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Eine Mutter soll es sein

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ÜBER DIE SEITENFAHRBAHN des Schottenrings kommt ein Wachebeamter. In der rechten Hand hält er einen Zettel. Er vergleicht offen- ichtlich die Adresse auf dem Papier mit den Hausnummern der Straße. Hinter dem Beamten, in achtsamem Abstand, ein dürftig gekleideter Mann, dessen Wangen schon lange nicht mit dem Rasiermesser in Berührung waren; mit etwa einem Meter Distanz folgt eine Frau mit abgeschabtem Pappkoffer, rechts geht ein ungefähr fünfjähriges Mädchen, und neben diesem ein Bub, der an die acht Jahre alt sein mag. Die fünf Menschen, von denen niemand ein Wort spricht, biegen vom Ring, über den ein ununterbrochener Strom von Kraftwagen rollt, in eine tillere Nebengasse ein. Neutorgasse — so steht oben zu lesen. Vor einem Hauseingang gibt es aber doch einen erregten Wortwechsel, den der Türsteher schlichten muß. Und dann sind die fünf Menschen in der Einfahrt verschwunden; nach kurzer Zeit kommt der Wachebeamte allein aus dem Tor. „Das geht so den ganzen Tag“, erzählt der Türhüter. „Wenn Sie sich vor dem Haustor ein paar Stunden aufstellen und hören, was die Leute reden und was sie dann oben im dritten Stock sagen — könnten Sie einen Band Geschichten schreiben. Nur mit dem Unterschied, daß diese Geschichten wahr sind, leider wahr ... freilich, es gibt auch bei diesen Romanen, die das Leben schreibt, meistens ein Happy-End ... ob es das ungeschehen machen kann, was vorher geschehen ist — ja, das möcht’ ich bezweifeln ...“ Neutorgasse 20 ... neues Tor ins Leben ...

NEUTORGASSE 20, drei Stock hoch, Nummer 391—393: hier befindet sich die Adoptionsstelle des Jugendamtes der Stadt Wien. Wir sitzen der Fürsorgerin gegenüber, die mit einer Schreibkraft allein eine Arbeit leistet, von deren Umfang, Mühsal und Verantwortung sich die Oeffentlichkeit kaum eine Vorstellung machen kann. Denn es ist eine Arbeit, die nicht dauernd in sieghaften Statistiken von sich reden macht, eine Arbeit, nicht ausgebreitet auf Pressekonferenzen vor eilenden Bleistiften und blendendem Blitzlicht. Gewiß: schon immer, hat das Schick- sal verlassener Kinder oder solcher,, die durch die Umwelt, in der sie bisher gesundheitlich oder moralisch gefährdet lebten, von sich reden gemacht — aber dann war es meistens das Bezirks- oder Landesgericht, wo man redete, wo man anklagte ... Hier in der Neutorgasse hält man kein Gericht. Hier versucht man zu retten, was zu retten ist — nach den Anklagen, die gesprochen, nach den Verteidigungen, die darauf antworteten. Verlassene Kinder; elternlose Kinder, Waisen ... früher machte man das- einfach. Die Kinder wurden in Waisenhäuser gesteckt, möglichst uniform gekleidet, ohne zu fragen, aus welcher Umwelt dieses, aus welcher jenes Kind käme. Und dann wunderte man sich, wenn diese Menschen, einmal groß geworden, Außenseiter wurden. Wie? Sie hatten doch alles gehabt, was sie brauchten? Sie hatten zu essen, ein Dach über dem Kopf, um die Erziehung und was sie werden sollten, hatten sie keine Sorge — nichts fehlte. Nichts? Doch, und zwar das wichtigste. Die Liebe nämlich.

DIE LIEBE werden auch die hygienisch und psychologisch auf das beste hergerichteten Heime, werden auch die vortrefflichsten Erzieher nicht in die Herzen der Heranwachsenden pflanzen können. Vater und Mutter sind nicht zu ersetzen. Aus diesem Grunde sucht die Jugendfürsorge unserer Zeit nach Pflegemüttern und -vätern, und auch das Jugendamt der Stadt Wien wirbt um Pflegeplätze bei guten Familien: für Säuglinge, für schulpflichtige Kinder, mitunter auch selbst für Jugendliche werden Pflegeeltern gesucht. Nun macht der Sprachgebrauch des Alltags mitunter ein Durcheinander und mischt die Begriffe. Ein Pflegekind ist ein Kind, dessen Angehörige auf dieses nicht verzichtet haben. Die Ersatzfamilie wird aus sozialen Gründen, im Wege der Kinderübernahmsstelle, gesucht. Die Stadt bezahlt in einem solchen Falle für ein Kind im Alter von 0 bis 18 Monaten 350 S, ab 18 Monate 300 S Pflegekosten. Außerdem gibt das Jugendamt jährlich zweimal die nötige Bekleidung für die Kinder oder ergänzt diese Kleidung. Erkrankt ein Pflegekind, wird ärztliche Hilfe und werden Heilmittel kostenlos zur Verfügung gestellt. Begabte Kinder, die späterhin höhere Schulen besuchen, können Studienzuschüsse oder Stipendien bekommen. Schön, sehr schön, sicherlich alles sozial gedacht; wir besitzen in Wien vortreffliche Heime und ein ausgezeichnet geschultes Personal. Aber — die Familie können sie nicht ersetzen. Auch den Kindern nicht, die man Adoptivkinder nennt. Solche sind - zum Unterschied von den Pflegekindern — von den Angehörigen zur Adoption freigegeben.

GUTE ADOPTION bedarf umfangreicher fürsorgerischer Arbeit. Da sehen wir im Zimmer Nr. 391 Karteikasten, sehen Mappen, jede von diesen oft in der Stärke eines mittleren Buches. Schlägt man eine solche Mappe auf, dann spricht das Leben, das Schicksal. Da liegen alle Briefe, die von den Beteiligten geschrieben wurden und noch werden, Gutachten, Erhebungsberichte und — Lichtbilder. Da — diese Mappe beispielsweise! Die Fürsorgerin zeigt ein Bild. Welch erschrecktes Gesicht des kleinen Kindes, das auf einem niederen Schemel sitzt — das sieht wie vor den Schranken eines Gerichts aus! Und dann immer wieder ein zeitlich späteres Bild: allmählich lockert sich der Gesichtsausdruck des Kindes. Das Mädchen gewinnt Interesse an der neuen Umwelt. Das Spielzeug wird zaghaft angefaßt. Man legt Bild um Bild zur Seite — und da, das letzte —, es ist kaum zu glauben, die einst kleine Annie B. sieht'aus wie ein kleines Fräulein. Hoffentlich wird ihr Lebensweg ruhiger als der ihrer früheren Eltern. Nach den derzeit geltenden Bestimmungen können Kinder nur solchen neuen Eltern übergeben werden, die keine eigenen ehelichen Kinder besitzen; den ehelosen Stand nicht feierlich gelobten (Geistliche); ferner müssen die Adoptivwerber das 40. Lebensjahr vollendet haben und 18 Jahre älter sein als das Adoptivkind; schließlich können verheiratete Personen nur mit Zustimmung des Ehegatten adoptieren. Seelische und körperliche Gesundheit müssen gut sein, die materielle Lage soll die Erziehung ohne fremde Hilfe gestatten und die Wohnungsverhältnisse sollen nicht zu beengt sein. Natürlich darf im Familienverband niemand leben, der auf irgendeine Weise das Adoptivkind gesundheitlich, seelisch oder sittlich gefährden könnte. Das Jugendamt schickt Erhebungsorgane aus und prüft die Situation der neuen Eltern. Diese müssen sich übrigens einer amtsärztlichen Untersuchung unterziehen, auch wird der Leumund erhoben — und zwar über alle Personen des neuen Haushaltes. Es wäre nichts so fein gesponnen, es käme doch an die Sonnen. Erst wenn alle Nach fragen und Untersuchungen gemacht sind, sucht die Adoptionsstelle für einen Adoptionswerber das geeignete Kind. Der Werber wird indie Neutorgasse zu einer Aussprache, die täglich vormittags stattfinden kann, eingeladen. Es geht um das „Wunschkind“.

