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Widerstandsbewegung der Barmherzigkeit

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Wie die Tageszeitungen berichten, wird in den ersten Junitagen in London ein großes -Siegesfest stattfinden. Die Truppen der Alliierten werden durch die Straßen der Weltstadt im Triumph marschieren, aber auch jedes kleine Volk, das sich am “Widerstand gegen die furchtbaren Gewalten des Nationalsozialismus tätig beteiligte, soll mit einer Abordnung vertreten sein. Noch niemals hatte ein Siegesfest eine so uneingeschränkte Berechtigung; denn noch niemals wurde ein so gefährlicher Feind des Menschentums niedergezwungen.'

In diesem Siegeszug ohnegleichen gehen unsichtbar auch jene mit, die sich wohl nicht mit Waffen in der Hand dem allmächtigen Hitlerismus gestellt haben, die aber nicht die geringsten seiner Widerpartner waren. Sie haben seiner grenzenlosen Mißachtung aller Menschlichkeit die ehrfürchtige Achtung jedes Menschen gegenübergestellt; seiner auf Haß, Rache und Krieg ausgerichteten Staatsführung — Liebe, Barmherzigkeit und Friedfertigkeit; seiner abwegigen Bonzenver-götzung die unentwegte Bejahung des allmächtigen Gott-Herren. Ich meine damit die guten Frauen in aller Welt, ich meine hier an dieser Stelle insbesonders die geistlichen Frauen der Klöster und Konvente in Österreich.

Der Nationalsozialismus hatte vom ersten Augenblick seines Eintrittes in Österreich den richtigen dämonischen Instinkt, daß gerade die Frauenklöster zu seinen stillsten, praktisch untätigsten, aber ideell lebendigsten Gegnern gehörten. Daß es da Zentren eines unsichtbaren, aber auch unüberwindlichen Widerstandes gab, der in der Märtyrerbereitschaft weltabgelöster Frauenherzen eine tinbesiegbare Macht darstellte. Sein Kampf gegen die Frauenklöster setzte auch sofort ein mit jener niederträchtigen Tücke, die ihn einmalig brandmarkt. Jedes einzelne unserer im Volke so sehr verwurzelten Frauenklöster mag ab April 1938 eine tränenschwere Chronik anzuführen haben. Mir liegen nähere Daten und Zahlen aus dem Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern, Gumpendorfer Straße 108, vor.

Es mußten aufgelassen werden:

22. September 1938: Hart, Oberösterreich, Ferienkolonie und Schule;

23. September 1938: Linz, Waisenhaus; 31. Dezember 1938: Inzersdorf bei Wien,

Kinderheim; 7. Jänner 1939: Wien, XV., Gebrüder-Lang-Gasse, Bubeninternat und Kinderheim;

11. März 1939: Wien, XV., Herklotzgasse, Kindergarten und Arbeitsschule;

6. Juni 1939: Hohenruppersdorf, Kindergarten und Arbeitsschule;

1. August 1939: Obernberg, Internat und Kindergarten;

28. August 1939: Eisendorf, Kindergarten und Hauskrankenpflege;

31. Oktober 1939: Weidling, Greisenasyl

und Landeskindergarten; 30. November 1939: Wien, IX., Augasse,

Kindergarten;

30. April 1940: Deutsch-Brodersdorf, Kindergarten und Arbeitsschule;

31. Jänner 1940: Linz, Haus der Barmherzigkeit;

6. September 1940: Groß - Engersdorf, Landeskindergarten und Hauskrankenpflege;

17. September 1940: Bernhardstal, Altersheim;

18. September 1940: Alland, Kindergärten und Arbeitschule;

30. September 1940: Maria-Anzbach, Marianum, Altersheim;

15. November 1942: Gschwendt, Oberösterreich, Irrenanstalt;

25. November 1942: Pillichsdorf, Landeskindergarten und Hauskrankenpflege;

29. November 1942: Obersdorf, Landeskindergarten und Arbeitsschule.

Die Liste ist nicht vollständig. Es mußten aufgegeben werden insgesamt: 5 Schulen, 2 Haushaltungsschulen, 12 Arbeitsschulen, 12 Erziehungsanstalten, 26 Kindergärten, 3 Altersheime, eine Irrenanstalt. * * *

