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Tod eines Denkers

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Ich weiß, daß es der 25. Septem- ber 1940 war, in einem engen Dachstübchen in Port Vendres. Ich hatte mich vor ein paar Stunden schlafen gelegt, als mich ein Klop- fen an der Tür weckte. Ich sah das graue Morgenlicht durch das hohe Dachfenster und dachte, das kann doch nur das kleine Mädchen von unten sein. Es klopfte wieder, und ich stand auf und öffnete verschla- fen die Tür. Doch es war nicht das Kind. Ich rieb mir die Augen - vor mir stand einer unserer Freunde,

Walter Benjamin, der, wie viele andere, nach Marseille geflohen war, als die Deutschen Frankreich überrannten. „Der alte Benjamin", wie er bei mir hieß, ich weiß nicht recht, warum, er war ungefähr acht- undvierzig. „Gnädige Frau", sagte er, „entschuldigen Sie bitte die Stö- rung, hoffentlich komme ich nicht ungelegen." Die Welt gerät aus den Fugen, dachte ich, aber Benjamins Höflichkeit ist unerschütterlich. . „Ihr Herr Gemahl", fuhr er fort, „hat mir erklärt, wie ich Sie finden kann. Er sagte, Sie würden mich über die Grenze nach Spanien brin- gen."

Der Weg an den Friedhofsmau- ern von Cerbere entlang war jetzt leider zu gefährlich geworden. Es war ein ziemlich einfach zu finden- der Weg gewesen, und eine Reihe von Flüchtlingen hatte ihn einige Monate benützt, aber jetzt wurde er von den gardes mobiles schwer bewacht, offenbar auf Befehl der deutschen Kundt-Kommission (der Gestapo-Agentur im noch unbe- setzten Teil Frankreichs). Der ein- zige wirklich sichere Weg, der noch blieb, hatte der Bürgermeister er- klärt, war la route Lister. Das be- deutete, daß wir die Pyrenäen wei- ter westlich zu überqueren hatten, wo der Gebirgskamm höher war und demzufolge der Aufstieg an- strengender. „Das macht nichts", sagte Benjamin, „solange der Weg sicher ist. Allerdings habe ich Herz- beschwerden und werde langsam gehen müssen. Übrigens wollen noch zwei andere Leute mit mir über die Grenze, die sich mir in Marseille angeschlossen haben, eine Frau Gurland und ihr junger Sohn.

Im Gasthof trafen wir Benjamins Bekannte, die er dort auf uns hatte warten lassen, und erklärten ihnen unseren Plan. Sie waren gleich einverstanden, und ich dachte: Zum Glück sind das keine Leute, die immer waszumeckernhaben- und keine Schwierigen, vor denen ich in solchen heiklen Situationen immer Angst habe. So wanderten wir zu viert los, langsam, wie Touristen, die die Landschaft genießen. Mir fiel auf, daß Benjamin eine Akten- tasche trug, die er sicher geholt hatte, als wir im Gasthof haltge- macht hatten. Sie schien schwer zu sein, und ich fragte, ob ich ihm helfen könne. „Darin ist mein neu- es Manuskript", erklärte er mir. „Aber warum haben Sie es denn auf diesen Kundschaftsgang mit- genommen?" „Wissen Sie, diese Aktentasche ist mir das Allerwich- tigste", sagte er. „Ich darf sie nicht verlieren. Das Manuskript muß gerettet werden. Es ist wichtiger als meine eigene Person."

Am nächsten Morgen schien al- , les gut zu klappen. Die Ge- fahr, von der Polizei oder den Grenzbeamten entdeckt zu werden, war am größten beim Verlassen des Ortes und zu Beginn des Aufstiegs. Azema hatte uns eingeschärft: „Brechen Sie vor Sonnenaufgang auf, mischen Sie sich unter die Weinarbeiter, nehmen Sie nichts mit als eine musette, einen Brot- beutel, und sprechen Sie nicht! Dann können die Wachen Sie im Dunkeln nicht von den Einheimi- schen unterscheiden." Frau Gur- land und ihr Sohn hielten sich genau an die Regeln, die ich ihnen erklärt hatte, und es war mir jetzt leicht, den Weg zu finden.

