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Mädchenbildung und Mädchenerziehung heute

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Die Einschätzungen von FURCHE-Autorin Anna Harmer zur Ausbildung von Mädchen im Österreich der Nachkriegszeit.

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Die Einschätzungen von FURCHE-Autorin Anna Harmer zur Ausbildung von Mädchen im Österreich der Nachkriegszeit.

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Wenn der feinsinnige und aus tiefstem Herzen heraus österreichische Historiker Dr. Wilhelm Böhm vor kurzem in Einleitung eines Vortrages vor Lehrerinnen meinte, daß es ein seltenes Glück und eine einmalige Chance für das österreichische Volk sei, sich sein Haus so von Grund auf neu nach seinen eigenen Ideen einrichten zu können, so gilt dies wohl für alle Gebiete des öffentlichen Lebens. Auch für das Gebiet der Mädchenerziehung.

Die drei Anforderungen an die Mädchenbildung

Die neue Mädchenbildung hat sich nach drei Grundforderungen hin auszurichten: nach der Eigengesetzlichkeit der Mädchenseele, nach den Forderungen der Zeit und nach den Bedürfnissen des Vaterlandes.

Es ist vieux jeu, von der weiblichen Eigenart zu sprechen. Jeder Psychologe anerkennt sie heute, jeder Jugendführer weiß um sie, sie hat sich in Männer- und Militärberufen durchgesetzt, sie hat dem Kasernendrill in Arbeitsdienst und Kriegseinsatz in guter oder schlechter Form standgehalten. Die weibliche Eigenart verlangt, um es in einem Wort zu sagen, eine Verinnerlichung aller Bildungswerte; nicht ein Weniger an Bildungsstoff, sondern ein anderes Abschattieren der Bildungsgüter und ein letztes intensives Beziehen alles Lernens auf Charakterwerte.

Die Forderungen, die unsere harte Zeit an die Mädchenbildung stellen muß, sind die: das Mädchen hat in dem Beruf, den es sich wählt – und der große Frauenüberschuß gebietet ihr mehr denn jemals Berufsarbeit, denn seine Ehepartner sind auf den Schlachtfeldern Europas geblieben –, dasselbe zu leisten wie der Mann. Die Leistungen im Beruf werden in Zukunft für Mann und Frau unerhört harte sein; daher Auslese, strengste Anforderungen, höchste Ausbildung für den Beruf.

Auch das Vaterland kann seine Forderungen an die Mädchenbildung geltend machen: Lernt das, was ihr für und in Österreich braucht! Dieses kleine Land kann nicht eine Unmenge Akademikerinnen unterbringen, es hat nicht die geeigneten Stellen für Tausende von Maturantinnen, es hat nicht so viele Plätze an Schreibmaschinen und in Büros; aber Österreich muß Export treiben mit all dem, was man von ihm und nur von ihm kauft: Export eleganter Kleider, duftiger Wäsche, guter Stickereien und kunstgewerblicher Arbeiten aller Art; Österreich muß wieder ein Mittelpunkt des Fremdenverkehrs werden und Wien soll wieder Paris und Rom zugleich sein für Mittel- und Osteuropa.

Wie kann die Mädchenbildung diesen von drei Seiten her an sie gestellten Forderungen gerecht werden? Zunächst möge das ganze Gebiet des Mädchenunterrichtes in wenigen klaren Linien und einfachen Kreuzungen aufgebaut und vor das Volk hingestellt werden. Als Unterbau Volks- und Hauptschule; die letztere ganz ähnlich der Untermittelschule gebaut, damit der Übertritt von der Hauptschule in die Mittelschule – für unsere begabten Landkinder so wichtig – jederzeit erfolgen kann. Die Mittelschule nur in drei Typen wie bei den Knaben: neusprachlich, altsprachlich, Realschule. Dabei ist gelegentliche Koedukation heute nicht mehr Gegenstand einer Diskussion. Dann aber die großen fruchtbaren Gebiete der Frauenberufsschulbildung: die gewerbliche Berufsbildung in den verschiedenen Fachschulen, die Bildung für Hauswirtschaft und Fremdenverkehr in den Hotelfachschulen und hauswirtschaftlichen Bildungsanstalten, die soziale Bildung in den Sozialen Frauenschulen und -akademien, die musische Ausbildung in Konservatorien und Schauspielschulen, und nicht zu vergessen die Bildung zum Lehrberufe, dem weiblichen Berufe par excellence.