Rasch lesen sich diese Zahlen. Frauen, und gerade solche, die ihr geliebtes Heim im Kriege verloren haben, lesen mehr heraus: wieviel wertvoller, in Generationen opferwilliger Schwestern mühsam erwirtschafteter Hausrat ging verloren und wurde in alle Winde verstreut, wenn ein Haus binnen 48 Stunden geräumt werden mußte; wieviel arme Kinder wurden aus der liebevollen Geborgenheit des klösterlichen Waisenhauses in die liebelose Zerstreutheit der NSV-Schwestern gegeben; wieviel arme alte Frauen aus ihrem letzten Asyl gerissen! Wieviel Schwestern, beste Kinder unseres Volkes, mußten von der Arbeitsstätte, an der sie jahrelang ohne Dank und Lohn bis zur Selbsterschöpfung gearbeitet hatten, binnen weniger Stunden wie ertappte Diebe abziehen, kaum daß sie ihr armes Klosterfrauenbündel noch knüpfen konnten.

Ich habe selbst der Auflösung des Greisinnenheimes in Maria-Anzbach beigewohnt. Ich werde niemals die schweren Tränen an den welken Wangen vergessen, die damals geweint wurden. Ich werde sie nie vergessen, die arme alte Französin, die ein Filmschicksal in dieses Haus gebracht hatte: einst Besitzerin eines Pariser Salons der haute couture, lernte sie einen großen Wiener Schneider bei seinem Modebesuch in Paris kennen, folgte ihm als Frau nach Wien, besaß hier Stadthaus und Landvilla in Neulengbach, bis der Tod des Mannes, der erste Weltkrieg und die Geldentwertung sie zur armen, von den neuen Villenbesitzern geduldeten Ausnehmerin machten. Nun war sie, die Achtzigjährige, etwas irre geworden von all dem Leid und hatte im „Marianum“ zu Anzbach ein letztes Asyl gefunden bei jenen, die ihre Barmherzigkeit zu Dienerinnen gerade der Schiffbrüchigen macht. Sie war eine schwierige und unruhige Patientin, aber die Liebe und Geborgenheit des Hauses hatte auch sie beruhigt. Und nun sah sie im September 1940 das große eilige Packen und Räumen. Niemals werde ich den armen Blick der irren Augen vergessen und das halb bittende, halb befehlende: „Madame, qu'est ce qu'il-y-a? Je ne m'en irai jamais de ma vie, je reste chez les bonnes soeurs!“ Fremd, krank, alt und irr, von der letzten Rast vertrieben, wenige Monate vor der Friedhofsrast .

So kam in den Jahren 1938, 1939, 1940, 1941 eine Hiobsbotschaft nach der anderen in das Mutterhaus. Die Schwestern kamen heim, von dort und da, müde, traurig, aufgezehrt. Gut, daß sie ein Mutterhaus hatten und eine wundervolle Mutter darin, die Generaloberin Helene Ruprechtsberger. Sie hat hunderte Schwestern wieder aufgerichtet und hat sie wieder an neue Arbeitsplätze gestellt: Daß sie am 5. November 1944, als Teile des Mutterhauses und seine schönsten Spitalseinrichtungen von neun Bomben zerstört wurden, nicht wankte und zusammenbrach,sondern ihre Sdiwestern das Tedeum anstimmen. hieß, das kann wohl nur sub specie aeternitatis verstanden werden.

Wie antworteten die Barmherzigen Schwestern auf die Raubüberfälle des Nationalsozialismus? So eben, wie nur Barmherzige Schwestern antworten. Ich will nicht von dem verstärkten Suppendienst sprechen, der mit der kartenmäßigen Rationierung der Lebensmittel einsetzte und von den Opfern der Schwestern gespeist wurde; ich will auch nicht reden von der moralischen und materiellen Stützung so mancher von den Nazis Verfehmten; ganz kurz will ich nur jenes Liebeswagnis erwähnen, durch das eine alte, 90jährige jüdische Frau, die katholische Caritas von Breslau nach Wien gebracht hatte (wo sie eine arische Schwiegertochter vergeblich zur Hilfe erwartete), wochenlang im Pfortenzimmer beherbergte, eine Frau, die mehr Wartung und Hilfe brauchte als ein Säugling. Und dieses mit Todesstrafe bedrohte Wagnis n m der Liebe Christi willen.

