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Für eine bessere Welt

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ALS DER MEDIZINSTUDENT HERMANN GMEINER im Jahre 1949 vergeblich von einer Stelle zur anderen lief, um seine Idee von den Kinderdörfern zu propagieren und um Unterstützung anzusuchen, dachte er sicher nicht daran, daß er nach 17 Jahren an der Spitze einer weltweiten Institution stehen wird, die seine Idee inzwischen in 20 Länder der Erde hinausgetragen hat. Denn heute ist das, was in Tirol damals unter großen Opfern und gegen viele Hindernisse seinen Anfang nahm, in der Welt ein Begriff geworden. Zahlreiche prominente Persönlichkeiten haben sich für dieses Werk ausgesprochen, aber was Hermann Gmeiner noch wichtiger ist, zwei Millionen Menschen allein in Europa unterstützen . regelmäßig das Kinderdorfwerk, um so der Arbeit in den Dörfern eine sichere Grundlage zu geben. Das war von Anfang an der Kerngedanke, möglichst viele an diesem Werk zu beteiligen, in den helfenden Menschen das Gefühl zu wecken, „Das ist unser Kind, wir wollen es aufnehmen“. Wenn jeder nur 10 Groschen am Tag gibt, so kann damit unendlich viel geholfen werden.

In einer Welt, in der nur Geld und materielle Mächte zu regieren scheinen, kann man es kaum glauben, daß dieser Organisation in wenigen Jahren ein so großer Erfolg beschieden war. In einer Welt, in der fast nur das Böse, das Tragische Schlagzeilen macht, ist es gelungen, eine „Sensation des Guten“ zu schaffen. Es ist diesem Mann mit den leuchtenden, fesselnden Augen gelungen, einem Mann, von dem eine solche Güte ausstrablt, daß man sich ihr nicht zu entziehen vermag, daß man einfach mithelfen muß. Zu dessen Güte und Ideen sich aber noch eine Beharrlichkeit gesellte, die ihn auf dem anfangs so dornigen Weg aushaiten ließ, als er damit begann, sich bei seinen Innsbrucker Freunden das Geld für das erste Haus in Imst zusammenzubetteln.

IMST — DIE WIEGE DER KIN- JERDORFIDEE, das Mutterdorf, dodell für alle Kinderdörfer in der Veit. Zugleich auch das schönste Cinderdorf, ein richtiges Dorf, ge- vachsen, eingebettet in die Land- ¡chaft, verwachsen mit der Gemeinde Imst. Imst, in dem irS’prünglich nur einige Häuser ste- lein sollten, und das heute 18 Häuser imfaßt, war das Exerzierfeld für die Ideen Gmeiners; hier wurden die erden Schritte in eine neue Erzie- mngsfor.m gemacht. Wohl gab es ichon in der Schweiz die Pestalozzi- Kinderdörfer, aber Ihre besondere lusformung bat die Kinderdorfidee loch erst durch Hermann Gmeiner efunden. Vier Prinzipien bestimmen ihn bei der Anlage eines Dorfes:

„Das Kind, das herausgeforochen st aus der Familie, soll die Familie wieder zurückerhalten“, ist seine srste These, darum steht im Kern ler Arbeit die Mutter. Nicht Enzie- ler sollen den Kindern gegeben wer- ien, sondern eine Mutter. Sie soll iem Kind wieder das Milieu der Familie geben. Die Heime, in die Kinder früher gebracht wurden, tonnten die Geborgenheit der Familie niemals ersetzen.

Der zweite Gedanke ist, den Kindern Geschwister zu geben: eine richtig zusammengesetzte Familie, nicht nur eine Schar gleichaltriger Burschen oder Mädchen; Geschwister, die sich gegenseitig erziehen, wo die älteren die jüngeren umsorgen, sie wieder hineinführen in das normale Lehen, aus dem diese Kinder herausgebrochen sind durch ein tragisches Schicksal. Denn der Großteil der Kinder in den SOS-Kiniderdörfern sind nicht elternlose Kinder, sondern Sozialwaisen, Kinder, die den Eltern von der Fürsorge abgenommen wurden, Kinder, die von den Eltern äbge- lehnt, ja mißhandelt wurden.

Das dritte Element ist das Haus. Die Kinder sollen wieder ein Daheim erhalten, sollen in Ihren kleinen Schlafzimmern, in der Wohnstube wieder Geborgenheit spüren, sie sollen das ‘ normale Leben in einer Familie so kennenlernen, daß sie imstande sind, selbst einmal eine Familie aufzubauen. Daß das bisher gelungen ist, zeigen die vielen guten

Ehen, die inzwischen von ehemaligen Kinderdorfkindern geschlossen wurden.

