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Aus den Tiefen der Großstadt

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Wenn ich meine 16 Klassen mit rund 500 Kindern — Knaben und Mädchen im Alter von 6 bis 14 Jahren — auf deren religiösen Besitz hin prüfe, erweist es sich stets deutlich, daß die Stärke seiner Wurzeln vorwiegend von dem Boden des Elternhauses bestimmt wird. Die geregelten oder ungeregelten Verhältnisse daheim, der Einfluß der nachbarlichen Umgebung, hauptsächlich aber die Beziehung der eigenen Mutter zum Glauben, liefern oder verweigern die Aufbaustoffe für den inwendigen Menschen Daß man zuweilen staunend vor dem wunderbaren Wirkefjj; der Übernatur steht, die trotz aller gegensätzlichen Einwirkungen kostbare Früchte hervorbringt, gehört auf ein anderes Blatt. Hier soll nur der natürliche, greifbare Tatbestand festgehalten werden.

Von den etwa 40 Schülern einer ersten Volksschulklasse in einem stark von Industriebevölkerung bewohnten Vorstadtbezirk kennen bei ihrem Eintritt in die Schule durchschnittlich fünf, höchstens zehn Kinder das Kreuzzeichen. Ein Gebet? Meist nur irgendein fadenscheiniges Verslein, in dem Worte wie „Himmel“ und „Schutzengel“ Vorkommen, aber ohne ernst zu nehmenden Gehalt. Spielerisch und oberflächlich, wie es der religiösen Leere der sonst vielleicht sorgsam bedachten Mutter entspricht, macht sich das Kind seine ersten Vorstellungen von Gott. So ist der Unterschied zwischen den fünf .jais zehn „religiös“ erzogenen und 30 bis 35 anderen Kindern bald nicht mehr groß. Bis Weihnachten stehen fast alle Schüler auf der gleichen Stufe des religiösen Wissens, weil fast alle die gleiche, freudige Aufnahms fähigkeit für den geheimnisvollen, großen, überweltlichen Gott haben. Bliebe 5der störende Einfluß der häuslichen Verhältnisse aus, wäre die Entfaltung der Kinderseele eine wahrlich naturgegeben christliche.

Aber mit der Verstandeserkenntnis und den nun in vorgerückter Stufe wirksam werdenden Eindrücken aus dem Elternhaus wachsen mannigfache Hindernisse. Die von der Kinderseele bisher erfaßten Wahrheiten prallen auf die Gleichgültigkeit oder Verneinung der Eltern. Die elterlichen Wünsche und Verbote überschneiden sich mit den Anforderungen der Religion. Die meisten Kinder der untersten Volksschulklassen gingen gern zum sonntäglichen Meßopfer; ihr kindliches Ahnungsvermögen schmiegt sich in die Größe des heiligen Geschehens unbewußt ein. Es reifen die Erstlingsfrüchte des Glaubens. Da kommt aber ein Sturm in Gestalt väterlichen Zorns und rüttelt das Bäumchen. „Ich darf nicht in die Messe geben“ — klagen mindestens 10 Kinder von 40 —, „der Vater erlaubt's nicht!“ Weitere 10 ersticken an der Dumpfheit. einer stur dabintrottenden Haushaltsmaschinerie: „D'e Mutter hat keine Zeit und allein läßt sie mich nicht. Sie sagt, die Kirche ist nicht wichtig, ich soll Staub wischen.“ Oder es gilt das spießbürgerlich falsche: „Wir haben keinen Sonntagsmantel.“

In den Bubenklassen werden die Argumente mit den steigenden Altersstufen immer kühner und bunter. Die Hälfte aller Klassen zieht Kino und Fußball, Hamsterfahrten und Herumvagabundieren vor. Denn „es gibt eh keinen Gott und die, was an Gott glauben, sind immer die Faderen.

Meine Freund’ gehn net in d’Kirchen, i laß mi von ihnen net frozzeln! Mir gehn in den Prater!“ Im ergangenen Frühsommer fiel mir ein Zwölfjähriger mit sidnlidiera Vergnügen in Wort, als ich Montag erkunden wollte, ob er in der Sonntagsmesse gewesen; eilfertig rief der Bub: „Wir waren Kirschen stehlen! Mit dem Vater! 20 Kilogramm haben wir zusammengebracht!“ Seine Genugtuung teilten seine Klassenkameraden.

Schriftliche Entshuldigungen deg Eltern, mündliche Auskünfte, die in Anwesenheit des Kindes gegeben werden, erweisen sich oft als Unwahrheit und das Beispiel wird von den Kindern nur zn gut verstanden. „Ich bin ja nicht dumm!“, erklärte eine 13jährige vor der ganzen Klasse, „ich sag’, was praktischer ist.“ Mut und Sicherheit zu solchem Bekenntnis wuchsen im Elternhaus.

Noch tiefergreifende Einrisse in die Erfahrungswelt des Kindes ergeben sich aus den Zerrütteten, geschiedenen und illegalen Ehen, Von 40 Kindern sind es bestenfalls 20, deren Eltern legal und geordnet miteinander leben. Schon die Sechsjährigen sprechen ohne Scheu, wissend und wie von etwas Selbstverständlichem, von ihrem „richtigen" Vater, der „anderswo wohnt". „Der Vati, den ich jetzt hab’, ist nicht mein Vati.“ Oder: ..Wir haben gestern ein neues Putzerl (ein Neugeborenes) bekommen, aber die Mutti weint; denn der Vati ist weg und will nicht zahlen.“

Einmal fragte ein religiöses, wohlgepflegtes Mädchen der 4. Volksschulklasse, das mit großer Liebe z den Sakramenten ging, ob es denn wahr sei, daß ein Geschiedener, der standesamtlich nochmals geheiratet hat, nicht zu den Sakramenten gehen dürfe? Ob die Ehe denn wirklich durch sonst gar nichts als durch den Tod getrennt werden könne? Die kleine Eva stellte ihre Fragest ' mit wachsendem Interesse und bekam während der konkreten, obschon der Kinder seele angepaßten, Erklärungen feuerrote Wangen. Endlich stieß sie erregt heraus: „Aber ich kann doch nicht wünschen, daß mein Vater stirbt!“ Welch ein Problem, welch eine Belastung für das neunjährige Kind!

Im Religionsunterricht einer anderen Klasse sprachen wir vom 4. Gebot. Da verzog ein achtjähriges Mädchen trotzig den Mund und konnte sich der verächtlichen Bemerkung nicht enthalten: „Aber i c h muß meinen Vater nicht ehren! Er hat uns stehenlassen und ist bei der anderen!“ Die Mutter dieses Kindes blieb mit vier Kleinen zurück und gebt jetzt Zeitung austragen. Morgens um 4 Uhr steht sie auf, kommt erst um 11 Uhr wieder heim, weshalb die Achtjährige ihre drei jüngeren Geschwisterlein wecken, ihnen Frühstück richten und die Kleinste auch anriehen muß. So kommt sie samt ihrer siebenjährigen Schwester fast täglich zu spät zur Schule. Sie haben keinen Wecker und das Aufstehen im kalten Zimmer ist hart! Die Mutter aber ist, wenn sie heimkommt, müd und verdrossen und gibt die Schuld dem treulosen Vater und das Kind sagt: „Nein, ich mag den Vater nicht! Ich lauf’ ihm davon, wenn ich ihn auf der Gasse sehe!“ Es wehrt sich ein gesundes Empfinden gegen das B5se und stößt sich wund — an einem Gottesgebot, das für seine Welt den Sinn verloren zu haben scheint.

Ein Lehrerkollege erzählte mir, er habe einen seiner schulentlassenen 15jahrigen Buben abends um halb 12 Uhr frierend im Schatten eines Haustores stehen und warten sehen. Als vermeintlichen Übeltäter sprach er ihn scharf an, bekam die unerwartete Auskunft: die Mutter habe ihren Sohn aus der Wohnung gesperrt, weil sie „Besuch“ erhielt; der arme Bub darf erst wiederkommen, bis „Er" das Haus verlassen hat. — Andere Mütter machen es anders: sie sperren die Kinder in die Wohnung und kommen erst nachts aus dem Kino.

Kaum aber hat ein Kind in der Klasse eine wehe, ganz spontan preisgegebene Klage getan, stehen auch schon fünf bis sechs andere auf und wollen, womöglich gleichzeitig, ihr ähnliches Leid erzählen. Man kann die ins Rollen gekommene Lawine, schon mit Rücksicht auf die glücklichere Hälfte der Klasse, nur mit Gewalt aufhalten. Nach der Stunde kommen die kleinen zum Schweigen Verurteilten und flüstern mir, mehr oder weniger erregt, ins Ohr: „Mein Vater will nicht arbeiten, streitet immer und haut die Mutti, da hab’ ich Angst..." — „Und un er Vater ist ein- gesperrt. Er hat gestohlen. Er braucht gar nicht zurückkommen, sagt die Mutti, er soll gleich zu ,Der‘ gehen, wegen der er sitzt.“

So wird das kindliche Gewissen vom Elternhaus her aufgescheucht und in Not gebracht; erst rebelliert es, dann wird es abgestumpft und schließlich ist es ganz dieser Umgebung, vielleicht dem Abgrund zum Opfer gefallen.

Das Gewissen dieser Kinder ist wie ein offener Hafen. Alles darf landen, alles wird abgelagert; im Durcheinander des bunten Getriebes sind Laster und Verbrechen ebenso selbstverständlich wie das Gute. Die „Welt“ in ihrer Vielgestalt strömt eben zum Hafen herein und — wie könnte das junge, überrumpelte Gewissen auch unterscheiden — es meint: dies sei das Leben!

Die seltene Religionsstunde erschließt und vermittelt freilich auch Leben, für viele sogar ein ersehntes und geliebtes. — Der ständige Tummelplatz des Gewissens gibt aber nur schmale Ufer frei. An diese Ufer spülen dann die Wellen des großen, herrlich weiten und ewigen Meeres aus jener „anderen Welt“, die die Kinder gern und sehnsuchtweckend verspüren; ihre Seelen bieten sogar Boden für die herangebrachte, kostbare Fracht —, aber die Unterrichtsstunde reicht nicht aus, um das Durcheinander von Gefühl und Erkenntnis, von persönlichem Leben und Gewissen zu klären. — Was nützt dem Glauben das schulmäßige Wissen und was das Gefühl? Das G e wissen verarbeitet, was die Erkenntnis als Stoff ihm bietet. Ist das Gewissen aber geschädigt, unklar und kraftlos, wie kann es dann den Trubel des hereinbrechenden Lebens meistern?

Das Gewissen — als letzte Instanz menschlicher Verantwortung! — ist für 50 Prozent aller Kinder meist aus Verschulden der Eltern stumm geworden. A n diesem gestörten, ungeschulten, ertöteten Gewissen liegt es, wenn der heranreifende Mensch ins Uferlose fällt. Machen wir uns nichts vor: es gibt keinen Aufbau und keine hellere, tragfähige Zukunft, sobald diese nicht auf dem klar religiös orientierten, tragfähigen Gewissen der einzelnen aufruht!

Ich möchte allen denjenigen, die den Wert der religiösen Erziehung nicht verstehen, sie vielleicht ablehnen, wünschen, das Schicksal der zu rettenden und der schwankenden Jugend so k en n e n z u le r n en, wie es sich dem Erzieher erschließt, der das Drama dieser proletarischen und auch spießbürgerlichen G r o ß s tad t j u ge n d mit heißem Herzen mit erlebt.

Es ist wohl so: die dem Kindergewissen entzogene religiöse Grundlage kennt und anerkennt keinen Ersatz. Ohne letz- lidhe Gewissensverpflichtung .gibt es nicht nur keine wahre Autorität mehr, es gibt auch keine Disziplin und keine sittliche Haltung mehr. Bei diesen zu 50 Prozent ungeordnet he r an r e i f e n d e n Menschenkindern ist die Unsittlich keit so etwas wie Hunger nach „Glück“ und „Leben“. Blühender Wildwuchs ohne Früchte — unsere Gesellschaft wird es verantworten müssen.

Da hatte ich in einer 5. Volksschulklasse mehrere 11- bis 13jährige Mädchen. Ihrer fünf kamen zu mir, und die Offenheit ihrer Aussprache riß Aog-ünde auf, die ich nicht zu zeigen wage. Anaeutend nur etwas davon: Ein gut entwickeltes, bald 14jähriges Mädchen hatte bereits einen Lebensgefährten — einen älteren Mann. Eine zweite gleichen Alters sprach von „Vergewaltigung"; aber die Art ihrer Schilderung bewies, daß sie schon vorher über ein raffiniertes Wissen verfügen mußte. Meine Aufforderung, derartige Erlebnisse nicht vor den anderen aufzudecken, wurde mit verwundernder Überlegenheit beantwortet: „Das ist uns doch nichts Neues! So etwas haben wir schon hundertmal geredet.“ — Von den „Rechten“ der Jugend machten im vergangenen Winter aus einer einzigen 4. Hauptschulklasse gleich vier Mädchen Gebrauch. Sie liefen davon, weil sie abends um 9 Uhr daheim sein mußten...

Bilder aus der Jugend vom Rande der Großstadt. Sie rufen nach erbarmender Liebe und Hilfe. Hier gehen Kinder, junge, mit einer unsterblichen Seele begabte Menschen, an Leib und Seele zugrunde. Ganz in unserer Nähe. Wir brauchen nicht weit zu gehen, um sie zu finden, ja, sie gehen zugrunde. Tag um Tag mehren sich die Opfer. Man sollte glauben, ein einziger Sdirei des Entsetzens töne ob dieser schrecklichen Wahrheit über d . Stadt. Aber die wenigsten wissen, denken nach, wie es steht.

Wo ist die Hilfe? Es kann niemanden geben, der glauben könnte, daß man dieser schwerbedrohten Jugend mit den äußerlichen Mitteln eines mechanischen Schulbetriebes helfen könnte. Hier geht es um seelische, sittliche Erkrankungen, die nur wieder von der Seele her geheilt werden können. Doch mit nichts sind wir sparsamer als mit den Mitteln der seelischen Erziehung. Es ist schwer zu fassen, daß es zur Politik von Menschen, die dem Volke zu helfen, ihm Gutes zu tun bestrebt sind, gehören soll, daß so viele junge Menschen zugrunde gehen, weil es an ausreichender seelischer Führung für sie fehlt.

Nur das vorgelebte, in der persönlichen Begegnung gegebene, aus dem gottgebundenen Gewissen kommende Beispiel, wird in dem Chaos dieser verwilderten Seelen noch aufrichten, stärken, retten können. Aus der Kraft der Liebe. Diese dem Abgrund nahe Jugend braucht aber keine weichen Gefühle, sondern jene starke, unbeirrbare Liebe, die in der Öde der versandeten Gewissen der befreiten christlichen Seele zum Durchbruch verhilft!

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