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Die Lebenden von Mechta Casbah

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„KEINE BESONDEREN VORKOMMNISSE“. .. „Absolument rien change " Hier wird sich auch nicht mehr viel verändern. Der Tod in Mechta Casbah sieht sehr endgültig aus. Nur sein Geruch liegt noch über den Häusern. „Absolument rien change " meldet der Posten durch sein Feldtelephon. Er meldet das jede fünfte Minute seit dem 29. Mai. Vor dem 29. Mai war ein Dorf da und kein Posten — jetzt ist ein Posten da und kein Dorf.

„Alle Patrouillen nach Quote 32“, war das Kommando, das am Morgen des 29. Mai durch die Funkgeräte aller französischen Patrouillenwagen des Abschnitts Melouza kam. Quote 32, nicht Mechta Casbah, lautete der Befehl, denn niemand hätte gewußt, wo Mechta Casbah liegt. Es steht auf keiner Karte. Nur die wenigen, die in ihren Mauern wohnten, wußten, daß die armselige Siedlung aus Lehmhütten einen Namen hatte; und die Nachbarn, einen Tagesritt auf einem alten Esel entfernt — oder so weit ein Schrei gehört werden kann.

Am 29. Mai kam die Meldung über den Mord und dann kamen die Photos in den Illustrierten. Meistens alte Schuhe zwischen leeren Lehmhütten. Die Schuhe waren alles, was von den 302 Männern, die Lehmhütten waren alles, was vom Dorf Mechta Casbah übriggeblieben war — nach dem Besuch der Fellagahs, der am

28. Mai Um neun Uhr abends begann und am

29. Mai um fünf Uhr morgens endete. Da wurde der Name des Atlasdorfes Mechta Casbah überall bekannt.

Es ist viel über das unglückselige Dorf Mechta Casbah gesagt und geschrieben worden, das im Atlas liegt und am 28. Mai 1957 von der FLN vernichtet wurde. Aber nicht von denen, die von den Fellagahs verschont worden waren. Die FLN tötete nur die Männer in Mechta Casbah und ließ die Frauen und die Kinder am Leben. Ich habe in den Städten nach den Adressen der Frauen gefragt, die aus Mechta Casbah gekommen waren, ich habe in de i be acljba n Dörfer jpaph den, Jhajj.pn ge- such t, ich .sprach mit, arabisch en Einsch ich t- bauern, deren Höfe in der Nähe des ermordeten Dorfes liegen, und ich sprach mit französischen Soldaten, die nach Mechta Casbah kamen, als die Leichen noch warm waren. Ich glaube, ich weiß jetzt, wie ein Dorf stirbt.

„Wir mußten uns die Ohren zuhalten, so schrien sie. Sie schrien die ganze Nacht, von neun Uhr abends bis fünf Uhr morgens. Ich prügelte meine Tochter, weil sie aus dem Haus wollte. Sie hielt es nicht mehr aus und wollte wissen, warum die Frauen schreien in Mechta Casbah, das höher liegt als unser Haus, aber nicht weit entfernt. Ich wußte, warum die Frauen schrien, und ich hatte Angst. Sie waren vorher zu uns gekommen und hatten gesagt, wir dürften das Haus nicht verlassen. Sie müssen am Weg gelagert haben, denn die Frauen in Mechta Casbah begannen erst drei Stunden später zu schreien, und man braucht nur eine halbe Stunde, um von uns nach Mechta Casbah zu reiten. Wir hatten Angst vor den Fellagahs, die an unserem Haus vorbeigekommen und nach Mechta Casbah geritten waren, und wir blieben in unseren Häusern. Als es morgens ruhig geworden war, legten wir uns nieder. Wir hatten die ganze Nacht nicht geschlafen.“

DER ALTE MANN steht vor dem Brunnen des toten Dorfes. Er erzählt mir, daß seine Schwester unter den Frauen gewesen ist, die am Morgen des 29. Mai Mechta Casbah verließen, weil kein Mann am Leben geblieben war. Auch der ihre nicht. Der Brunnen hatte immer zuwenig Wasser gehabt. Jetzt läuft das Wasser über und in die Hütten.

Assad Bei hatte seine Schwester bei sich aufgenommen, aber er will sie nicht behalten. Er versucht, die französischen Posten dazu zu bewegen, die Frau mit sich nach Setif zu nehmen. „Dort wird sie schon irgendwo unterkommen. Bei mir kann sie nicht bleiben. Es tut nicht gut, mit irgend jemandem zu tun zu haben, der aus Mechta Casbah kommt. Die Fellagahs haben den Ort verurteilt — und seine Bewohner.“ — „Warum?" — „Wer weiß es? Sie werden wissen, warum sie es taten, und ich will nicht fragen."

Angst liegt über der Hügelkette des Atlas, Angst liegt im Tal, Angst vor den Fellagahs.

