zuwerfen. Für Moslemempfindungen ist jeder Blick, den ein Mann an eine fremde Frau richtet, ein gieriger Blick, und so kontrollieren sie ihre Frauen und Töchter schärfer, unbarmherziger, als sie es vorher taten. Schläge als Tagesdiät sind in das Moslemhaus erst eingezogen, seitdem die Europäer kamen.

„Das Los der Moslemfrau war eben das Los der Moslemfrau. Daß es hart ist, lehrten sie erst die Europäer und machten sie unzufrieden. Daß es geändert werden muß, sagen sie jetzt von den Rednertribünen. Wer will da ändern, wo es um unsere Frauen geht?“ — Ich höre das in der Casbah von Boukari. Aber ich sah es Tage vorher auf dem Forum vor dem Gouvernement

Generale, als Soustelle die tausenden Frauen aufforderte, die Schleier abzunehmen, und mit diesen Worten, die er als Ankündigung einer neuen Epoche der französisch-muselmanischen Freundschaft ansah, die Begeisterung ihrer arabischen Männer sofort in eisige Ablehnung verwandelte. Am Abend, in der Casbah von Algier, sah ich, daß die Häuser sorgfältiger versperrt, die Fenster dichter verhängt waren.

DAS IST NICHT DER WEG! Nicht die moderne Wohnung im Wolkenkratzer, nicht das moderne Spital, nicht die Entbindungsanstalt, nicht der Eisschrank. Alles das wird akzeptiert, aber es sieht nur so aus, als ob es das Leben des Moslems umformte. Dieses Leben sah ich in der Vierzimmerwohnung eines Wohnblocks in Algier im wesentlichen genau in derselben Weise abrollen wie in der Lehmhütte im Atlas. — Der Weg führt auch nicht über die Emanzipation der Frau. Die wird abgelehnt, geschlossen von allen Männern, und das ist die Welt des Moslems. Wagt es eine, nicht nur davon zu träumen, sondern darüber zu sprechen, wird sie bestraft; nicht nur von ihrem Mann, sondern von ihrer Familie. Wagt es eine, zu handeln, ist sie eine Ausgestoßene wie Fatma Broukri.

Natürlich gibt es Frauen, die in ihrer Familie stark genug sind, der Strafe zu entgehen, oder die die Ausstoßung nicht fürchten. Und es gibt Mädchen, die die Strafe auf sich nehmen. Die rebellischen Frauen kommen meistens aus kabylischen Stämmen und Familien, wo die Position der Frau in der Familie stärker und etwas unabhängiger ist als unter den anderen Berberfamilien und unter den Arabern. Ich sah Alsa Daridi, Operationsschwester im Spital von Setif, ich sah Turba, Pflegerin im Irrenhaus von Constantine, ich traf Lehrerinnen, die auch auf dem Schulweg den Schleier nicht trugen, was vor einem Jahr noch von der FLN mit der Todesstrafe bedroht worden war.

Ich traf aber auch Arbeiterinnen, die illegale Fabrikszellen in enger Verbindung mit der FLN ( führten, ich war bei Gerichtsverhandlungen, bei denen französisch gekleidete Arabermädchen mutig und geschliffen sich gegen ihre französischen Ankläger verteidigten. Auch die FLN ist in ihrer Stellungnahme zu dem Problem der Moslemfrau gespalten. Während die überwiegende Mehrheit die Schleierlosigkeit der Frau als Verrat an die Franzosen bestrafen will, sehen die radikalsten Gruppen in Kemal Atatürks radikaler und, wie man heute in der Türkei sehen kann, doch fruchtlos gewesenen Emanzipation und in Nassers gemäßigter Frauenemanzipation ihr Vorbild. Aber unter den Zuhörern bei der Gerichtsverhandlung wurde ich dem Bräutigam der Angeklagten vorgestellt. Ein junger Jurist, der zwei Jahre an der Sorbonne studiert hatte. „Sie werden sie nicht töten“, sagte er und meinte seine Braut. „Wir werden ihre Freiheit erzwingen und dann ... .'“ Dann wird Fazitas Zeit als Freiheitskämpferin vorbei sein und die Zeit ihrer Ehe wird beginnen. Wie der Jurist mir klarmachte, einer Moslemehe.

Das steht vor Fazita. Aber was steht vor den Lehrerinnen, den Fürsorgerinnen, den Schwestern? Ueber den breiten Strom des Niemandslandes zwischen zwei Kulturen führt, soweit ich in Algerien sah, kaum ein Weg von dem Raum, der der Moslemfrau eingeräumt ist, in die Welt, in der die europäische Frau lebt. Dieser Weg zur Integration — das hat sich erwiesen — ist ungangbar und für die Politiker versperrt.

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