Zuletzt aber soll dieses Kinderdorf nicht ein für sich unabhängiges Ganzes sein, sondern soll eingebettet sein in eine Gemeinde, die Kinder sollen Kontakt nicht nur im Kinderdorf haben, sondern zu den Kindern des Dorfes, sie sollen in die ordentliche Schule gehen wie alle anderen — nicht selten ist das mit großen Strapazen verbunden —, sie sollen mit allen Einwohnern der Umgebung in die Kirche gehen und auch an allen Veranstaltungen teilnehmen, so wie auch die Mütter unten im Dorf einkaufen. So steht jedes Kinderdorf in enger Verbindung mit einer politischen Gemeinde, Imst, Altmünster, Seekirchen, Hinterbrühl und jetzt auch Dornbirn, das jüngste unter Österreichs Kinderdörfern, das erst vor drei Wochen seiner Bestimmung übergeben wurde.

JEDES DIESER DÖRFER HAT SEIN EIGENES GEPRÄGE, durch die Landschaft, durch die Umgebung, aber auch von den Bewohnern her, vor allem vom Dorfleiter. Er ist der Vater eines Kinderdorfes. Die gesamte wirtschaftliche und organisatorische Leitung des Dorfes liegt in seinen Händen. Er entscheidet, welche Kinder in sein Dorf kommen, nachdem die zentrale Dorfkommission in Innsbruck festgelegt hat, ob ein vom Jugendamt genanntes Kind aufgenommen wird oder nicht. Er entscheidet, ob eine Mutter zu ihm in das Dorf kommt, und er hat vor allem mit den Müttern gemeinsam für die Erziehung der Kinder zu sorgen. Nun darf man nicht vergessen, daß die Erziehung von Kindern, die ein tragisches Schicksal hinter sich haben, ungleich schwieriger ist als die Erziehung normaler Kinder. Erziehung in einem Kinderdorf ist daher zugleich auch Heiltherapie, zu der alles beizutragen hat, die Atmo- späre, die Menschen im Dorf und auch die anderen Kinder.

IM HAUS REGIERT DIE MUTTER. Sie wirtschaftet selbständig mit ihrem Kostgeld, das sie je nach Anzahl der Kinder, allenfalls mit Entsprechenden Zulagen, zugeteilt bekommt. Sie ist damit auch die Hauptträgerin der Erziehung; von der Mutter hängt es ab, ob die Kinder wieder in das normale Leben zurückgeführt werden können. Darum ist auch die Auswahl der

Mütter sehr streng, so daß nur zirka zehn Prozent der Bewerberinnen aufigenammen werden können. Dabei ist ein interessanter Wandel in der sozialen Herkunft der Mütter zu bemerken. Am Anfang waren es fast ausschließlich Frauen, die aus der Landwirtschaft kamen, auch heute noch stellt die Landwirtschaft den

Großteil der Mütter, daneben finden sich aber auch Vertreterinnen anderer Berufsstände, Verkäuferinnen, Krankenschwestern, Bürokräfte und Maturantinnen in zunehmendem Maße. Im Alter zwischen 25 und 35 Jahren können die Mütter aufgenommen werden, und erst nach einer längeren Ausbildung und verschiedenen Tests kann entschieden werden, ob eine Mutter geeignet ist oder nicht.

Wenn es für die Kinder oberstes Gebot ist, sie in das normale Leben zurückzuführen, so muß der Mutter auch die Gelegenheit gegeben werden, im normalen Leben zu bleiben. Wothl hat eine, Mutter von neun Kindern natürlich mehr Arbeit .als eine Mutter von einem oder zwei Kindern, wohl wird von Anfang an ein erhöhtes Maß an Opferbereitschaft gefordert, aber selbstverständlich hat auch die Kinderdorfmutter ihre Freizeit, ihren Urlaub, und eine „fesche Mutti“ ist der Stolz der Kinderdorfkinder, ebenso wie sie der Stolz, anderer Kinder ist. Um die Mutter den Kindern aber doch mehr als normal geben zu können, müssen die Mütter unverheiratet sein. Wenn sie später doch heiraten wollen, was auch schon vorgekommen ist, müssen sie das Kinderdorf verlassen.

Das Kinderdorf verlangt viel von einer Mutter, aber auch die Mutter erhält viel, die Freude, Kinder erziehen zu dürfen, die Selbständigkeit im Haus und eine große Familie, die mit ihrer Mutter immer im Kontakt bleibt, auch wenn die Kinder schon lange im Beruf stehen oder wenn sie verheiratet sind — manche Kinderdorfmutter ist schon zur „Kinder- dorfgroßmutter“ geworden. Daß diese Frauen mehr sind als bloße Erzieherinnen, zeigt auch die Tatsache, daß sie „ihre“ Kinder mitnehmen in den Urlaub oder nach Hause zu den eigenen Eltern schicken für einige Tage.