Mit August 1939 schon wurde das Spital d er B a r m h e r z i g e n Schwestern in der Liniengasse als Reservelazarett IIa eingerichtet. Zunächst ausschließlich als Spital für Kriegsgefangene. Mögen vorerst wieder nur trockene Zahlen sprechen. Es wurden dort gepflegt:

1939: 87 Deutsche, 253 Polen mit insgesamt 10.766 Verpflegstagen;

1940: 2910 Kriegsgefangene mit insgesamt 80.970 Verpflegstagen;

1941: 5393 Kriegsgefangene mit insgesamt 101.560 Verpflegstagen;

1942: 4978 Kriegsgefangene und Deutsche mit insgesamt 145.014 Verpflegstegen;

1943: 5853 Kriegsgefangene und Deutsch mit insgesamt 136.63S Verpflegstagen;

1945: 3555 Kriegsgefangene und Deutsche mit insgesamt 95.025 Verpflegstagen. Das waren zum Beispiel 4691 Franzosen, darunter 93 höhere Offiziere, 758 Russen, darunter 2 Generäle, 65 Engländer, 49 Amerikaner, 1016 Belgier, 789 Polen, 597 Serben, 346 Italiener, dazu noch Angehörige neun anderer Nationen. Dazu kamen täglich 150 bis 200 ambulatorische Behandlungen. Außerdem wurde von der Klosterküche aus auch das Reservespital in der Stumpergasse mitverpflegt, wo es nur Kriegsgefangene die längste Zeit gab und wo man zum Beispiel 1942 auf 59.289 Verpflegstage kam. Und wieder eine Illustration zu diesen Zahlen. Lazarett für Kriegsgefangene: das bedeutete im nationalsozialistischen Staate eine strenge Überwachung der Schwestern durch Offiziere, Ärzte und Mannschaften, damit es ja den Kriegsgefangenen nicht zu gut ginge. Es fehlte dabei nicht an schwersten Strafandrohungen. Aber beim Anblick des namenlosen Kriegsgefangenenelendes erwachte die Widerstandsbewegung barmherziger Frauen. Heimatfernen, verwundeten, gefangenen Menschen nicht alles Liebe tun dürfen, ihnen nicht ihr schweres Leid mit allen Mitteln erleichtern können, das hätte man anderen zumuten müssen. Barmherzigen Sdiwestern nicht/

Die eine Kunst habe ich rasch selbst erlernt: wie man in die großen Pfannen und Kasserollen, in die die Portionen eingezählt wurden, unten die größeren Stücke Wurst, Käse, Kuchen legt und darüber geschickt die kleinen Abfälle „arrangiert“, so das neidische Späheraugen irgendeines Diensthabenden nicht entrüstet die zu großen Portionen der Gefangenen bekritteln konnten. Daß den größeren Stücken der Gefangenen in umgekehrter Proportion die kleineren Stücke der Schwestern entsprachen, braucht nicht erklärt zu werden.

Täglich kamen ganze Trupps von gefangenen, irgendwo in Arbeit eingestellten Polen und Russen zur ambulatorischen Behandlung. Es waren wahre Skelette darunter. Es war streng verboten, mit ihnen zu reden, noch mehr, ihnen zu essen zu geben. Umsonst hatte die gute Schwester Küchenmeisterin gebeten, den Armen wenigstens Abfälle geben zu dürfen. Aber Liebe macht erfinderisch. Die begleitenden Ordo-nanzen nahmen auch ganz gern die Einladung zu einem Teller Suppe in der Küche an. Unterdessen war Gelegenheit, die armen Gefangenen ein wenig aufzufüttern. Wie leuchteten die blutunterlaufenen Augen, wie sanft murmelte der hartlinige Mund die fremden Worte des Dankes!

