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Spielen muß gelernt sein

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ZAHLREICHE ALTE KINDERSPIELE, oft kleine Kunstwerke in ihrer Art, zeugen von hoher Spiel-kulibur der Kinder vergangener Zeiten. Es gab Abwechslung in Hülle und Fülle, und an geeigneten Spielplätzen war kein Mangel. Die bunt Eusammengesetzten Spielgruppen wußten stets, was sie anfangen wollten, und litten nicht an Langeweile.

Albe Leute wissen von zahlreichen Spielen zu berichten, die sie als Kinder spielten, und bis in jüngste Zeit haben sich Spiele, wie „Die schwarze Köchin“, „Ein Bauer ging ins Feld“, „Der blaue Fingerhut“, „Dornröschen“, „Drittabschlagen“, „Der Plumpsack geht um“, „Katz' und Maus“, „Jakob, wo bist du?“, „Laßt die Räuber durchmaschieren“, „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?“, am Leben erhalten. Es gab auch zahlreiche Spiele für kleinere Gruppen und Partnerschaftsspiele. Wer kannte nicht „Schneider, Schneider, leih mir d' Scher“, „Tempelhupfen“, „Tellerreiben“, zahlreiche Varianten von Kugelspielen und Ballspielen mit oft komplizierten Regeln. Wer spielte nicht „Räuber und Gendarm“ oder „Versteeken“?

Heute bemerkt man bei den Kindern von diesem Reichtum kaum mehr etwas. Auf den Spielplätzen dominieren stereotype Bewegungsspiele: Dreiradfahren, Rollerfahren, ab und zu einmal RoUschuhlaufen und regellose Ballspiele. Kletter-türtme und Rutschen bieten stets nur gleichartige MögMchkeiten. Sandkasten für die Kleinkinder und Fußballplätze runden das Bild ab.

Mehr und mehr macht sich jenseits der wenigen Spielarten eine Spiel-verwahriiosumg bemerkbar: Streit, Wildes Toben, gegenseitige absichtliche Störung beim Spiel, wechselseitiges Bewerfen mit Sand und Steinen, Wagnehmen von Spielzeug, (mutwilliges sinnloses Abrupfen von Zweigen, hemmstreumende Gruppen von Kindern, die Knallerbsen werfen, zeigen, daß die Spieltradttion erloschen ist. Die Überliefeirungskette ist abgerissen. Der Bewegungs- und Spieldramig wird nicht mehr rhythmisch und gestaltet abreagiert, sondern wild und chaotisch. Das „Spiel“ wirkt nicht mehr harmonisierend, auch nicht mehr ästhetisch. Es trägt destruktive Züge an sich oder nigt nur Erstarrung in Gleichförmigkeit.

Viele Eltern wollen unter diesen Umständen ihre Kinder nicht mehr unbeaufsichtigt dem Spiel überlassen; die Vorstellung der Begegnung ihrer Kinder mit anderen, Kindern auf dem Spielplatz erfüllt sie mit Sorge. Was werden sie lernen? Mit welchen „Auedrücken“ , und „Weisheiten“ werden sie heimkommen und die überraschte Faimiffie beglücken? Ist es nicht besser, man läßt die Kinder nicht mehr auf den Spielplatz? — so fragen sie besorgt. Wo aber sollen die Kinder spielen?

Die moderne Wohnung strahlt Sauberkeit und Hygiene aus. Sie übertrifft alles je Dagewesene an Zweckmäßigkeit. Der Fortschritt feiert Triumphe, aber er bringt auch große Schattenseiten mit sich: Er ist spielfeindlich. Das Kind darf weder etwas noch sich selbst beschmutzen, es darf nicht laut sein, weil die Wände zur Nachbarwohnung dünn sind, es darf nichts zerkratzen und keine Unordnung machen, da die Mutter mit Arbeit überlastet ist, und die Unper?önl:chkeit der Wohnungsgestaltung regt es auch nicht zum Träumen an.

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EIN KIND, DAS NICHT RICHTIG SPIELEN kann, ist ständig lästig und verbringt seine Zeit damit, etwas anzustellen. In diesem Bemühen ist es sogar erfinderisch. So interessierte sich der vierjährige Kurt nicht für seinen Lego-Baukasten. Es ist ihm längst langweilig geworden, immer die gleiche Vierecksform zu bauen. Auf Variationen kommt er nicht, und sonst nimmt sich niemand die Zeit, ihm welche zu zeigen. Kurt läßt das Spiel Spiel sein und wendet sich einem Kännchen mit Nähmaschinenöl zu. Während die Mutter in der Küche hantiert, verspritzt er das öl gleichmäßig auf dem noch nicht versiegelten Parkettboden. Welches Donnerwetter seiner Tat folgte, kann man sich denken. Kurt lachte sogar zunächst über das Entsetzen der Muttor. Wahrscheinlich war er über

den Effekt überrascht und fand ihn interessanter als den Baukasten, mit dem er nicht umgehen konnte.