WENN DIE BURSCHEN VIERZEHN JAHRE alt geworden sind, dann müssen sie aus dem Kinderdorf ausziehen, doch sie ziehen nur um, in eines der Jugendhäuser. Eines davon steht in Egerdach bei Innsbruck bereits seit 1955, ein zweites ist im Kinderdorf Hinterbrühl im Bau. Ab einem gewissen Alter tut die Koedukation nicht mehr gut, aber der ausschlaggebende Grund ist der, daß nun die Burschen stärker eine väterliche Hand brauchen, das ist die Hand des Leiters des

Jugendbauses. In Innsbruck haben die Burschen auch mehr Möglichkeiten, einen Beruf zu erlernen, und diejenigen, die die Befähigung zum Mittel- und Hochschulbesuch aufweisen, können in Innsbruck auch noch weiterstudieren. Wichtig ist, daß die jungen Burschen mit 14 Jahren nun nicht sich selbst überlassen bleiben,

sondern gerade im schwierigen Alter in einem Haus der Kinderdörfer weiter bleiben können. Hier machen sie nun ihre Berufsausbildung durph, hier erlernen sie die ersten gesellschaftlichen Schritte, von hier aus gründen sie dann manchmal schon ihre eigene Familie. Auch in den Jugenidhäusern gibt es keine riesigen Sohlafsäle, auch hier bleibt der Familiencharakter erhalten, und wird die persönliche Führung, die im Dorf begonnen hat, an den vielen schwierigen Fällen weitergeführt.

Die Mädchen, die als weniger schwierig .gelten, die der Mutter noch eine wertvolle Hilfe sind, bleiben über das 14. Lebensjahr hinaus im Haus. Sie heiraten oft direkt dann vom Kinderdorfhaus weg. Nun soll aber auch für Mädchen, die eine besondere Ausbildung erhalten können, in Innsbruck ein eigenes Jugendhaus errichtet werden.

AUCH IN DER ZEIT, da sich die Kinider im Jugendhaus befinden,

haben sie noch guten Kontakt zu ihrer Mutter, sie kommen in den Ferien nach Hause zu Besuch und freuen sich, „ihre Geschwister vom Haus“ wieder zu treffen. Eigentliche Geschwister und Geschwister vom Haus ist keine grundsätzliche Trennung, aber doch als Faktum vorhanden, weil in vielen Häusern Reihen von leiblichen Geschwistern wohnen und daneben noch andere Kinider. In manchen Häusern leiben fast nur leibliche Geschwister.

Die Frage nach dem Kontakt zu den leiblichen Eltern ist etwas heikel. Wohl können die leiblichen Eltern zu Besuch kommen, aber niemand ist so recht glücklich darüber, die Kinder nicht, die nur die allenfalls mitgebrachten 1 Geschenke erhalten, aber dann wieder verlassen werden, und die Kinderdorfmütter nicht, die in manchen Fällen einen negativen Einfluß fürchten. Schließlich aber soll ja im Haus eine neue Familie entstehen. Und doch wird den Kindern ihre eigene Vergangenheit nicht verheimlicht und soll es auch nicht werden; der Schaden, der bei einem Schock im späteren Leben eimtreten würde, könnte noch größer sein.

DIE SORGEN, DIE MAN in den Kinderdörfern hat, sind aber nicht nur Sorgen mit den, Kindern, sondern auch Sorgen um den Ausbau und die möglichst günstige Wetterführung der Arbeit. So ist es bis jetzt nicht gelungen, für die Kinder staatliche Kinderbeihilfen au bekommen, sondern nur die Fürsorgebeiträge. Eine besondere Schwierigkeit besteht in Wien, wo es bisher nicht möglich war, die zuständige Frau Stadthat zu einer Mitarbeit zu bewegen. Wiener Kinder dürfen nicht in ein Kinderdorf. Der offizielle Grund ist das eingeschränkte Besuchsrecht der Eltern, inoffiziell dürfte es sich um eine Prestigefrage handeln, schließlich sind die Kinderdörfer eindeutig auch auf eine religiöse Erziehung ausgerichtet (!). Man sollte hier seine Toleranz noch unter Beweis teilen. Aber auch die steuerliche Begünstigung von Spenden an das Kinderdorf könnte manche neue finanzielle Quelle erschließen. Denn ohne Geld läßt sich auch die schönste Idee nicht verwirklichen.

Und doch — im Vordergrund stehen die Menschen, die Mütter, die Kinderdorfväter, alle, die sich in den Dienst dieser Sache gestellt haben, die mithelfen wollen, eine bessere Welt zu bauen.

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