6585696-1951_45_06.jpg
Digital In Arbeit

Auf der größten Alm Europas

Werbung
Werbung
Werbung

Uber die Alpa di Siusa, die größte Alm Europas, die in SUdtirol liegt und dort Seiseralm heißt, wandern an einem sonnegesegneten Septembertag zwei Männer, ein äußerlich etwas ungleiches Paar, gemächlich dahin. Der Jüngere, ein Mönch, ist Schweizer, berggewohnt, aus seinen hellen Augen leuchten Spannkraft und Ergebung; der Ältere, ein Österreicher, durch zwei Weltkriege und ihre Folgen in seiner Marschfähigkeit bedeutend herabgesetzt und zu häufiger Rast gezwungen, ist von gelockerterer Haltung und milderem Blick, der in fast erschreckter Freude das Bergwunder von Schiern, Rosengarten und Langkofel aus solcher Nähe in sich aufnimmt. Uber Wiesen schreiten die beiden, 1800 Meter über dem Alltag, dem sie wie alle Menschen gehören, der Priester wie der Laie, der Komponist wie der Kritiker, Berufungen, die sowohl den musizierenden Priester als das skeptische Weltkind in schönen Stunden dem Alltag überheben, aber ihm nicht entheben können. Mehr enthebt sie ihre Freundschaft und dieser in Licht ertrinkende Tag, der ihnen gemeinsam zu verbringen gegönnt ist und den sie alt kostbares Geschenk empfinden, denn es wird sich nicht häufig ergeben, daß ein Österreicher und ein Schweizer auf der größten Alm Europas, die in Italien liegt, Spazierengehen. Das Seltsame dieser Begegnung vermehrt ihre Freude, verjüngt den Älteren und beschwingt den Jüngeren bis zum Übermut, obgleich er im Gegensatz zu des Freundes leichter Bekleidung seine Kutte wie eine tapfere Buße trägt.

Sie haben einander vieles zu sagen, wie es schon Brauch ist zwischen Freunden, deren Zusammentreffen zumeist der Zufall herbeiführt. Aber sie sind zunächst zu fröhlich dazu. Sie erzählen heitere Zwischenfälle, unbedeutende Begebenheiten mit witzigen Pointen, Anekdoten von Künstlern und Kritikern, Erlebtes und Gehörtes, und kommen erst zuletzt auf ihre Angehörigen und von da auf sich selbst zu sprechen. Da steht die Sonne bereits mittäglich am Himmel und brennt mit der ganzen Kraft des sommerlichen Tages durdi Kutte und Hemdbluse. Die spielenden Schatten an den Bergwänden sind verschwunden und er ewige Schnee sieht wie eingesammeltes Sonnenlicht, die Augen blendend, von den Gipfeln. Auf dem hinteren Erker einer kleinen Wirtschaft, in unmittelbarem überwältigendem Anblick des doppeltürmigen Schiern feiern die Freunde fast schweigend Mittag, und erst dann löst sich von ihren Zungen der Ubermut und. die tiefere Herzkammer geht auf. Das ist, als wenn Kinder ihre liebsten Gegenstände aus der Schachtel nehmen und vor sich ausbreiten. Da ist manches darunter nicht vom Schönsten: ein zerbrochenes Pferdchen, ein zerrissenes Kettlein, eine verbeulte Eisenbahn, unpräsentable Dinge, die sie dennoch mehr lieben als neues frischlackiertes Spielzeug. Auch der Ernst des Lebens kennt solche Dinge. Zerbrochene Steckenpferde, zerrissene Kettlein sowie die verbeulte Eisenbahn des Ehrgeizes machen auch reifen Männern zu schaffen, selbst wenn sie Künstler und Kritiker sind und der eine sogar das Priesterkleid trägt. Es tut überaus wohl, diese ramponierten kleinen Gegenstände vor einander einmal an die Sonne zu legen und sich ihrer nicht schämen zu müssen. Auch das ist unter Freunden so, daß der eine die heimlichen Sorgen des andern liebgewinnt und sie dem Eigentümer doppelt wertvoll macht.