Sind solche Kinder wirklich boshaft? Unternehmen sie nicht eher verzweifelte Versuche, aus einer zutiefst unbefriedigenden seelischen Situation herauszukommen? '

Die Eltern des Vierjährigen gehören zu jenen Menschen, die die Bedeutung des kindlichen Spieles nicht kennen. Sie halten Spielen für eine „Kinderei“, die den Erwachsenen letztlich nichts angeht. Sie sorgen für Kleidung und Nahrung, sie sorgen für Spielzeug und glauben, damit ihre Pflicht getan zu haben. Daß Kurt dereinst Rechnen, Schreiben und Lesen lernt, das ist wichtig. Man braucht es für einen zukünftigen Beruf, man braucht es, um Geld zu verdienen und eine Familie gründen zu können. Spiel ist unwichtig und Sache der Kinder. Die Eltern sorgen für den Lebensstandard.

Kurts Leben in der elterlichen Wohnung besteht aus einer Folge vcn Streichen und Strafen, von Trotz und Versöhnung. Eines lernt er dabei nicht: Spielen. Beim Schuleintritt weden ihm jene Arbeitstugenden fehlen, die man im Spiel erwirbt: Ausdauer, Vertiefung und Geschicklichkeit.

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GUTES SPIEL ERGIBT GUTE ARBEIT. Kinder, die nicht richtig spielen können, tun vielerlei, alles kurzfristig, alles oberflächlich, alles letztlich ohne Interesse. Sie können Berge von Spielzeug haben und entwickeln doch keine Freude am Spielen. Sie werden zu allen möglichen Gelegenheiten reichlich beschenkt, aber sie achten die Geschenke nicht, und das Spielzeug hat keine lange Lebensdauer unter ihren Händen.

Arme reiche Kinder, die alles bekommen, wovon früher ein Kind nur träumen konnte. Das wichtigste bekommen sie nicht: Anleitung zum Spiel. Die Eltern kommen gar nicht auf die Idee, daß sie etwas Entscheidendes versäumen, weil sie selber das Spielen verlernt haben und nicht mehr schätzen. Sie sind unversehens in die Maschine des Konsumbetriebes geraten, in jene Welt, in der nur äußere Güter zählen.

Die Fähigkeit zu individueller schöpferischer Tätigkeit im Spiel, die Freude daran, ohne Seitenblick auf Lohn, Erwerb oder Erfolg, muß bereits im Kindesalter gepflegt werden. Versäumt man dies, so verkümmert diese Fähigkeit. Ist der spontane Spieltrieb erst erloschen, so kann er

nur noch schwer zum Leben erweckt werden.

WAS MACHT DER MENSCH, wenn er nicht mehr spielen kann? Eine erfreuliche Erscheinung unserer industrialisierten Welt wird zum Problem: die Freizeit, Entweder der Mensch verzichtet auf sie und arbeitet weiter! in Überstunden,, im

Pfusch, in Heiniarbeit, dann wird er zum Roboter. Er wiegt sich in der Illusion, die Freizeit jederzeit genießen zu können, wenn er sie sich gönnen würde. — Andere verzichten darauf, zum Roboter zu werden, und überlassen sich der kommerzialisierten Freizeitgestaltung. Sie sitzen vor dem Fernseher oder rasen mit dem Auto durch die Gegend. Sie übertönen ihre Unruhe und Unerfülltheit mit Geräusch. Lust zu irgendeiner

anderen, einer eigenen Betätigung verspüren sie nicht. Ihr Leben bewegt sich in ausgeleierten grauen Bahnen. Mit der Fähigkeit zu spielen ist auch die Fähigkeit zur Freude verlorengegangen, und dies hat in der Kindheit begonnen.

