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Die Flamme zu nähren

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Eine Einladung lag auf meinem Tisch. Eine der vielen, die vor Weihnachten ins Haus flattern. Sie lud zu einer Ausstellung von Weihnachtsgeschenken für arme Kinder. Gewerbeschülerinnen haben sie nicht nur gearbeitet, sondern auch Stoffreste, Stickgarne und Zwirn, Papier, Farbstift und Freizeit dazugegeben, Und Jugend bittet: „Beehren Sie uns mit Ihrem Besuch und lassen Sie Ihr Herz warm werden an der Liebe der Jugen d.“ Vierhundert junge Mädchen haben in vier großen Sälen ihre Arbeiten aufgelegt. Alles, was Kinder im Alter von drei bis vierzehn Jahren an Wäsche und Kleidung brauchen können, ist da: Hemdchen und Höschen für Mädchen und Buben, Strümpfe und Schühlein, Schürzen und Kleider, Jacken und Mäntel, Fäustlinge und Pullover. Alles ist aus gutem altem oder neuem Material, mit Sorgfalt und Liebe genäht, am Hemdchen noch ein reizender Zierstich, am Kleidchen Smockarbeit, jedes Stück fast ein Modell; junge Menschen schenken da nur, ganz Gutes, ganz Sauberes, mit innerster Achtung vor der Armut und voll Liebe zum Kind. Nichts von jenem „Noch- gut-genug-für-arnie-Leute!", das manchmal

Gaben so abstoßend macht. Dazu gibt es originelle Stofftiere aller Spezies, vom Mäuslein bis zur Giraffe und bis zum Elefanten, geführt von zwei Siamesen mit Turban und Seidenhose; da sind Puppenzimmer mit allen Details, ein urkomisches Kasperltheater, selbstgedichtete und selbstgemalte Märchenbücher, so daß das alte Kind in so manchem Besucher wach wird und er liebkosend über Puppen und Getier streicheln muß. Und unwillkürlich sieht man alle die ähnlichen Schulausstellungen im weihnachtlichen Österreich vor sich, denn es gibt sie überall, in Graz und Innsbruck, in Eisenstadt und Bregenz. Armut, ausgeraubte, geplünderte Armut schenkt der Armut... Die Sparsamkeit der Mütter und Großmütter fand noch immer ein Restchen Stoff und Röllchen Zwirn, Geschicklichkeit und Geschmack der Töchter wußte aus allem etwas Brauchbares zu gestalten. Und so wurde auch Weihnachten 1947 ein Fest der Liebe.

Was gäbe es für Beispiele für die fein- spürige Liebe der Jugend! Die eleganten Schülerinnen der „Michelbeucrnschule" in Wien, Töchter aus großen und kleinen Salons, beschenken Arbeiterkinder aus den

Randbezirken. In Graz spart eine dritte Klasse einer Hauswirtschaftssehule ein Paket guter Lebensmittel und kleine feine Bäckereien vom, ach!, so zuckerhungrigen Munde ab für eine alte sudetendeutsche Lehrerin, die in einem Kärntner Lager kalte, freudlose Weihnachten verbringen sollte, trotzdem sie Hunderte ! von Schülerinnen die ganze Liebe ihres Herzens gegeben hat. In' Preßbaum tragen kleine Komtessen Lichterbaum und Gaben in arme, kahle Flüchtlingsbaracken. In Salzburg laden blühende junge Mädchen welke zittrige Greisinnen, denen kein Weihnachtslichtlein leuchten würde, zum Festmahl und in Linz hat man Haufen von Strümpfen gestrickt und Reihen von Kleidern für das Rote Kreuz genäht. Eine Vorarlberger Familie, die den Vater und Ernährer in diesem Sommer verlor, schickt der in Wien studierenden Tochter Stoff und sechs gute Kinderkleider nach, damit sie an ihrer Schule nicht gabenlos dastehe. Es wurden im Vorjahre von zirka achtzig hauswirtschaftlichen und gewerblichen Lehranstalten eine weihnachtliche Geschenksumme von 5000 Kleidungsstücken, 400 Kilogramm Lebensmitteln und 2000 Schilling gemeldet; die Weihnachtsgaben von 1947 sollen, wie man voraussieht, trotz zunehmender Verarmung der Bevölkerung nicht geringer sein.