Klare Strukturen und Spezialisierung

Alle diese Gebiete klar für sich abgegrenzt, ohne jedes Mixen, keine Mädchenoberschule hauswirtschaftlicher Richtung als Enkelkind der Höheren Töchterschule, dafür sind die dreijährigen Hauswirtschaftsschulen viel eindeutiger und arbeitstüchtiger da. Kein Berliner „Reichslehrgang“ mit „Gewerbeoberlehrerinnen“, die weder vollkommen kochen noch nähen können. Aber wohl Kreuzungspunkte für alle oben genannten Bildungsmöglichkeiten; denn manches junge Menschenkind entdeckt erst ziemlich spät seine besonderen Fähigkeiten, und es soll auch dann Stege finden, die überbrückend von einer Straße zur anderen führen.

Als Grundsatz aber gelte: Hinleitung der Mädchen zu den ihren Fähigkeiten entsprechenden Berufen. Schon beim Übertritt in die Oberschule strengste Auslese; nur der wirklich intellektuelle Mädchentyp soll zur Reifeprüfung geführt werden, dem es innere Freude macht, seinen Ovid oder Homer, seinen Racine oder Thackeray zu übersetzen und dem eine glatt gelöste mathematische Aufgabe so viel Befriedigung gibt wie anderen Mädchen ein Film. Damit entlasten wir die Universitäten von allem billigen Ausschuß und den Staat von Akademikerinnen, die weder kochen noch logisch denken können. Es ist auch andererseits so, daß die Mehrzahl der österreichischen Mädchen unzweifelhaft kunstgewerbliche Begabung hat. Daher schon nach der Haupt- oder Untermittelschule klare Entscheidungen in Elternhaus' und Schule.

Mehr Handwerkerinnen, weniger Akademikerinnen

Weg mit der engen Meinung, daß es nobler und leichter sei, sich bis zur Reifeprüfung durchzuschwindeln, als in einer Fachschule säuberlich nähen oder sparsam kochen zu lernen! Ist es nicht ein Zeichen der Unterschätzung der gewerblichen Ausbildung, wenn wir in Wien eine gutgeführte Fachschule für Kunststicken haben, die nur sechs Schülerinnen aufweist, während die Mittelschulen nicht wissen, wohin sie ihre Mädchen setzen sollen? In derselben Schule gibt es Lehrerinnen für Weißsticken — ihre originellen Taschentuchecken und Blusenajoure sind ebensoviele Exportchancen —, es gibt Lehrerinnen für Klöppeln und Gobelinweben, aber ohne Schülerinnen. Ja nicht einmal für das so wichtige Wäschenähen findet sich eine ganze Klasse zusammen.

Freilich bleibt in dieser Hinsicht auch außerschulischen Behörden vieles zu tun. Die vor 1938 so klug geführte Berufsberatung muß wieder einsetzen, die Arbeitsämter haben aufzuzeigen, wohin die Spitze des Bedarfes weist, sie müssen aber auch die Ausbildungsmöglichkeiten der Frauenberufsschulen kennen. Die Gewerkschaften haben für die weibliche Arbeiterin auf allen Gebieten einzutreten und ihr Löhne durchzusetzen, die arbeitsgerecht und lebensmöglich sind.

Alle Schulen unserer Republik, auch die Mädchenschulen, haben in diesen Monaten ihre innere Organisation zu schaffen und neue Lehrpläne vorzulegen. Sie werden dann gut und erfrischend neu gestaltet sein, wenn Umfang und Art des Lehrstoffes — vom Ziel der Schultype her bestimmt — weltaufgeschlossen und so zutiefst österreichisch sind. Wenn aber auch, und dies ist für Mädchenschulen entscheidend, alle Interessenfäden der Mädchenseele aufgegriffen und als Kette eingehängt sind in den Webstuhl des Lehrplanes, so daß der Schuß — der vielgestaltige Lehrstoff — sie alle und jeden einzelnen in dauernden Rapporten binde zu einem in Material, Zeichnung und Farbe vollkommenen Gewebe.

Die seelische Einstellung der jungen Mädchen

Öfter denn je wird man heute mit Besorgnis gefragt um die seelische Einstellung der jungen Mädchen. Man befürchtet Schlimmes, denn man kennt zumeist nur die Straßentypen, und die sind zahlreich und verbogen genug. Ganz anders zeigt sich das Bild der Schülerin. (Ich spreche von den Schülerinnen zwischen 14 und 24 Jahren.) Die Schülerinnen von 1945 zeigen eine Lernfreude, einen Einordnungs- und Opferwillen, wie ihn die vor 1938 — die Zwischenzeit kenne ich nicht aus eigener Schulerfahrung — nicht aufwiesen. Sie nehmen ja unerhörte Wagnisse und Abenteuer auf sich, die jungen Mädchen, wenn sie sich aus Kagran oder Jedlesee, aus Preßbaum und Höflein Tag für Tag im frühen Morgengrauen auf den Weg zur Schule im Stadtinnern begeben.