Fachleute auf pädagogischem, psychologischem und soziologischem Gebiet sind angesichts dieser bedenklichen Situation nicht untätig geblieben. Eine internationale Vereinigung

zur Erforschung des Kinderspieles wurde ins Leben gerufen, eine Rettungsgesellschaft sozusagen. Sie untersucht die Spielbedürfnisse des Kindes und die Voraussetzungen, unter denen sie befriedigt werden können. In Österreich ist dies der „österreichische Arbeitsausschuß für gutes Spielzeug“, der unter der wis-

senschaftldchen Leitung von Frau Univ.-Prof. Dr. ' Bayr-Klimpfinger gutes Spielzeug auszeichnet. So wurden vier Spieltypen festgestellt, die verschiedene Anleitungen und Spielbehelfe erfordern:

• Bewegungsspiele,

• RoUenspiele,

• Experimentier- und Konstruktionsspiele,

• Gemeinschaftsspiele.

Die Kinderpsychologin W. Hartmann schreibt in dem Band „Das große Familienbuch“ über das Rollenspiel: „Reich an Variationen und vielfältig in seinen Ausgestaltungs-möglichkeiten ist das Rollenspiel.

Das Kind versetzt sich in die Rolle der Mutter, des Vaters, der Lehrerin, des Doktors, des Straßenbahnschaft-ners, kurz aller jener Personen, die es aus eigener Erfahrung kennt oder von denen es aus Erzählungen und aus Bilderbüchern gehört hat. In diesem Spiel werden auch die Gegenstände der Umwelt umgedeutet und mit Eigenschaften versehen, die das Kind aus seinem eigenen inneren Erleben in die Außenwelt verlegt. Der

aufmarksame Beobachter erfährt vieles von den Bedürfnissen, Wünschen und Enttäuschungen des Kindes, wenn es die Erlebnisse des alltäglichen Lebens noch einmal im Rollenspiel lebendig werden läßt. Dieser Spieltypus ist in hohem Maße von der Vorstellungskraft des Kindes abhängig, dennoch benötigt es

einige Requisiten und Behelfe zur besseren Anschaulichkeit. Der Teddybär, die Puppe, Puppenkleider, Kasperlnguren und verschiedenartiges Verkleidungsmaterial sind Beispiele zur Ausgestaltung der eigenen Ideen.“

Im „Familienbuch“ findet sich auch eine Zusammenstellung von Spielen und Spielbehelfen, nach Altersstufen geordnet Sie soll den Eltern eine Hilfe bei der Spieizeugauswahl für ihre Kinder sein.

DIE SCHWEIZER STIFTUNG „PRO JUVENTUTE“ fördert seit Jahren die Schaffung und Gestaltung

von neuartigen Spielplätzen und Freizeitanlagen. Auf Grund ihrer Untersuchungen schlägt sie drei Arten von Spielplätzen vor:

• den Spielplatz für die Kleinen,

• den Spielplatz für alle Altersstufen,

• die Spiel- und Freizeitanlage für jung und alt.

Hier sei als Beispiel die Beschreibung des sogenannten „Rdbdnson-spielplatzes“ angeführt. Es handelt Sich dabei nicht um einen Spielplatz in landläufigem Sinn, sondern um ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes Spiefareal für Kinder und Jugendliche aller Altersstufen, wo die verschiedenartigsten Spielbedürfnisse berücksichtigt werden. Man kann bauen, theaterspielen, Wettkämpfe veranstalten, Sport betreiben, und bei sohlechtem Wetter stehen ein Freizeitraum zum Bastein sowie ein Spielraum zur Verfügung.

Das Areal besteht aus fünf Teilen: aus einer Spielwiese, einem Platz für Ball- und Straßenspiele (Radfahren usw.) kombiniert mit einem Freilichttheater, aus Spielecken mit Sand, Wasser, Klettergeräten für die Kleinkinder und Bänken für die Mütter, aus einem Bau- und Werkplatz und einem Bastei- und Spielraum für Schlechtwetter- und Winterbetrieb. Der Schweizer Freizeitanlage Heuried ist außerdem noch ein Bad angeschlossen.

Der Robinsonspielplate soll seine Besucher zu möglichst vielen aktiven Spielen anregen.

Es wäre erfreulich, wenn solche Modelle auch bei uns Wirklichkeit werden könnten. Es würde damit nicht nur den Kindern ein großer Dienst erwiesen.

*

IN DER ERHALTUNG UND PFLEGE der Spielfähigkeit liegt die Lösung des „Freizeitproblemes'' und die Förderung der menschlichen Persönlichkeit begründet. Mögen die maßgebenden Stellen mit gutem Beispiel vorangehen und in der Pädagogik wirtschaftliche Erwägungen in den Hintergrund treten lassen. Denn was wäre das für ein Fortschritt, der zwar Industrialisierung und Technisierung vorantreibt, der „Lebensstandard“ schafft, aber den Menschen ignoriert?

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