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Auf der Straß

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Was geht in der jungen Generation vor? Was denkt sie, was will sie? Ist die steigende Jugendkriminalität nicht ein Sturmzeichen? Nicht daß die ganze Jugend schlecht ist, aber daß sie gefährdet ist und sich selbst nicht zu helfen weiß. Nicht um die Schlechten und Gestrandeten geht es so sehr, als um die Masse der ändern, die schwanken und denen noch alle Wege offen sind. Wer die Jugend kennt, weiß, ein wie schwacher Anstoß genügt, um einen jungen Menschen nach rechts oder links zu locken. Damit aber wird meist der Wechsel für das ganze Leben gestellt. Wie mir das alles an einer Begegnung mit zwei jungen Menschen aufging, das will ich hier erzählen.

Ich fuhr, wie so oft, auf der Wientalstraße gegen Westen. Ich war noch nicht bei der Hütteldorfer Brücke, da begannen vor mir zwei Gestalten lebhaft zu winken, als wäre ein Unglück geschehen und ich müßte unbedingt halten. Ich-bremste und blieb vor ihnen stehen. Es wkreh zt eV halbwüchsige ‘Mädchen, eher Kinder ti "K/il jiidiff .JiSteiV DIIU AioilSiu all Jugj?iwlfc;fee.

„Was wollt ihr?“ fragte ich.

„Wir möchten nach St. Pölten mitfahren.“ „Was macht ihr dort?“

„Wir haben zu tun“, wichen sie aus.

„Eure Mutter weiß davon?"

„Ja, ja“, beteuerten sie und stiegen ein. Ich fuhr ab.

„Kinder, in welche Klasse geht ihr?"

„In die fünfte.“

„Wenn ihr mir nicht die Wahrheit sagt, liefere ich euch in der nächsten Wachstube ab.“

Sie nahmen es als Spaß und lachten.

„Welche Schularbeit schwänzt ihr?“

Zuerst leugneten sie, dann gestanden sie kichernd, heute würde in einem Fach geprüft, wo sie sich nur verschlechtern könnten.

„Jetzt haben wir nicht gelogen“, sagte die Große mit dem roten, weiten Rock.

Ich überlegte. Wenn ich sie hinauswarf, fahren sie mit dem nächsten. Wenn ich die Schule anrief, würde kaum etwas herauskommen, abgesehen davon, daß ich weder Zeit noch Lust hatte, Polizei zu spielen.

„Ich werde euch nicht schaden", versprach ich, „wenn ihr mir die Wahrheit sagt.“

Nun fügte die Große immer hinzu, wenn sie etwas sagten: „Das ist aber wirklich wahr." „Wie oft habt ihr schon Autostopp gemacht?“ Die Große rechnete nach: „Heute ist Freitag. Am Montag und Mittwich sind wir auch fortgefahren."

Also war das der dritte Tag in dieser Woche, daß sie geschwänzt hatten. Ich war leicht erschüttert.

„Müßt ihr keine Entschuldigung bringen?“ „Nein, wir machen das mündlich.“

Dann kam noch heraus, daß sie gewöhnlich zu dritt fortfahren. Also schwänzen gleich zehn Prozent der Klasse an drei Tagen in der Woche und es fiel nicht einmal auf.

Nein, durchfallen würden sie nicht. Bei den Lehrern seien sie nicht beliebt. Die Große ist etwas exaltiert, die Kleine ist nur Trabantin. Welche Rolle die dritte spielt, weiß ich nicht.

Nun bohrte ich weiter. Cb sie kein gutes Daheim hätten. Doch. Später allerdings kam auf, daß die eine im Krieg ihren Vater verloren hatte und bald darauf die Mutter, daß sie bei Verwandten lebt und doch nicht ha1, was sie braucht. Die Eltern der ändern schienen in

Ordnung, nur hatten sie, wie die allermeisten, keinen wirklichen Kontakt mit dem Mädchen. Die Kameradin bedeutet in diesem Alter geistig viel mehr als das Elternhaus.

Wir standen auf der Höhe des Rieder Berges und das Bauernland lag wie eine Landkarte vor uns.

„Gefällt euch die Landschaft?“

„Wir kennen sie zu gut, sind hier zu oft gefahren.“

„Warum setzt ihr euch nicht lieber in einen Park oder geht baden, anstatt auf der Landstraße zu fahren?“

„Autofahren ist schöner", meinte die Kleine. „Warum?“

Sie zuckte die Schulter und konnte es nicht formulieren. „Das, Fahren halt.“

„Und das Spiel mit dem Abenteuer!“ warf ich ein.

„Auch das.“ Und sie lachten.