Da beginne das vom .Sorgenschutt schwerer Tage fast erstickte Herz der Älteren warm zu werden und zu fragen: Und was schenkst du, wenn Jugend so viel schenkt? Jugend, die ihre Kleidchen und ihr künstlerisches Spielzeug Umtauschen könnte gegen Fleisch und Schmalz und Kartoffeln, die den Wert ihrer Geschenke in hohen Zahlen ablesen könnte in allen Schaufenstern und doch ohne Zögern gibt! Wieviel Mut zur Menschenliebe steckt in allen diesen Gaben, von denen die jugendlichen Geber nicht wissen, ob sie in würdige Hände kommen. Das ist reines Schenken, ohne Anspruch auf Dank und Anerkennung, reine Nächstenliebe, zu der wir Älteren vielfach den Mut verloren haben ob unserer bösen Erfahrungen. Alere flammam! Lassen wir unsere Herzen warm werden an der Liebe der Jugend!.

In Linz baut man in der ehemaligen Pionierkaserne an einem Internat für die Schülerinnen einer Bundeslehranstalt. Noch steigt man über Schutthaufen, noch stolpert man über Rohre, dort und da fehlt ein Fenster, so daß es in den Gärigen zieht und windet. Schreckhaft ist es, wenn der Herbststurm in dieser Halbruine alle lockeren Türen und Fenster und Eisenteile zum Klopfen und Klappern bringt. Gezwungen durch bittersten Wohnungsmangel, hausen in diesem Gebäude dreißig junge Mädchen aus allen Teilen Oberösterreichs, um in der Hauptstadt eine Berufsausbildung zu erhalten. Man hat ihre Stuben so gut bewohnbar als möglich gemacht. Was sie aber sonst an Entbehrungen auf sich nehmen, ist unbeschreiblich; Staub und Wassermangel und das Fehlen notwendiger sanitärer Anlagen ertragen sie mit Ruhe und Heiterkeit. Ähnlich haben in Wien und Türnitz, in Krems und Baden, in R i e d am Wolfgangsee und in Klagenfurt junge Mädchen alle Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten eines Internatsaufbaues mitgemacht: Kälte des Winters und Enge des Zimmerchens, schmale Kost und Mangel an heimeligem Mobiliar, Heimweh und innere Einsamkeit ertragen sie mit nie klagender Geduld und bestem österreichischem Humor. Je ärmlicher sie es haben, um so inniger schließen sie sich aneinander und lindern sich mit lauterer Liebe das schwere Geschick einer harten Jugendzeit. Wieviel tausende “Schülerinnen und Schüler in ganz Österreich ertragen durch Jahre die unsagbaren Strapazen eines weiten Schulweges, ob sie vom Bregenzer Wald her nach Bregenz oder Feldkirch kommen auf stundenlangem Fußweg oder ob sie den Hauptstädten mit Bahn oder Autobus Zuströmen!

Man muß es durchdenken, wieviel Tapferkeit diese Geduld verlangt! Durch Jahre allem standzuhalten, was jungen Menschen schwer fällt: das frühe Aufstehen in kalten Räumen, das Auskommen mit unzulänglichen Waschmöglichkeiten, das Grauen des einsamen Schulweges in dunkler Winterfrühe, die täglichen Fahrten auf Plattformen und Trittbrettern mit rücksichtslosen älteren Mitfahrern, das Heimkehren in dunkelnder Nacht mit der heimlichen Angst vor dem „Unbekannten“, der den letzten Mantel und die einzige Ehre nehmen könnte! Und unsere beste Jugend erträgt dies, je weiter zur Schule, um so früher ist sie da, wie alle Lehrer konstatieren können; sie ist nicht vergrämt, nicht unfreudig, sie geht nicht mit einem Opfergesicht umher, sie ist lernbegierig, humorvoll, voll, federnder Frische, voll Dankbarkeit gegen alle wirkliche Güte. Alere flammam! Lassen wir unsere Herzen geduldig werden an der Geduld der Jugend!