Und es macht alles Gerede von der leichten Wienerin zuschanden, wenn die frischen jungen Mädchen bei drei Grad Zimmertemperatur noch die Nadel führen, wenn sie mit rot aufgeschwollenen, verfrorenen Fingern noch mühsam mitschreiben, wenn sie von Floridsdorf einen schweren Sack Gemüse zur Schulwerkküche schleppen, damit man dort wieder ein Plus erlerne, und wenn sie nach achtstündiger Unterrichtszeit noch immer im frostigen Schulzimmer sitzen, um ein paar Puppen- und Kinderkleidchen zu Weihnachten verschenken zu können.

Stiller sind sie geworden und besinnlicher, unsere jungen Schülerinnen; sie haben wenig von der lauten, unbeschwerten Fröhlichkeit unserer Schülerinnen aus den dreißiger Jahren. Ihre Stirnen sind rein und hell; aber ihre Augen sind wissend geworden in persönlichster Lebens- und Leibesnot. Es hat mich im tiefsten Herzen ergriffen, als ich in einer Schule zwei kleine Photos an der Wand fand und erfuhr, daß es Schulkameradinnen waren, fünfzehnjährige Kinder, die es nicht ertragen konnten, sich entehrt zu wissen und die freiwillig den Tod suchten, die eine mit ihren zwei wenig älteren, ebenfalls mißbrauchten Schwestern, die andere zusammen mit ihrer Mutter.

Wenn solche Augen von der Schulwand grüßen, dann wird das Lachen von selbst gedämpft und alles Freuen wird stiller. Und wenn bei der Dankrede der Maturantinnen die jungen Augen sich mit Tränen füllen beim Gedenken der Kameradin, die im Philippshof eingesargt oder im Hauskeller verbrannt ist, und wenn die kleine tapfere Rednerin selbst den Vater noch in der Gefangenschaft weiß und mit der Mutter das Gasthaus mit der großen Werkküche neben der Schularbeit führt, wenn in den gewerblichen Meisterschulen bis zu 50 Prozent junger Frauen sitzen, die ihren Mann gefangen, vermißt, tot wissen und die nun mutig die unterbrochene gewerbliche Arbeit wieder aufnehmen, um für sich und das Kind Brot zu verdienen, dann bekommt man ein anderes Stehen zu den jungen Menschen, und sie sind nicht mehr Schülerinnen, sondern Schwestern im Leid.

Eine kriegsgeprägte Generation

So aufgerissen und leidgefurcht sind die Herzen unserer besten jungen Mädchen und Frauen. Noch niemals hat die Mädchenerziehung ein so tief aufgepflügtes Feld gefunden. Und die Furchen sind leer, denn das seichte filzige Unkraut der vergangenen Jahre hat der Pflüger Schmerz ausgehoben und es liegt verdorrt und verachtet an den Rändern der Furchen. Es ist aber auch erschütternd, wie leer manche Herzen sind, kein Wissen um ewige Dinge, kein klares Sehen von Gut und Böse; man hat niemals mit ihnen gesprochen von Verantwortlichkeit und sozialen Pflichten, man hat sie niemals gelehrt, in jedem Menschen den Bruder zu sehen, niemand hat sie stolz darauf gemacht, Österreicherinnen zu sein.

Nun weiß ich nur zu wohl, daß es mit der Mädchenerziehung so ist, wie John Ruskin sagt: „Gerade das ist der Unterschied zwischen der Charakterbildung eines Mädchens und eines Knaben: Du kannst einen Knaben zu einer Form meißeln wie einen Felsen oder ihn dazu hämmern, wenn er besserer Art ist, wie ein Stück Bronze. Aber ein Mädchen kannst du zu gar nichts hämmern, sie wächst wie eine Blume, sie verwelkt ohne Sonne, sie verkümmert wie eine Narzisse in ihrer Blumenhülle, wenn du ihr nicht genug Luft gibst; sie fällt und entehrt ihr Haupt im Staube, wenn du sie in einigen Augenblicken ihres Lebens ohne Hilfe läßt; aber du kannst sie nicht fesseln; sie muß ihren eigenen Weg gehen, um sich überhaupt zu entfalten und es müssen ihr für Geist und Körper immer freies und leichtes Sich-Regen und die Schritte jungfräulicher Freiheit gewahrt sein.“