Der Aufstieg wurde nun steiler. Auch waren wir uns nicht sicher über die Richtung, denn wir hatten jetzt nur Hügelabhänge und Fel- senwände vor uns. Zu meiner Über- raschung fand Benjamin sich recht gut in unserer Wegskizze zurecht und half mir, die Orientierung nicht zu verlieren. Einmal wurde uns nach etwa zwanzig Minuten klar, daß wir eine falsche Abzweigung ge- nommen hatten, denn der Weg ging nun plötzlich nach rechts und ab- wärts, der Kamm aber lag links und oben. So wanderten wir zurück und fanden die Kreuzung, bei der wir uns geirrt hatten. Der Begriff „Weg" wurde nun mehr und mehr zur Übertreibung. Dann und wann war ein Pfad zu sehen, häufiger aber war es nur eine kaum erkennbare Spur zwischen den Geröllblöcken. Bis wir zu dem steilen Weinberg kamen, den ich nicht vergessen kann.

Benjamin wanderte langsam und gleichmäßig. In regelmäßigen Ab- ständen - ich glaube, es waren zehn Minuten - machte er Halt und ruhte

sich für etwa eine Minute aus. Dann ging er in demselben gleichmäßi- gen Schritt weiter. Er hatte sich das, wie er mir erzählte, während der Nacht überlegt und ausgerech- net: „Mit dieser Methode werde ich es bis zum Ende schaffen. Ich ma- che in regelmäßigen Abständen Halt - die Pause muß ich machen, bevor ich erschöpft bin. Man darf sich nie völlig verausgaben."

Was für ein merkwürdiger Mensch, dachte ich. Kristallklares Denken, eine unbeugsame innere Kraft, und dabei ein hoffnungslo- ser Tolpatsch. Walter Benjamin schrieb einmal (in „Agesilaus San- tander") über das Wesen seiner Kraft: „... mit nichts ist meine Geduld zu überwinden." Als ich das Jahre später las, sah ich ihn wieder vor mir, wie er langsam und in gleichmäßigem Schritt den Berg- pfad entlangging. Und sein wider- sprüchliches Wesen erschien mir nun weniger absurd. Frau Gurlands Sohn Jose, er war ungefähr sech- zehn Jahre alt, und ich trugen abwechselnd die schwarze Leder- tasche; mir kam es so vor, als würde sie immer schwerer werden.

Heute, wo Benjamin als einer der wichtigen Gelehrten und Kritiker unseres Jahrhunderts gilt, heute werde ich manchmal gefragt: Was* hat er über das Manuskript gesagt? Hat er sich über den Inhalt ausge- lassen? Hat er darin ein neues phi- losophisches System entwickelt? Du lieber Himmel, ich hatte alle Hände voll zu tun, meine kleine Gruppe bergauf zu führen; die Philosophie mußte warten, bis wir über den Berg waren.

Schließlich erreichten wir den Gipfel. Ich war vorausgegangen und machte Halt, um mich umzusehen. Das Bild erschien so unverhofft vor

mir, daß ich einen Augenblick an eine Fata Morgana glaubte. Weit unten, von wo wir gekommen wa- ren, sah man wieder das tiefblaue Mittelmeer. Auf der anderen Seite, vor uns, fielen schroffe Klippen ab auf eine Glasplatte aus durchsich- tigem Türkis - ein zweites Meer? Ja natürlich, das war die spanische Küste. Hinter uns, im Norden, im Halbkreis, Kataloniens Roussillon mit der Cöte Vermeille, der Zinno- ber-Küste, einer herbstlichen Erde mit unzähligen gelb-roten Tönen. Ich schnappte nach Luft. Solche Schönheit hatte ich noch nie gese- hen.

Ich wußte nun, daß wir uns in- zwischen in Spanien befanden, und ich wußte auch, daß der Weg von hier aus bis zum Abstieg in den Ort geradeaus weiterführte. Ich mußte nun umkehren. Die anderen hatten die nötigen Papiere und Visa, aber ich durfte nicht riskieren, auf spa- nischem Boden geschnappt zu werden. Ich blickte auf meine klei- ne Gruppe und dachte, nein, ich kann sie doch jetzt noch nicht ganz sich selbst überlassen. Noch eine kleine Strecke gehe ich mit...