„Der Esel hat es gut. er lebt nicht lange, wir Frauen leben länger." Sie war auf dem Esel aus Mechta Casbah fortgeritten. Sie ritt zwei Tage lang, bis ein Bauer sie aufnahm, bei dem sie nun arbeitete. Unter den Männern, die man getötet hatte, war Assad, ihr Bräutigam, Chamid, ihr Vater, Nassed und Mohammed, ihre Brüder. „Assad und ich wollten heiraten. Dann fand Assad, daß das Leben in Mechta Casbah für ihn zu armselig und zu elend wäre. Er beschloß, nach Frankreich zu gehen und dort zu arbeiten. Assad wollte seinen Eltern Geld aus Frankreich schicken und auch ich sollte etwas Geld bekommen. Unser Dorf würde schon verhungert sein, wenn die Männer nicht Geld schickten, die nach Frankreich gegangen sind. Assad hätte schon lange weg sein sollen. Aber er fuhr nicht gerne weg und schob es immer wieder hinaus. Er hat zu lange gewartet."

„WIR SIND ÄRMER ALS DIE ARMEN", hatte der Kaid gesagt, als eine Delegation der FLN aus den Bergen ins Dorf gekommen war, um „freiwillige“ Rekruten auszuheben und um Geld zu sammeln. „Wir sind arm. Das wißt ihr selbst. Wir können euch fünf Schafe geben, mehr nicht."

„Wir sind alle arm“, hatten die Fellagahs geantwortet, „die Armen in ganz Algerien sind für uns.“ — „Wir sind ärmer als arm“, war die Antwort des Kaid gewesen, und sein Sohn, der das erzählt, will die Worte seines Vaters als wahr beweisen und zeigt auf das dürre Land um den Hügel, auf dem das getötete Dorf Mechta Casbah liegt. „Bei uns wachsen Steine, und die Sträucher verdursten. Mein Vater, der Kaid war in Mechta Casbah und mit allen Männern von Mechta Casbah starb, konnte den Fellagahs nichts geben. Kein Geld, denn Mechta Casbah lebte von dem Geld, das die Männer, die in Frankreich arbeiteten, nach Hause sandten, und davon bleibt kein Franc übrig. Keine Männer, denn in einem Dorf ohne Geld wird jeder Arm gebraucht, um gegen den Hunger zu kämpfen. Und er sagte den Fellagahs: i'iWdf SJPCfjjßU 9HE? ,Yenn . Sisifr91l5sFin . werden, könnt ihr wiederkommen. ‘

Dieser Satz kostete meinem Vater das Leben und den anderen 301 Männern unseres Dorfes. Mein Vater, der Kaid des Dorfes Mechta Casbah war, wußte damals allerdings noch nicht, daß er sein eigenes Todesurteil ausgesprochen hatte. Aber ich sah es in den Augen der Fellagahs,

die wortlos fortritten, und unter denen zwei Burschen aus dem Kabylendorf bei El Oued waren. Das Dorf ist nicht größer als Mechta Casbah, aber die Armut ist erträglicher, denn die Kabylen haben Karawanentiere und bringen Waren in die Araberdörfer, die ärmer sind. Seit Menschengedenken war keine Hochzeit zwischen Mechta Casbah und der Kabylen- siedlung bei El Oued, nur Feindschaft. Die jungen Männer von Mechta Casbah gehen nach Frankreich, um Geld zu verdienen. Die jungen Männer aus dem Kabylendorf gehen in die Berge zu den Fellagahs, denn ihr Dorf kann ohne sie leben und sogar Essen und Kleidung in ihre Berghöhlen bringen. Ich sah, was in den Herzen der Fellagahs vorging, als sie sich von meinem Vater abwandten. Ich sagte meinem Vater, daß die Männer aus dem Kabylendorf nicht ruhen würden, bis sie sich an unserem Dorf gerächt haben. Denn die alten Kämpfe zwischen den Dörfern haben heute neue Namen. Die Kabylen aus dem Nachbardorf gehören zur FLN, uns sagen sie nach, wir gehörten zur MNA. Aber wir wissen nicht genau, um was es geht.“

Arzan heißt der Sohn des Kaid. Er entging dem Massaker, weil er auf seinem Esel in das Distriktspital in Melouza geritten war, um seine Frau zu besuchen, die von Zwillingen entbunden hatte. Der Kaid, sein Vater, war getötet worden, der Vater seiner Frau, die Brüder seiner Frau und seine Brüder. Arzan meldete sich zur Harka. einer Selbstschutztruppe von arabischen Bauern, die mit französischen Waffen und unter französischem Kommando den Terror der FLN eindämmen wollen. Er weiß noch immer nicht viel mehr über die politischen Kämpfe, als daß es um seine Haut geht. „Denn die FLN sagt, sie schlüge die Franzosen, aber sie töten uns. Sie töten, wo es leicht ist, und nicht, wo die französischen Generäle und Minister sitzen. Es war kein französischer Offizier und kein reicher Colon unter den Männern, die erschossen oder mit durchschnittener Kehle in Mechta Casbah lagen, als ich vom Krankenhaus zurückgekehrt war."

