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Kleines Glück auf Krücken

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HIER IST ES RUHIGER als in anderen Schulen. Die Hälfte der Schüler verfolgt den Unterricht von Rollstühlen aus. Ein Kind steckt bis zum Hals in einem Gipsverband. Neben den Schulbänken lehnen Miniaturkrücken. Auf den Gängen riecht es halb nach Schule, halb nach Spital. Der Geruch trügt nicht. In der Wiener Neustädter Waldschule für körperbehinderte Kinder wird nämlich tatsächlich sowohl unterrichtet als auch geheilt.

Die Anstalt besitzt eine eigene Volksschule und eine Fachschule für Kleidermacher und Weißnäherinnen. Für begabtere Absolventen der Volksschule besteht die Möglichkeit, eine Hauptschulzusatzprüfung abzulegen.

Am Fachschulunterricht nehmen rund 20 Zöglinge — hauptsächlich Mädchen — teil. Die meisten entwickeln einen unbändigen Ehrgeiz und bringen es oft zu erstaunlicher Geschicklichkeit. Manche dieser Mädchen fertigen besonders schöne Ballkleider an. Sie wissen, daß sie zeitlebens an den Rollstuhl gefesselt sein und nie in diesen Kleidern tanzen werden. Doch man läßt hier keine Sentimentalität aufkommen. Die Kinder sind zu sehr beschäftigt, um Zeit zu finden, über ihr trauriges Los nachzudenken.

DAS LERNEN FÄNGT in der Waldschule nicht erst beim ABC an. Die einfachsten Handgriffe des täglichen Lebens müssen mühsam erarbeitet werden. Im Gymnastiksaal der Schule sind an einer hölzernen Wand Wasserhähne, ein Telephonapparat, Lichtschalter und Türschnallen angebracht. Bei dieser Attrappe beginnt für die meisten Kinder der Schulunterricht. Hier wie überall in der Waldschule überschneiden sich Schule und medizinische Heilung. Im Raum neben den Taferlklassen befinden sich moderne Einrichtungen für Unterwasser- sowie Heilgymnastik und Elektrotherapie. Ein Schularzt und zwei Konziliarfach-ärzte kämpfen verbissen darum, die vielen lahmen und verkrüppelten Gliedmaßen wenigstens halbwegs beweglich zu machen.

Die Waldschule ist bis auf den letzten Platz belegt. Die Zahl der Aufnahmeansuchen ist größer als die der Schulabgänge. Es gibt zwar heute lange nicht mehr so viele Kinderlähmungsschäden wie früher, doch wächst infolge des Fortschrittes der Medizin das Heer der Körperbehinderten dennoch immer mehr an. Mißgebildete Kinder, die früher nicht zu retten waren, können nun am Leben erhalten werden..

IN DER WALDSCHULE trifft man <3ie verschiedenartigsten Gebrechen an: Cerebralschäden, angeborene Mißbildungen, Verkrüppelungen durch Unfälle, Muskeldystrophien und noch viele andere Erkrankungen. Es gibt Fälle, bei denen sich durch moderne Heilmethoden verblüffende Erfolge erzielen lassen, und andere, bei denen die Ärzte völlig machtlos sind. Viele Zöglinge, die als Lahme aufgenommen wurden, verlassen die Schule voll arbeitsfähig. Die an Muskelschwund leidenden Kinder hingegen können meist noch nicht gehen, wenn sie als Sechsjährige ankommen. Oft zählen gerade sie zu den aufgewecktesten Schülern ihrer Klasse, und niemand1 würde vermuten, daß sie den Keim eines frühen Todes in sich tragen. Ihren langsamen, unaufhaltsamen Verfall beobachten zu müssen, zählt wohl zu den i tragischesten Erlebnissen, die den Lehrern, Erziehern und Ärzten der Waldschule ihr Beruf beschert.

Die Anstalt liegt mitten im Föhrenwald wenige Kilometer außerhalb von Wiener Neustadt. Früher war sie eine Tageserholüngsstätte für lungenkranke Kinder. Seit 1953 sind körperbehinderte Kinder hier untergebracht. Die Schule wird gemeinsam von sämtlichen Bundesländern mit Ausnahme Wiens und Vorarlbergs erhalten.

Die.Kinder leben hier fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Ihr einziges „Fenster nach draußen“ ist das Fernsehen. Diese Isoliertheit hat den erzieherischen Vorteil, daß die Körperbehinderten in der Gesellschaft ihresgleichen das Gefühl verlieren, Außenseiter zu sein. Hü. zeigt niemand mii

Fingern auf sie und verspottet sie. Hier können sie daher leichter Zutrauen zu sich selbst gewinnen und ungestörter zu innerlich gefestigten Menschen heranreifen.

ISOLIERT SEIN BIRGT ABER auch Gefahren in sich. Es kann zu Weltfremdheit führen, wenn die Kinder nicht von Zeit zu Zeit aus der Klausur herauskommen. Man schickt sie daher in den Ferien zu ihren Eltern und riskiert lieber, daß sie verstört wieder zurückkommen, als daß sie einen gläsernen Turm um sich aufbauen.

Trotz der augenscheinlichen pädagogischen Erfolge, die die Waldschule aufzuweisen hat, glaubt man doch, daß auch das körperbehinderte Kind im Elternhaus besser aufgehoben ist als in einem noch so idealen Heim. Voraussetzung ist freilich, daß das Kind nicht durch ungünstige Milieueinflüsse und durch falsches Verhalten der Eltern einer schweren seelischen Dauerbelastung ausgesetzt ist.