Wir kamen an einem Tümpel vorbei. Das Wasser war grünlich, schleimig und stank. Benjamin kniete sich hin, um zu trinken. „Sie können das nicht trinken", sagte ich, „das Wasser ist schmutzig und sicher verseucht." „Entschuldigen Sie", sagte er, „aber ich habe keine andere Wahl. Wenn ich hier nicht trinke, kann ich vielleicht nicht bis zum Ende durchhalten." Er beugte den Kopf zum Tümpel hinunter. „Hören Sie mir doch zu", sagte ich, „wollen Sie bitte einen Moment warten und mir zuhören? Wir ha- ben es beinahe geschafft, es ist nur noch ein kurzes Stück und Sie haben

es hinter sich. Ich weiß, daß Sie es schaffen werden. Aber von dieser Brühe zu trinken, ist unmöglich. Überlegen Sie doch, seien Sie ver- nünftig. Sie holen sich Typhus." „Ja, vielleicht. Aber Sie müssen ver- stehen: Das Schlimmste, was pas- sieren kann, ist, daß ich an Typhus sterbe - nachdem ich die Grenze überschritten habe. Die Gestapo kann mich nicht mehr festnehmen, und das Manuskript wird in Si- cherheit sein. Sie müssen schon entschuldigen, gnädige Frau." Er trank. Der Weg ging nun sacht ber- gab. Es muß ungefähr zwei Uhr nachmittags gewesen sein, als wir an das Ende der Felswand kamen, und im Tal konnte ich, ganz nah, den Ort sehen. „Das dort unten ist Port-Bou! Der Ort mit der spani- schen Grenzstation, wo Sie sich melden. Diese Straße führt direkt hin. Eine richtige Straße!"

Nach ein paar Tagen kam die Nachricht: Walter Benjamin ist tot. Er hatte sich in Port-Bou in der Nacht nach seiner Ankunft das Leben genommen. Die spanische Grenzstelle hatte der Gruppe mit- geteilt, daß sie zurück nach Frank- reich gebracht würde. Eine neue Verfügung war gerade aus Madrid eingetroffen: Ohne ein französisches Ausreisevisum darf niemand nach Spanien einreisen.

Was auch immer die neue Ver- ordnung war, sie wurde, wie die vielen anderen, bald wieder aufge- hoben. Wäre die Nachricht von der Schließung der Grenze rechtzeitig zu uns auf die französische Seite gelangt, wäre zunächst niemand il- legal über die Grenze gegangen, und man hätte die weitere Entwicklung abgewartet. In diesem „Zeitalter der neuen Verordnungen" schienen die Regierungen aller Länder da- mit beschäftigt, Befehle und An- weisungen zu geben, zu widerru- fen, in Kraft zu setzen und dann wieder aufzuheben. Um durchzu- kommen, mußte man lernen, durch Löcher zu schlüpfen und sich mit allen Schlichen und Finten aus die- sem Labyrinth, das immer neue For- men annahm, herauswinden. „... faut se debrouüler": man muß sich zu helfen wissen, sich einen Weg aus dem Zusammenbruch bahnen.

Doch Benjamin war kein de- brouülard. Weltfremd, wie er war, zählte für ihn nur, daß sein Manu- skript und er selbst außerhalb des Zugriffs der Gestapo waren. Die Flucht über die Grenze hatte ihn erschöpft, und er glaubte nicht, daß er imstande wäre, sie zu wiederho- len, das hatte er bei unserem Auf- stieg zu mir gesagt. Auch für diesen Fall hatte er alles im voraus be- rechnet. Er hatte genügend Mor- phium bei sich, um sich mit einer tödlichen Dosis das Leben zu neh- men. Betroffen über seinen Tod ließen die spanischen Behörden die Gurlands Weiterreisen.

Das Manuskript konnte nicht ge- funden werden, nicht in Port-Bou, nicht in Figueras und nicht in Bar- celona. Nur die schwarze Lederta- sche wurde damals im Sterberegi- ster eingetragen mit der Bemer- kung: unos papeles mos de conteni- do desonocido - mit Papieren unbe- kannten Inhalts.

Gekürzte Fassung des Kapitels „Der alte Benjamin" aus: MEIN WEG ÜBER DIE PYRE- NÄEN. Erinnerungen 1940/41. Von Lisa Fittko Carl Hanser Verlag, München/Wien 1989. 284 Seiten, öS 232,40.

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