Es gibt nur zwei Möglichkeiten für die armseligen Atlasbauern im Tal, in dem Mechta Casbah lag: in Angst zu ertrinken oder sich zu wehren. Es wehren sich wenige, und viele ertrinken in Angst.

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„WIR PATROUILLIERTEN AM MORGEN DES 29. MAI in den Tälern zwischen den IJiNfln 4gs jAtl bei derj tadit,.Mel(9uia" gerichtet Leutnant Nock. „Ich verfüge über vier bewaffnete Jeeps. Aber ich patrouillierte nur mit zwei, da in der Gegend seit längerer Zeit Ruhe herrscht. Sie ist zu arm, ihre Bewohner sind zu unterernährt, um das Interesse der Rebellen auf sich zu lenken. Wir begannen die Patrouille um vier Uhr morgens und waren um

neun Uhr noch im Halbschlaf. Man sitzt im Halbschlaf im Fahrzeug, wenn die Patrouille zeitig begann und durch die einschläfernde Oede des Atlas führt. Etwas vor neun Uhr wurden wir aus unserem Halbschlaf geweckt, und wir wußten nicht, wodurch. Es lag etwas in der Luft, das mit jeder Ortschaft wuchs, durch die wir fuhren. Plötzlich sah ich es im Gesicht eines Kaid. Es war Entsetzen und Angst. Die Luft war schwer wie nach einer Katastrophe, aber keiner antwortete, wenn wir fragten, was geschehen sei. Um 9.30 Uhr kam dann die Meldung durch das Funkgerät. Wir bekamen den Auftrag, sofort nach Punkt 32 19SH lahm. W iimußt?n in «dpr ,gacl|fttpg we tpgialnen wir., uns seif einer h lbf« Stunde bewegten. Das Entsetzen war wie ein Sog. Dann sahen wir die Hubschrauber über den Lehmhütten und vereinzelte Geier, die es in dieser Gegend sonst nicht gibt. Dann kam der Geruch, der noch nicht Verwesung, aber immer dort ist, wo der Tod sich vor kurz m aufgehalten hat. Ich kenne den Krieg, ich bin dreißig Jahre Soldat, aber ich habe noch nie gesehen, was Mechta Casbah am 29. Mai dieses Jahres war: ein Schlachthaus unter freiem Himmel, und als ich hörte, daß 302 Männer ermordet worden waren, schien mir die Zahl gering. Wie sie auf dem Boden lagen, sahen sie nach Tausenden aus. Sie lagen auf den Lehmwegen zwischen den Hütten, sie lagen in den Höfen, überall.“

Ein Hirtenjunge, der mit seinen Schafen erst spät zurückkam und sich nicht ins Dorf wagte, als er das Schreien hörte, erzählt:

„Wie Schafe sind sie abends von bewaffneten FLN-Männem aus den Feldern und von den Schafherden fort und in das Dorf getrieben worden. Wie Schafe wurden sie von den FLN getötet. Die Männer schrien gar nicht, sondern sie saßen in Gruppen beisammen und warteten, bis die Fellagahs zu ihnen kamen. Aber die Frauen schrien die ganze Nacht."

Der Leutnant berichtet weiter: „Als ich ankam, hatten die Frauen das Dorf schon verlassen, das ein Friedhof geworden war. Sie sollten — und das war der Wille der FLN’ — die Botschaft des Urteils und der Strafe in die Höfe der benachbarten Bauern, in die Städte und tief in die Sahara tragen. Ueberall soll gesprochen werden von dem Schrecken, den die Fellagahs verbreiten können, wenn man sich gegen sie wendet und wenn man ihren Ratschluß nicht befolgt.“

ES IST RUHIG GEWORDEN AUF DEM HÜGEL, auf dem Mechta Casbah lag. „Absolument rien change . . . „Absolument rien change" In jeder fünften Minute klingt das wie das Ticken einer sehr langsam gehenden Uhr. Der Tod in Mechta Casbah ist schon kalt geworden. Die arabischen Bauern im Atlas, die den Atem anhielten, als sie von dem Mord erfuhren, sind daran, ihn zu vergessen. Ueber den 302 Männern von Mechta Casbah liegen schon Hunderte von Ermordeten, die nachher getötet wurden. Und die FLN kündigt eine neue Offensive an. Es ist möglich, daß Mechta Casbah, das in keiner Karte eingezeichnet ist, vergessen bleibt, wenn die Orte einmal aufgerufen werdem die in ihrer Zeit vernichtet wurden.

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