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Peter Anich, der STERNSUCHER

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16. Fortsetzung

Diese Leute täten sonst gar durch ein allzu anstrengendes Denken ihren geringen Verstand verwüsten. Peter redete dabei umständlicher, als ihm lieb war, und ärgerlicher, als er sich selbst zugestand. Es kam ihm plötzlich auch sehr seltsam vor, daß er nun so leichthin einem Fünfzehnjährigen den Verstand absprach. Dabei blickte ihn der Blasius treuherzig an und tat, als begriffe er die zornige Rede des Älteren nicht. Sie klang längst auch weniger sicher. Ihn gelüste allein nach den seltsamen Strichen, sagte er, und es sei gewiß eine sehr schwierige Rechnung, die Peter sich da ausdenke. Er steckte dabei die spitze hueberische Nase nur noch tiefer in das Büchlein. Für sein Leben rechne er gern, rief er, er habe nur jetzt im Frühjahr und bis in den Winter hinein allzuwenig Zeit für diese hohe Kunst, auch sei er über das Multiplizieren noch lange nicht hinaus. Er sei auch schon des öftern um den Anidi-hof herumgesdilichen, habe sich aber nicht hineingewagt, denn die Leute sagten, der Peter betreibe seine Kunst längst nicht mehr. Er bettelte schließlich so lange, bis Peter, halb um den neugierigen Buben loszuwerden, mehr noch aber aus einer nicht geringen Genugtuung heraus, daß es doch ein Hueberisdier war, der da zu ihm wie zu einem Künstler aufblickte, ihm rasch erklärte, was da auf dem Papier verzeichnet stand und worum es ihm bei diesem Durcheinander von Strichen und Kreisen und Winkeln ging.

Der Bub hörte mit großen Augen zu, nickte auch immer wieder und stellte noch etliche Fragen. Peter aber klappte plötzlich das Büchlein zu und steckte es zu sich. „Vielleicht fällt mir die Lösung bis Innsbruck ein“, sagte er, „wenn man mich bis dahin in Ruhe meines Weges wandern läßt.“

„Bis Innsbruck?“ Der Bub starrte ihn an. „Weshalb willst du erst bis Innsbruck über etwas nachdenken, was doch eine ganz leichte Sache ist? Du machst dir lauter gleich hohe Pflöcke, stellst sie auf die Höhen, die du vermessen willst, dann brauchst du nicht viele, sondern immer bloß den nämlichen Meßrahmen. Das ist doch ganz einfach.“

„Ja“, sagte Peter, „das ist ganz einfach.“ Er konnte vor Schreck und Scham kaum reden. In den Augen des Buben aber war nichts von Schadenfreude oder Stolz, nur über alle Maßen glücklich waren diese Augen, „ja“, sagte Peter dann wieder, „komm morgen zu mir, Blasius. Morgen abend. Dann reden wir darüber. Es ist noch nicht alles, was ich dir zu sagen habe, und vielleicht brauch ich dich. Laß mir auch deine Brüder grüßen.“

Diese Begegnung ging Peter näher, als er sich eingestand. Er schämte sich vor sich selber, so einfach war das alles, so kindisch einfach. Dann aber dachte er an seine eigene Bubenzeit und wie er mit fünfzehn Jahren nicht weniger rasch und neugierig entschieden oder vielleicht auch die Lösung der heiklen Frage gefunden hätte, leichter gewiß als nach acht Jahren der reinen Feld- und Stallarbeit, und es beglückte und beruhigte ihn jetzt, daß noch einer auf der Welt war, im gleichen Dorf und ein Bauernbub wie er, der das Redinen so sehr liebte und die Zeichen der Meßkunst.

Der Kirchturm von Kematen hatte Peter indes schon manche Frage lösen helfen, und auch diesmal taten seine Gedanken, als er nunmehr nahe vor dem Turme stand, einen Sprung. Die Höhe des Turmes, das stand jetzt außer jedem Zweifel, hing allein von dem Verhältnis der beiden Visuren ab. Welch ein Verhältnis dies war und wie einer es finden oder auflösen konnte, das war sicherlich das Geheimnis jener Rechenkünstler, die zu Innsbruck auf der Hohen Schule lehrten. Vielleicht lag in diesem Verhältnis das Geheimnis des Dreiecks beschlossen, ja, es erschien ihm für den Augenblick sogar sicher so, und dies Geheimnis dünkte ihn jetzt auch wichtiger und dunkler als jenes des Kreisels und der Kugel.