Oder war sie nicht ein Widerstandshäuptling erster Sorte, die Oberschwester aus dem „Zander“? Wenn sie so mit gerunzelter Stirn gestreng die Reihen der gefangenen Franzosen durchging und unfehlbar die Ausgehungertsten auswählte, damit sie als erste zur Bestrahlung in die Kabinen kämen, so hatte sie dort schon längst einen Topf Suppe, ein paar tüchtige „Scherzin“ verstaut; gut, daß das Surren der elektrischen Motoren das leise Löffelklirren ganz verschlang!

Wieviel Schälchen echten Kaffees, wieviel Gläschen guten Weines, echten Kognaks, wie manches Stück weißen Brotes wurde heimlich unter dem großen schwarzen Umhängtuch in die Krankensäle geschmuggelt, vorbei an den spitzelnden Augen manches preußischen Hitzkopfes, immer mit der Gefahr, eines Tages entdeckt und schwerst bestraft zu werden. Und manche Schachtel Bonbons, manches kernige Stück oberösterreichischen Speckes, von sorgenden Eltern für die junge geistliche Tochter ins Kloster gebracht, trat unter der großen blauen oder weißen Arbeitsschürze den Weg in den Saal der Kriegsgefangenen an. Es war jedesmal ein Wagnis. Ein Wagnis auf Freiheit oder Gefangenschaft, auf Leben und Tod.

Und dann darf ich s i e nicht vergessen, in deren Namen und zu deren Gedächtnis diese Zeilen geschrieben sind. Eine heißgeliebte Tote. Eine Barmherzige Schwester. Auch sie meldete sich freiwillig — obwohl Novizen meisterin — zu den Nachtwachen bei den Kriegsgefangenen. Es bedürfte der meisterlichen Feder einer Handel-Mazetti, um ihre zarte, barmherzige Liebe für diese Ärmsten zu schildern. Ich sehe noch ihre tränenverschleierten Augen, höre noch ihre leise, wehdurchzitterte Stimme, wenn sie von dem armen Polen erzählte, dessen blutleere Hände sich so zärtlich um die heimliche Tasse mit dem extrasüßen Tee legte; vatt dem rungenkranken Franzosen, dessen flehentliches „mamam!“ sie von den blut-überquollenen Lippen wischte; von dem armen Serben, den man wie die andern alle mitten in der Nacht gebracht hatte, mit aufgerissener Brustdecke und der in ihren Armen verhauchte; von dem großen, schönen Engländerbuben, der sie jedesmal fragte, ob sie bald wiederkäme: „you are like mother“. Sie ist gestorben an ihrer barmherzigen Liebe für die Kriegsgefangenen; denn diese zusätzlichen Nachtwachen brauchten sie so auf, daß sie den Keim zur Tuberkulose, den sie in einem der Säle aufgefangen hatte, nicht zu überwinden vermochte. Ich weiß aber nicht, ob sie an der tückischen Krankheit starb, oder ob ihr Herz, das sich im äußersten Mitleiden verschwendet hatte, zu Tode müde gewesen...

Mit Recht rühmt sich heute jeder, der im Kampfe gegen den Nationalsozialismus Freiheit und Leben einsetzte. Darum mögen auch sie nicht vergessen sein, jene geistlichen Frauen, die tausendmal ihre Freiheit, hundertmal ihr Leben gewagt haben, um den großen Widerstand der Herzen zu wagen, durch den so viele fremdländische Menschen gesundeten, neue Hoffnung faßten und wieder zuversichtlicher und zäher in ihre Lager zurückkehrten und die heute wieder ihren Lieben geschenkt sind.

So haben lange vor dem Waffensieg Frauen die Drahtverhaue des Hasses überschritten und in ihrer barmherzigen Liebe ward die erste internationale Verständigung und Gemeinschaft geschlossen, zu einer Zeit, da die großen Staatsmänner der alliierten Mächte sehnend in ihren Gedanken und Plänen darnach Ausschau hielten.

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