Ja, man kann Mädchen zu nichts pressen, man kann ihnen nichts hinaufreden. Freilich, je kraftvoller und eindeutiger die Lehrerpersönlichkeit ist, die vor ihnen steht, desto eher könnte sie meinen, die jungen Menschen zu dem oder jenem geführt, hingezwungen zu haben. Aber wenn der Bann der Schule zerstiebt, wenn die suggestive Kraft der geliebten Lehrerin erlischt, wenn die großen Entscheidungsfragen des Lebens drängen, dann zeigt sich oft, daß das junge Mädchen ganz andere als die ihr vermeinten Wege geht. Man kann in der Mädchenerziehung meiner Erfahrung nach nur eines tun: alle guten und edlen Gedanken, nach denen junge Frauenherzen so sehr und oft genug unbewußt hungern können, mit ihnen durchdenken; alle die großen Gedanken der Religion, der Sittlichkeit, der Menschenliebe und der Vaterlandsverbundenheit. Man kann sie so groß und unvergeßlich vor ihnen aufleuchten machen, daß ein Schimmer davon auch noch in die dunkelste Versuchungsstunde und in die einsamste Leidensstunde dringt.

Aber all das ohne jedes Verpflichten und Drängen, ohne jedes Beeinflussen und Tunlassen-Wollen. Einfach so, daß man sich mit ihnen über rechtes Denken und Handeln ausspricht und die Folgen klarstellt. Und darum haben die vergangenen Jahre so wunderbar vorgearbeitet, weil sie Gut und Böse, Treue und Verrat, Liebe und Haß nahezu in Karikaturen vor den jungen Menschen herausgezeichnet haben. Diese Illustration der Geschichte sich klug nutzbar zu machen, diese unersetzliche Erziehungsarbeit des Lebens voll wirksam werden zu lassen — nochmals sei es betont — ohne zum Widerspruch reizende Aufdringlichkeit, ohne jeden nur zum Ressentiment führenden Zwang, sondern nüchtern, sachlich, feststellend — das ist die schöne Aufgabe der Mädchenerziehung von heute.

Hunger nach Freude

Darum wünschen wir für unsere höheren Mädchenberufsschulen den Religionsunterricht, nicht als verpflichtendes Fach, sondern als Wahlgegenstand. Aus diesem Grunde wurde der schöne Lehrgegenstand „Lebenskunde“ in den Lehrplan so vieler Frauenberufsschulen aufgenommen, in dem man nach Friedrich Wilhelm Försters Methode alle Lebensfragen mit den jungen Menschen bespricht. Darum die eingangs gestellte Forderung, jedem Gegenstand einen charakterbildenden Wert abzugewinnen. Es kann ja alles erziehen, jeder Unterrichtsgegenstand und alles, was im und am Lehrer ist. Das ist ja die so gar nicht auszusagende Verpflichtung und Verantwortlichkeit des Lehrberufes. Und es ist schon so, daß die Schulmeister mitschuld sind, wenn in der großen Weltgeschichte etwas fehlgeht. Einer der ersten großen Vergifter Hitlers war doch eben jener Geschichtsprofessor, der in das krankhafte Knabenhirn Geschichtslügen warf, die einen Weltbrand hervorriefen.

Mit Recht betont John Ruskin, daß das Mädchen zu seiner gesunden Entwicklung Sonne brauche. Unsere jungen Mädchen sind ausgehungert, ausgehungert auch nach Freude. Die letzten sieben Jahre haben ihnen doch so gar nichts an inniger, reiner, herzlicher Freude bieten können. Darum greifen sie ja so sehnsüchtig nach Kino, Tanz und Mann, weil sie meinen, damit ein wenig Sonnenschein in ihr graues Leben hineinzwingen zu können. Und wenn viele Menschen den Kopf über sie schütteln, wenn sie ihnen auf der Straße begegnen und sie laut tadeln, dann müßte man daran denken, daß Christus wohl nicht das ausgehungerte Mädchen, wohl aber den satten Mann an ihrer Seite getadelt und verworfen hätte. Lehren wir unseren Mädchen wieder die Freude, die wahre Freude, die keinen bitteren Nachgeschmack zurückläßt: die Freude des geistigen Erlebens, den Genuß des schönen Buches, die Erhebung der Musik, die Verzückung des hinreißenden Schauspieles, die Befriedigung der schöpferischen Arbeit, das frohe Lachen der Mädchengesellschaft und das einmalig schöne Drum und Dran eines großen Schulfestes.

Vor große und weite, vor schöne und dankbare Aufgaben sehen wir Lehrer uns heute gestellt. Wenn wir diesmal versagen, wenn wieder Jugendvergifter unter uns sind, welche Weltkatastrophe werden wir dann heraufbeschwören?

Dieser Artikel ist unter dem Titel "Mädchenbildung und Mädchenerziehung heute" am 24. Jänner 1946 in der Printausgabe der FURCHE erschienen.

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