Er stolperte aber plötzlich mitten auf der traße, so daß er beinah hinschlug. Er ärgerte sich über den Steinbrocken, der da töricht mitten im Wege lag, nur einen Atemzug

lang. Schon bedachte er den Grund für dieses Ärgernis und merkte, daß er zu sehr die Spitze des Turmes angestarrt hatte. Das war freilich die ganze letzte Strecke über der Fall gewesen. Doch hatten seine Augen vorher noch Straße und Turm in einem überblickt, nun, bei den ersten Häusern von Kematen, war er schon mit steil aufwärts gewandtem Kopf dahinspaziert. „Der Winkel!“ schrie er plötzlich und juchzte, daß die Hühner auseinanderstoben und ein altes Weib aus dem ersten Hoftor gelaufen kam. „Der Winkel, immer nur und allein der Winkel!“ Er lief ein Stück Straße zurück und zog wiederum sein Büchlein. Die Bleifeder flog über das Papier. Es ward ihm aber bald zu eng, und er zog die Striche mit dem Stock in den Sand der Straße. Der Winkelmesser lag irgendwo daheim bei den Sachen des Vaters. Aber Peter schätzte drauflos, und mehr brauchte es jetzt auch nicht. Bei 45 Grad, das war deutlich genug, mußte er so weit vom Turme abstehn, als der Turm hoch war; stand er doppelt so weit davor, dann betrug der Winkel etwa die Hälfte, und je öfter er nun die Turmhöhe auf der Straße zugab, desto mehr und rascher verengte sich der Winkel und ward, da er endlich bei' acht Turmhöhen angelangt war, ganz spitz. Er nickte und steckte das Büchlein wieder in die Tasche.

Als er das Dorf hinter sich hatte, stand die Sonne schon hoch über, den Kalkkögeln. Peter hatte aber eine klare, saubere, ja die einfachste Rechnung der Welt im Kopf, eine, die auch der kleine Blasius sogleich begreifen mußte. Sobald er den Abstand recht gemessen hatte und von irgendeinem Punkte auch den Winkel bestimmt, war die Höhe des Turmes bestimmt, die Höhe aller Türme und aller Gipfel. Er bedurfte dann gar nicht erst der Luftlinie, des Meßkreuzes und der gleichlangen Pflöcke, nur eines Winkelmessers bedurfte er, freilich eines, der groß genug war, daß er auch die kleinsten Winkel genau messen konnte. Doch eines solchen Winkelmessers bedurfte er ja auch für die Bodenvisuren, er brauchte ihn bloß senkrecht stellen. Es war sicherlich auch keine Hexerei, das nämliche Gerät bald in der Ebene, bald der Höhe nach aufzurichten, höchstens eine Frage der Geschicklichkeit, die er sich jetzt so sehr zusprach wie alles andere in der Welt der Meßkunst,

Es begab sich aber, daß Peter, al* er nun hurtig gegen Völs ausschritt und seinen glückhaften Gedanken nachhing, von einem Wildrosenstraudh her angerufen ward. Da er innehielt und nach dem Rufer ausblickte, sah er einen fremden Mann im Schatten des Strauches ruhn. Der Fremde schien nach der Art der Stadtherrn auf das zierlichste gekleidet, trug den Zopf unter dem samtenen Hut aufgebunden und Kleider aus feinem Tuch. Doch die riesigen Knöpfe glänzten nicht mehr, der Degen war rostig und auch die Ärmel wiesen genau betrachtet Flicken auf, ja die so vornehme Kleidung war nicht weniger verwittert als das scharf geschnittene höhnische Gesicht dessen, der darinnen stak.

„Du hast mich angerufen“, sagte Peter und trat auf den Strauch zu, „brauchst etwa eine Hilfe von mir? Oder soll ich dir den Weg weisen?“

„Ich hab mir mein Lebtag immer noch allein durch die Welt geholfen“, sagte der Fremde und schlug mit seinem Rohrstäbchen nach einer Hummel, „auch den Weg nach der großen Stadt München brauch ich nicht erst von Ihm erfragen. Er trägt wohl ein halbes Schwein auf den Markt nach Innsbruck?“

Peter tat einen Schritt zurück. Er gedachte der mütterlichen Warnung. „Ich trage kein halbes und kein Viertelschwein mit mir nach Innsbruck“, sagte er rasch, „und überhaupt nichts, was dich verlocken könnte.“

Der andere pfiff durch die Zähne. „Wenn ich dich jetzt niederhau, du Kröte“, rief er mit mächtigem Bß, „dann werd ich dafür noch belobt. Ich bin ein alter Soldat, und ein alter Soldat schlägt jeden nieder, der ihn anspeit. Aber Ich schenk dir das Leben, Bürschchen, denn du bist ein Bauer, und ein Bauer redet zumeist noch dümmer daher, als er ist*

„Wie du meinst“, sagte Peter und wandte ihm den Rücken. Der Fremde jedoch schrie ihm nadi. So billig käme er um eine gerechte Sühne nicht herum. Er sei kein Wegelagerer, kein Landstreicher oder Marodeur, sondern ein in vielen Künsten erfahrener Mann, Philosoph und Zeichenkünstler, Architekt und Meister der Artillerie, Lehrer der Strategie und Festungsbaukunst, immerhin auch ein Adept der höchsten irdischen, der Liebeskunst. „Wenn ich bei Hohenfriedberg mein rechtes Bein eingebüßt habe“, setzte er feierlich hinzu, „so geh ich doch, wie Er sieht, nicht als ein trauriger Invalid durch die Welt, sondern ich pack das Leben an, wo es sich packen läßt. Versteht Er? Tat auch der Kurfürst mich nicht als Instruktor für seine kurfürstliche Artillerie berufen, gar von Venezia her, wo ich mich im Handel umgetan hab und mir auf den Wechselstuben ein schönes Stück Geld liegt! Auf meine alten Tage versteht sich. Als Wanderer trag ich niemals auch nur einen Pfennig bei mir. Ist schöner so und rechten Kerls würdiger. Auch hab ich deshalb noch nie gehungert.“