Auch unsere beiden Freunde packen die Siebensachen ihres Herzens aus. Hell und schattenlos liegen sie in der Mittagssonne in seltsamer, fast ehrwürdiger Schönheit, hoch über dem flüchtigen Auge der Geschäftigen, der Talmenschen, deren Interesse nur der Vorteil und deren Liebe das Mißverständnis ist; die keine Zeit haben, mehr als den Schein der Dinge zu sehen, und keine Lust, anderes als das Schlimmste zu vermuten, Erfahrung an sich selber und ihren Nachbarn hat ihnen nichts Besseres gelehrt. Dabei sind sie fromme Seelen, aber von einer Frömmigkeit, die vor lauter Gottesfurcht alles kreuzigen möchten, was ihnen nicht gleicht. Sie leben von der Philosophie des Tales, die Nestroy so klassisch formuliert hat: „I glaub von jedem Menschen das Schlechteste, sogar von mir, und i hab mi no selten getäuscht.“

Dieser Philosophie der Talmenschen ist man nun einmal unterworfen und ausgeliefert. Mit Fingern würden sie darauf zeigen und talentvoll mißdeuten, sähen 6ie die hier ausgepackten kleinen Herzensdinge liegen; sie, die Unfehlbaren, die Selbstgerechten, die schlimmen Nachreder — die dennoch unsere Nächsten sind und Anspruch auf unsere Liebe habenl Wie viele zerbrochene Pferdchen liegen da vor dem Mönch und dem Weltkind! Wie viele zerbrochene Kettlein werden da ohne Haß, nur mit leiser Traurigkeit betrachtet. Denn sowie man von sich selbst spricht, beginnt die Traurigkeit, weil die Eisenbahn so verbeult ist und immer entgleist. Hier heroben freilich ist es eine lächelnde Traurigkeit, ein demütiges Wissen, daß man die Stationen des Lebens ja doch nur zu Fuß erreicht, an Pferdchen und Eisenbahn daher nicht viel verloren ist, sosehr auch unser Herz daran hängt.

Vorurteil und böse Nachrede sind die weit härtere Prüfung. Sie sind epigonaler Natur, und die beiden Freunde stehen, jeder in seinem Bereich und auf seine Art, gegen die religiösen und musikalischen Epigonen, denen die schöpferischen Kräfte fehlen für den Himmel und für die Erde; die von Abwehr und Angriff leben, anstatt von Erneuerung; denen Tarzan mehr gilt als Shakespeare und die Zentrifuge melodischer tönt als die Trompete; die sich deswegen für vollkommen halten, mit leiser Verachtung und lauter Überlegenheit auf jene herabsehen, denen von dem geringen Vorteil, als der ihnen Geist und Wissen erscheint, nichts bleibt als Demut, Liebe und Geduld, keines davon in Zahlen ausdrückbar. Und also gilt es ihnen nichts. Wie schwer werden da oft die drei: Demut, Liebe und Geduld! Immer wieder aber sind diese Menschen unsere Nächsten, und jeder, der sich besser fühlt als sie, ist ihnen zu Hilfe gesandt. Ist gesandt, ihnen in heiligem Wort und heiligen Tönen die Liebe zu schenken, die sie wachsen läßt. Denn nur die Liebe macht groß und nur, weil so wenig Liebe vorhanden ist, sind die Menschen so klein, und ihr Spiegel von Gott und Welt ist zum Zerrspiegel geworden.

Solcherart verläuft das Gespräch unserer Freunde. Zärtlich werden die kleinen Herzdinge wieder eingepackt, nachdem sich beglückend herausgestellt hat, wie sinnvoll und gottgewollt sie für die innere Entwicklung waren, trotz ihrer Schicksalhaftigkeit und des' unwiederbringlichen Glücks, da« mit ihnen zerbeulte und zerbrach. Denn auch das Glück ist nicht Selbstzweck, sondern Aufgabe, und wird sinnlos, ist diese erfüllt. Sinnvoll aber bleibt das Leben und die Liebe, von der noch ein Abglanz die Berge, Brücken und Wege überleuchtet, auch wenn die Sonne schwindet und die Nacht kommt.

Da die beiden Freunde in den Autobus steigen, der sie zu Tal bringt, ist dieser überfüllt von schwatzenden, lärmenden Leuten, einem wunderlichen Gemisch von Sprachen und Dialekten. Das hemmungslose Geplapper reißt die beiden Freunde etwas unvermittelt und rücksichtslos aus ihrem Feiertag. Dummes Gewäsch, denken sie einen Augenblick lang, 6püren aber gleichzeitig die Überheblichkeit dieses Gedankens und beginnen nach einem fröhlichen Blick des Einverständnisses mitzuplaudern und mitzulachen und die Freude ihrer Herzen wie einen Samen auszustreuen. Da der Autobus in der Talstation hält und die bunte Gesellschaft sich in alle Winde zerstreut, haben sie den Unbekannten, denen sie nie wieder begegnen werden, soviel Gemeinschaft gegeben, als ihnen gegönnt war, was ihr und aller Menschen einziger Beruf ist bis ans Ende der Welt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung