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Mit gutem Willen allein geht es nicht

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In den letzten Jahren ist die Anzahl der Familien, die bereit sind ein Pflegekind zu übernehmen, in Wien drastisch zurückgegangen. Schuld ist nicht eine Entsolidarisierung der Gesellschaft mit den Schwachen, sondern der eklatante Mangel an offizieller Unterstützung.

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In den letzten Jahren ist die Anzahl der Familien, die bereit sind ein Pflegekind zu übernehmen, in Wien drastisch zurückgegangen. Schuld ist nicht eine Entsolidarisierung der Gesellschaft mit den Schwachen, sondern der eklatante Mangel an offizieller Unterstützung.

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Familie Schmidt* bekam ein sieben Wochen altes Pflegekind. Sein Vater, ein immer wieder rückfällig werdender Dieb, und seine Mutter -selbst während der Schwangerschaft fortwährend Tabletten zu sich nehmend - waren nicht in der Lage gewesen, dem Kind ein entsprechendes Zuhause zu bieten. Das Kind, während der ersten Lebenswochen mehrmals mißhandelt, hatte unter schwerem Medikamentenentzug zu leiden.

Die Pflegeeltern beschreiben die Situation: „Nachdem deT Kleine gewaschen und gefüttert worden war und sein Bäuerchen gemacht hatte, begann er zu brüllen, bis er nach mehreren Stunden vor Erschöpfung einschlief. Es half kein Spazierentragen, kein Vorsingen, kein Schaukeln."

Gerne hätten die Pflegeeltern damals von zuständiger Seite Rat bekommen. Es quälte sie nämlich immer wieder der Gedanke: „Was machen wir falsch, daß der Kleine nicht so wie das eigene Kind ein seelisches und körperliches Wohlbefinden erlangt, das uns signalisiert: unsere Zuwendung wird angenommen."

Das Kind, in der Zwischenzeit im schulpflichtigen Alter, hat seine Pflegeeltern annehmen können. Es gelang ihm erst über den Umweg einer fiktiven „Afrikamama". Eines Tages erklärte er, daß er sein Gemüse nicht essen dürfe, weil ihm das die Afrikamama verboten habe. Das Kind hatte sich die Ersatzmutter geschaffen, um im Bedarfsfall, sollte er von einer zweiten Mutter weggeben werden, noch eine Mutter zu haben. Diese Afrikamama mischte sich täglich in die Erziehung ein. Sie erlaubte, was die Pflegemutter verboten hatte, verbot, was die Pflegemutter forderte. Das Spiel fand seinen Höhepunkt, als das Kind erklärte, es hätte die Afrikamama lieber als die Pflegemutter.

Eigentlich war das die verschlüsselte Frage: Wie lieb hast du mich? Die Pflegemutter reagierte richtig: „Ich hab dich so lieb wie die Wiener und die Afrikamama zusammen." Dieser Satz gab dem Kind die Chance, die beiden Bilder von Müttern zusammenfließen zu lassen in ein einziges, nämlich in das der Pflegemutter. Diese ist selbst therapeutisch tätig. Sie konnte daher im Bedarfsfall eine Reaktion setzen, die scheinbar dem widerspricht, was man den Hausverstand nennt. In Familien ohne therapeutische Ausbildung oder Betreuung wäre das wohl nicht möglich gewesen.

Johann Berger*, Sozialtherapeut, hat seit nunmehr 13 Jahren einen Pflegesohn. Dieser war vierzehn Monate in einem Säuglingsheim. Das Kind war bei der Aufnahme auf seinem Pflegeplatz in einem erbärmlichen Zustand: Er riß sich die eigenen Haare aus, schlug mit dem Kopf gegen die Wand, war an der Umgebung uninteressiert und schmerzunempfindlich. Das Kind konnte lange Zeit Körperkontakt überhaupt nicht ertragen. Es schrie und biß. Damals gab man dem engagierten Therapeuten und seiner Frau den aufmunternden Satz mit auf den Weg: „Das Milieu wird heilen."

Berger beklagt heute, daß es keine Vorbereitung auf die Übernahme des Pflegekindes gegeben hat, daß sechs Monate kein Sozialarbeiter gefragt hat, ob Hilfe nötig wäre und vor allem, daß niemand angedeutet hat, welche Schwierigkeiten die Erziehung dieses hospitalisierten Kindes machen wird. Das Aufgeben der Eigenaggression des Kindes, um diese durch Aggressionen gegen Eltern und Geschwister zu ersetzen, ist als gewaltiger psychischer Fortschritt zu sehen. Doch wer, außer einem therapeutisch geschulten Menschen, vermag den Wutausbruch eines Kindes gegen die Eltern als Erfolg sehen?

Heute ist das Pflegekind 14 Jahre alt, sozial am Stand eines elfjährigen. Seine Triebdurchbrüche hat es in bestimmten Abfolgen, nur kann es damit besser umgehen. Frühkindliche Defizite, die sich auch im Diebstahl in der eigenen Familie äußern, kann das Kind insofern teilweise bewältigen, als es seine Eltern bittet, die Geldbörse wegzuräumen. Bleibt sie zu lange am Tisch liegen, muß er sich bedienen. Auch das ist ein ungeheurer Erfolg. Doch wer möchte mit so einem Kind leben?

Kinder, die in Wien in Pflege gegeben werden, stammen fast ausnahmslos aus schwierigsten familiären Verhältnissen. So beginnen sie in der Pflegefamilie alle Maßnahmen zu setzen, die einen ähnlichen desolaten Zustand herbeiführen. Diesen Zustand kennen sie, für ihn haben sie Überlebensstrategien entwickelt.

Je älter die Kinder sind, desto größer die Störungen. Je massiver die Schädigungen im frühkindlichen Alter, desto schwieriger die Therapie. Einfach gesagt: Das lustvolle Ausleben der oralen Phase ist für einen Zehnjährigen nicht mehr möglich.

„Der Standpunkt des hartnäckigen Appellierens an das sozial-karitative Engagement klingt zwar recht gut, wir sollten aber doch Menschen, die sich uns für Dienstleistungen anbieten, nicht überfordern. Es wird notwendig sein, mehr professionelle Pflegeeltern heranzubilden", meint Walter Spiel, Professor für Psychiatrie in Wien.

Zum Appell an das Engagement und zur Beratung muß auch ein angemessenes Honorar für die Erziehungsarbeit kommen.

Häufig ist die Berufstätigkeit mit der Kinderbetreuung nicht vereinbar, denn diese Kinder brauchen ihre Erzieher ständig. Wichtig wäre, daß Pflegeeltern im Bedarfsfall das Kind einer Vertrauensperson überlassen können, wenn sie auf Urlaub fahren oder vorübergehend Abstand von der bestehenden Situation finden müssen. Ein Kind, das seinen Triebdurchbruch nicht meistert, in der eigenen Wohnung einbricht oder die Zimmereinrichtung zerstört, kann einen Urlaub schon nötig machen.

Für solche Kinder finden sich keine

„Ersatzbetreuer", denn wer belastet sich schon freiwillig in diesem Umfang. Wirklich fremde Personen scheiden als Ersatzbetreuer grundsätzlich aus. Die Vorgeschichte und verschiedene traumatisierende Erfahrungen werden erneut wachgerufen und mit schwerer Irritation beantwortet.

Das gewährte Entgelt entspricht dem Mehrverbrauch an Kleidern, Schuhen, Möbeln, Vorhängen, Spielmaterial, Brillen et cetera nicht. Die Kinder, durchwegs oral gestört, sind auf unmittelbaren Lustgewinn ausgerichtet und können kaum Verzicht leisten, daher gibt es immer wieder Zerstörungen.

Wer nun erwartet, daß Pflegeeltern mit Bürokraten verhandeln, daß das Pflegekind heuer zum drittenmal die Brille zerdroschen hat, muß enttäuscht werden. Der Einsatz für Pflegekinder - im Regelfall sind alle schwierig -erfordert die gesamte Persönlichkeit.

Hinter vorgehaltener Hand sagen die Beamten, die Gemeinde Wien erwarte sich von den Pflegeeltern den „gesunden Hausverstand", um aus den anvertrauten Kindern vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu machen. Hausverstand allein ist aber zu wenig. Es bedarf der Anerkennung und der Unterstützung.

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