„Bist mir ein wackerer Mann“, sagte Peter kleinlaut. Es dünkte ihn, jedes Wort, das aus des Fremden Munde schloff, habe ein kleines Teufelsschwänzlein angewachsen. Immerhin hatte er einen gar gelehrten Herrn und einen Fremden dazu beleidigt. Deshalb sagte er auch nicht nein, als jener ihn nun aufforderte, neben ihn niederzusitzen, denn der Schatten des hochlöblichen Rosenbusches sei für zwei wackere Männer breit genug; es sei aber auch für einen Bauern eine große Ehre, mit einem so hochgestellten und weitberühmten Herrn ein Viertelstündchen zu verplaudern. Er selbst schätze ja auf seinen Wanderungen das niedere Volk, zumal die Bauern. Es sei gut rasten in ihrer Gesellschaft, man brauche auch nicht ständig sich mit erhabenen Reden plagen, und bei den allzuklugen fremden Leuten wisse man ja doch nie, wen man neben sich sitzen habe.

„Das weiß ich auch von mir“, sagte Peter und klemmte den Buckelkorb fest zwischen die Beine, „die erhabenen Gedanken strengen an, mich wenigstens.“ Der andere verkniff die Augen, schwieg aber vorerst, und mehr wollte Peter auch nicht. Dann zog er ruhig das Tuch vom Korb, entnahm ihm Schinken und Brot und Schnaps, schnitt ein Stück vom Brote ab und reichte dem Fremden das Messer, daß auch er eine schöne Schnitte Fleisch absäge, und sagte: „Wollen wir die Zeit nutzen, auf daß dein Wort wahr werde: bei einem Bauern ist gut rasten.“

Der Soldat, oder wer er nun war, bekam kugelrunde Augen und rümpfte jetzt die Nase mehr des leckeren Duftes willen denn aus Hochmut. Er schnitt auch tüchtig in den Schinken, tat aber vorher einen kräftigen Trunk. Peter hörte schier das Glucksen in seiner Kehle. „Wohl bekomms“, sagte er jetzt, „greif nur zu, auch wenn du sicherlich in Innsbruck herrlich gefrühstückt hast. Die Bergluft macht hungrig. Auch findest du bis München nicht leicht wieder einen vollen Sack in diesen Zeiten.“

„Wahrhaftig, es ist schad um Ihn“, sagte der Fremde, „so weis redet er daher.“

Das könne man nun nicht so einfach behaupten, entgegnete Peter. Solange ein Mensch lebe, sei es um ihn nicht schade, wisse doch keiner, was in dem anderen Menschen stecke, welche Pläne einer mit sich herumtrage, selbst wenn er bloß ein Bäuer-lein sei. Er trage ja Fleisch und Speck nicht auf den Markt nach Innsbruck, sondern schmause es, wie er sehe, und wenn ihm einer erzähle, er habe sich mit Philosophie und Artillerie beschäftigt, so sei die Meßkunst oder gar die Sternkunst auch nicht zu verachten, schon gar nicht die irdische der beiden Künste, die Meßkunst. In beiden aber habe er sich bereits in jungen Jahren umgetan, und jetzt sei er auf dem Weg nach der Stadt, um dort auf der Hohen Sthule von einem der gelehrten Herrn etliche Antworten zu erbitten, der ungelösten Fragen gebe es ja noch viele.

„Donner und Gloria!“ sdirie der Soldat, „Türken und Hagelwetter. Seine Rede ist ja nodi überraschender als sein hochlöblicher Sdinappsack. Und da trifft Er auf midi, auf mich, der, wie Er wissen mag, in seiner

Jugend auf der Rudolfina zu Wien die höh

Meßkunst und Mathematik wie ein süßes Bräutchen an seine Brust gedrückt hat, ehe er bei einem Auflauf einen Schustermeister niederschlug und dann notgedrungen in die Kriegskunst flüchtete. Auch diese ist freilich nichts anderes als Meßkunst und Mathematik, sofern es die Artillerie betrifft. Donner und Gloria, Er will auf die Hohe Schule zu den Jesuwitern! Er, ein Bäuerlein, mit seinen Pratzen und seinem langsamen Verstand! Und wo hat Er die Akademie hinter sich gebracht? Auch in Innsbruck oder im eigenen Kuhstall? Wo hat Er den, Kreis berechnen gelernt und die Kugel, das Quadrieren und das Radizieren? Trägt er vielleicht das Logarithmentäfeldien bei sich, wenn Er die Ochsen füttert, schneidet Er das Traid nach den Differentialen, bestimmt Er die Mittagsstunde mit dem Astrolabium? Türken, Bomben und Granaten, das alles muß Er doch wissen und im Schlaf hersagen können, ehe Er einem Professor auf die Zehen tritt.“

(Fortsetzung folgt)

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