DAS WUNSCHKIND — das sieht meistens so aus: es soll ein Mädchen sein, muß zwei bis vier Jahre alt sein, blaue Augen und blonde Haare haben. Als ob ein kleiner Bub nicht ebenso eine Mutter brauchte und braune Augen und schwarzes Haar nicht auch hübsch aussähen! Es muß auch darauf hingewiesen werden: Am wichtigsten ist die Uebernahme von Säuglingen. Je kleiner ein Kind in die neue Umwelt kommt, desto besser. Mit der sich rasch entwickelnden Persönlichkeit wird es zusehends schwerer, sich einzufügen. Es wird dann oft von den neuen Eltern der Fehler gemacht, daß sie die eigenwillige Persönlichkeit in einem Ansturm des Herzens überfallen; man glaubt, durch eine Ueberfülle von Geschenken die Liebe zu erreichen, die nur langsam, und gerade bei den sozial Gedrückten in besonderem Maße reift. Leicht wird dann so ein mit Gaben überwältigtes Kind der Ueberwältiger der Eltern: es sieht, wie leicht es ist, durch Abweisung, durch Trotz ein Geschenk zu erzwingen. Das Leben aber macht es später mit deni Großen nicht io bequem. So ein Adoptivkind wird also vorerst für ein halbes Jahr als Pflegekind übergeben. Nach dieser Zeit kann der Werber endgültig entscheiden. Für ein solches Pflegekind erhält man kein Pflegegeld, kann aber beim Finanzamt um die Kinderbeihilfe einreichen. Nur bei gegenseitigem Einverständnis wird der Adoptionsvertrag abgeschlossen. In der Geburtsurkunde wird der ursprüngliche Name übrigens nicht gelöscht, sondern nur amtlich ergänzt. „Wann erfährt das Kind dann, daß es ein angenommenes ist?“ wollen wir von der Fürsorgerin wissen. Sie antwortet: „Wir halten es für das beste, wenn der Sachverhalt dem Kinde im Alter von vier bis fünf Jahren mitgeteilt wird (wenn es als jüngeres adoptiert wurde). Es geschieht dies psychologisch von der Elternseite viel besser als etwa dann in der Schule, durch Mitschüler.“

MEHR NACHFRAGEN ALS ANGEBOT. Das ist die Feststellung der Adoptionsstelle. Im Jänner 1957 wurden 96 Adoptionskinder an- geboten, aber 185 Nachfragen lagen vor. Gegenwärtig gibt es 216 Probeverhältnisse und 99 Pflegeverträge. Seit dem Bestehen der Adoptionsstelle (1. Jänner 1951) erfolgten 429 Adoptionen. „Auch ins Ausland?“ fragen wir. „Nein!“ sagt die Beamtin. „Es gibt keine Adoption durch Ausländer und ins Ausland. Aber wir erhalten selbst aus Südafrika und Australien Bitten um Wiener Kinder." Das starre Adoptionsgesetz und seine generelle Anwendung und die sinngemäße Inkraftsetzung von Ausführungsbestimmungen zum Jugendwohlfahrtsgesetz steheji sich im Wege. So ist beispielsweise die Altersgrenze (40 Jahre für Adoptionswerber) viel zu schematisch in der Praxis. Ueberhaupt müßte das Jugendwohlfahrtsgesetz — schon in Verbindung mit einem Schwangerschafts-Fürsorgegesetz — novelliert werden. Gewiß: in der Neutorgasse 20 geht das Schicksal laut oder auf leisen Sohlen über die Gänge; man kann dort mit der Amtsstampiglie nur vollziehen, was das Herz längst ausgesprochen hat. 429 Adoptionsfälle in sechs Jahren .. . eigentlich sehr wenig. Aber wer auf den Treppen und Gängen des Hauses, wer zwei Stunden vor dem Haustore stand, der weiß: Jedes Schicksal wiegt hundertfach.

Ja, es stimmt, das Adoptionskind ist erbberechtigt, sowohl nach den natürlichen als nach den Adoptiveltern ... doppelter Erbe .. . wie reich! Aber eine Mutter — und selbst die Wahlmutter — ist mehr wert.

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