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„Wenn eine? zuäringfich 'wird. ' steigen wir aus. Und wir schauen uns die Autos an, mit denen wir fahren.“

„Nach welchem Gesichtspunkte?“

„Nach dem Wagen und wer drinnen sitzt. In LKWs steigen wir nicht mehr ein.“

In diesem Zusammenhang gestanden sie, ohne Bedauern, vielmehr ein wenig stolz, daß sie keine „unbeschriebenen Blätter" mehr seien. Ich meinte, das sei für ihre Jugend ein wenig zu früh, nach der Statistik seien es in ihrem Alter nur soundso viel Prozent.

Diese Statistik sei längst überholt, sagten sie lachend.

Ob sie mit Burschen gingen? Nein, die seien zu blöd. Tanzen gingen sie auch nicht. Ich suchte nach dem Grund und kam darauf, daß sie einen schweren Komplex hatten. Im Grunde ihres Herzens suchten sie bereits nach Gefährten, aber sie hatten einige Mißerfolge gehabt und schlossen sich daher enger zusammen. Ihre Ehrlichkeit war erstaunlich.

„Wir sind nicht hübsch genug. Die Burschen wollen etwas anderes haben."

Ich mußte im Herzen lachen, blieb aber vor ihnen ernst.

„Zeig dein Gesicht", sagte ich zur Großen und sah sie an und ihre Genossin.

„Es gibt im Grunde drei Grade von Schönheit. Ausgesprochen schöne Menschen sind sehr selten, dann gibt es wenige wirklich häßliche. Und die Mehrzahl liegt dazwischen. Man kann seiner Schönheit auf zweierlei Weise nachhelfen, äußerlich und innerlich. Aeußerlich, wenn ihr euch nett anzieht und ein wenig pflegt, innerlich, wenn ihr euch bemüht, gut und edel zu sein. Das Herz strahlt aus und verklärt den Menschen. Wenn ich das Wort Lebenshaltung, Lebensführung ausspreche, sagt euch das etwas?“

Die Kleine schüttelte den Kopf, die Große schwieg.

„Irgend ein Ideal braucht der Mensch, einen Glauben. Glaubt ihr an Gott?“

„Natürlich", antwortete die Große schnell. „Warum eigentlich?"

„Weil es selbstverständlich ist, wegen der Natur und so."

„Bedeutet euch Jesus Christus etwas?“

„Gewiß, aber ich glaube nicht, daß Er Gott war. Auch das von den Engeln glaube ich nicht und was wir jetzt in der Religion hören von Moses und den Juden, das ist ein Unsinn.“

Nun fragte ich sie nach ihrer Meinung über die Zehn Gebote und die Moral.

Darüber hätten sie nicht nachgedacht, das berührte sie merkwürdigerweise nicht.

„Könnt ihr nicht mit euren Lehrern sprechen darüber, wie man leben soll?“

„Sie sind uns fremd und kennen nur ihren Stoff."

„Nein, ihr seid zu frech und selbstsicher, ihr quält sie und drum werden sie allzu früh müde. Es ist zu schwer, an euch nicht die Geduld zu verlieren. Eure Angehörigen sagen euch nichts?“

„Nein.“

„Und der Religionsprofessor?"

„Der trägt seine Sache vor, aber reden kann man mit ihm nicht. Er lebt in einer anderen Welt.“

Nun versuchte ich es mit den ändern großen Werten menschlicher Kultur.

Literatur und Geschichte interessiere sie, behauptete die Große, da hätten sie auch gute Noten. Ich ließ sie; von ihrer Lektüre erzählen. Sie gab mir den Inhalt einer Novelle von Le Fort an. Die Lehrerin hatte sie ihnen zu lesen gegeben. Sie zeigte ein gutes Verständnis und beim Erzählen veränderte sie sich, als würde sie ein anderer Mensch.

Wir fuhren in St. Pölten ein und ich fragte sie, wo ich sie absetzen sollte.

Es sei noch Zeit, baten sie, ich möge sie bis Melk mitnehmen, dann könnten sie noch immer um ein Uhr zurück sein. Also behielt ich sie bei mir und wir fuhren weiter.

Wir sprachen von der Zukunft und ich erzählte ihnen vom Leben junger Frauen, die in der Ehe und in den Kindern Erfüllung gefunden hätten. Da brach das Ewigweibliche auch in ihnen durch und sie gestanden, daß sie nichts anderes wollten. ,

„Aber ihr geht auf einem schmalen Grat. Wenn ihr Glück habt, geht das Abenteuer eures Lebens gut aus, aber ihr könnt ebenso leicht vor die Hunde gehen, wißt ihr das?“

Sie ließen die Köpfe hängen und schwiegen.

Beim heiligen Christophorus hinter dem Melker Rathaus ließ ich sie aussteigen.

„Du großer Wegführer, geleite sie“, sprach ich im stillen, Den beiden Mädchen aber reichte ich die Hände und sagte: „Lebet vorsichtig und werdet glücklich!“

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