In den österreichischen Schulen studieren tausende junger Menschen, sie machen pünktlich ihre Prüfungen, sie lernen bauen und hobeln, schweißen und fräsen, nähen und1 kochen. Dunkler liegt die Zukunft vor ihnen, als sie je vor uns Älteren lag, und schlecht sind die Aussichten auf eine gesicherte Lebensstellung. Und doch sind die Besten unter ihnen voll gelassenen Vertrauens in eine bessere Zukunft, hoffnungsfroh spannen sie ihre Pläne, daß doch irgendwo und irgendwann eine lichte Türe in ein geordnetes und gutes Leben aufgehe. Doch war die Jugend niemals so nüchtern und wirklichkeitsvertraut wie heute. Von hundertAntwortenjungerMen- sehen zwischen 16 und 24 Jah ren auf die Frage: Was ist das: „Lebe n?" antworten fast 50 Prozent, daß das Leben ein Kampf sei, für 2 8 Prozent ist das Leben Arbeit, Kampf und Sorge, keine einzige Antwort lautet auf Glück, Liebe und Freude. Einige ganz tiefe Antworten besagen, daß das Leben ein Geschenk sei, dem Wert und Berechtigung zu geben unsre Aufgabe sei. Alle hundert Antworten bejahen aber das Leben trotz Armut, Kampf und Mühsal. Auf die Frage, welche besonderen Schwierigkeiten das gegenwärtige Leben ihnen biete, antwortet ein guter Teil, daß es Hunger, Kälte, Wohnungsschwierigkeiten und Geldsorgen seien, die ihre jungen Tage oft recht bedenklich verdüsterten. „Aber ich muß diese Schule zu Ende bringen, koste es, was es wolle“, so und ähnlich lautet in den meisten Fällen der Schlußsatz dieser Überlegung.

Nun mag manch ein Pessimist den Kopf schütteln ob solchen hellen Lobes der Jugend und auf Gerichtssaalberichte und Schleichhändlerrazzien hin weisen, durch die die Verdorbenheit der Jugend von heute ins rechte Licht gesetzt werde. Abgesehen davon, daß man niemand soviel zugute halten muß als der Jugend, und da wieder der Jugend von heute, so muß ehrliche Rech nung auch sagen, daß einigen hundert angefaulter junger Menschen Tausende strebsamer opferfähiger Burschen und Mädchen gegenüberstehen, die in dem wohlwollenden und verstehenden Beobachter volle Achtung erwecken durch ihre tapfere und optimistische Lebenshaltung.

Auf dem Grabmal eines griechischen Philosophen standen die Worte zu lesen: Der Atem der Jugend erhielt ihn jung. Liebe, Geduld, Hoffnung sind die Eigenschaften echter Jugend. Sie auch in uns Älteren immer wieder neu anzuzünden und ihre Flammen zu nähren, ist ein Gebot der Stunde. Wir leben in einer Epoche der Versuchungen zur Menschenverachtung, zur Traurigkeit, zur Verzweiflung. Ganz selten sind die Gelegenheiten zur Freude und Hoffnung. Daß unsere Jugend uns soviel hellen Ausblick gibt, daß sie uns lädt, unsre Herzen warm werden zu lassen an ihrer Liebe für arme Kinder, das mag die manchmal schon recht arg zuckende Flamme unserer Liebe, unserer Geduld und unserer Hoffnung neu beleben!

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