Körpergeschädigte Kinder aus dem Familienverband herauszureißen und sie in Anstalten zu erziehen würde auf die Mentalität der Gesellschaft einen bedenklichen Einfluß ausüben. Bleibt uns nämlich der Anblick verkrüppelter Kinder im Alltag völlig erspart, entfernen wir uns nur allzuleicht von der Wirklichkeit und glauben, daß gesunde Kinder eine Selbstverständlichkeit sind. Täuscht das Verstecken der mißgestalteten Kinder in Heimen nicht über die zwar überaus tragische, aber nicht aus der Welt zu schaffende Realität hinweg, daß Säuglinge auch als Krüppel geboren werden können?

KEIN MITLEID MIT DEN KINDERN gibt es in der Waldschule — und dies mag aufs erste verblüffen. Man arbeitet an und mit ihnen und behandelt sie als gleichwertige Partner. Man schenkt ihnen auch Liebe, aber man bedauert sie nicht. An Tätigkeiten, die sie selbst verrichten können, wird ihnen kein Handgriff abgenommen. Soweit sie dazu imstande sind, bauen sie ihre Betten selbst, ziehen sich selbst an und helfen mit, im Haus Ordnung zu halten.

Seit einem Jahr wacht ein diplomierter Psychologe als Erziehungsleiter

über die pädagogische Betreuung der Zöglinge. Undiszipliniertes Verhalten ist bei den Körperbehinderten eine Seltenheit. Sie sind ernster und in sich gekehrter als gleichaltrige Gesunde. Ihre Gebrechen lassen jene Aggressivität, die bei anderen Halbwüchsigen die meisten Erziehungsschwierigkeiten verursachen, gar nicht erst aufkommen.

Stets sind die Kinder rührend für einander besorgt. Immer ist ein noch Ärmerer da, dem es zu helfen gilt. Problematisch werden sie erst in der Pubertät. Da beginnen sie, sich ihr späteres Los — oft in den düstersten Farben — auszumalen. Diese Krise geht aber bei richtiger Behandlung, meist ohne tiefere Spuren zu hinterlassen, vorüber.

BESSERE BERUFSCHANCEN BIETET die moderne arbeitsteilige Gesellschaft den Körperbehinderten, als den Krüppeln früherer Epochen offenstanden. Die Spezialisierung auf einige wenige Arbeitsgänge macht den Körperbehinderten voll einsatzfähig. Gefährlich wird es für ihn nur, wenn die Konjunktur und damit die Vollbeschäftigung abzubröckeln beginnt. Dann wird der Körperbehinderte der erste sein, der den wirtschaftlichen Rückfall zu spüren bekommt.

Kummer bereitet den Pädagogen der Waldschule die Tatsache, daß sie die Kinder erst in einem Alter bekommen, in dem die Charakterbildung im wesentlichen als abgeschlossen gilt. Das Mindestalter, um in die Wiener Neustädter Schule aufgenommen werden zu können, beträgt sechs Jahre. Was aber an Erziehungsfehlern vor dem schulpflichtigen Alter an den Körperbehinderten begangen wird, kann nachher nur noch schwer gutgemacht werden.

UNTER DRÜCKENDER RAUMNOT leidet die Waldschule seit Jahren. Hundert körperbehinderte Kinder müssen ihre Freizeit zusammen in einem Saal verbringen. Drei bis vier Erzieherinnen teilen ein Schlafzimmer. Die Schlafräume der Kinder liegen im ersten Stock. Es ist nicht auszudenken, welche Katastrophe entstünde, wenn in der Schule ein Brand ausbrechen würde. Als vor kurzem vom Jugendrotkreuz der Schule die komplette Ausrüstung für eine Zahnstation übergeben wurde, wußte man lange nicht, wohin damit. Schließlich verfiel man auf die Notlösung, das Dienstzimmer der Nachtschwester bei Tag als Zahnbehandlungsraum zu verwenden.

Die hier tätigen Erzieher sind durchwegs junge Menschen. Sie entschlossen sich aus den verschiedenartigsten Motiven zu diesem Beruf. Die wenigsten aber bewog Mitleid dazu, in der Waldschule eine Stellung anzutreten. Sie sind durch eine Art natürlicher Auslese gesiebt. Viele Neulinge werfen schon nach kurzer Zeit, wenn sie sehen, welche Strapazen sie hier erwarten, die Flinte ins Korn und suchen sich eine andere Stelle. Mit denen, die bleiben, geht sehr bald ein merkwürdiger innerer Wandel vor sich. Sie beginnen sich in den Beruf zu „verbeißen“. Wer einmal Freude an dieser

Arbeit gefunden hat, den läßt sie nie wieder los.

In der Waldschule gibt es Kinder, denen beide Beine fehlen oder die völlig verkrüppelte Arme haben und dennoch die gleiche Munterkeit und Lebensfreude ausstrahlen wie gleichaltrige Gesunde. Selbst in den mißgestaltetsten Geschöpfen — das haben die Erzieher in vielen Hunderten von Fällen erfahren — wohnt ein Funken Freude am Dasein.

WER IN DIE GESICHTER DIESER Ärmsten der Armen geblickt hat, der verläßt die Waldschule zufriedener mit seinem eigenen Los, aber auch überzeugter, daß heile Gliedmaßen nicht so unbedingt zu einem erfüllten Leben dazugehören müssen, wie es einem vorher vielleicht schien.

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