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Renate Zimmer zeigt Wege zu einer ganzheitlichen Pädagogik

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Nicht nur die abendländischen Philosophen diskutieren seit 2000 Jahren über die Bedeutung der Sinneswahrnehmung für alles Erkennen, sondern jeder von uns kennt diese Bedeutung. Würden wir unsere Sinnesorgane ausschalten, das Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken, würde die Welt für uns aufhören zu existieren. Aber was ist das: „Die Welt"? Wie lernen wir sie? Sobald wir geboren sind, beginnen wir, all unsere Sinne wie Fühler aktiv in die Welt zu strecken, um pausenlos Informationen über ihre Eigenschaften zu gewinnen.

Daher sind gerade die Kinder Wesen, die, lange bevor sie sprechen, ihre Sinne benützen, um die Welt zu entdecken, und die die Welt benützen, um ihre Sinne zu entwickeln. All dies ist natürlich für die Erziehung der Kinder von größter Bedeutung, und es ist das Thema des Handbuches der Sinneswahrnehmung von Renate Zimmer, Professorin an der Universität Osnabrück.

Kinder erkunden die Welt aktiv auf buchstäblich sinnliche Weise, mit der steten Rückmeldung der Reaktionen der Erwachsenen. Sie möchten hören, was in ihrer Umgebung vor sich geht, aber sie möchten auch selbst Geräusche machen, erfahren, wie stampfen, schreien, trampeln klingt. Sie möchten sehen, wie die Dinge erscheinen, aber diese Dinge auch selbst bewegen und Formen und Farben wahrnehmen.

Kinder wollen riechen und schmecken - das Weihnachtsgebäck ebenso wie das Gras. Alles wird in den Mund genommen. Sie wollen fühlen: Dinge empfinden, anfassen, Härte, Weichheit, Hitze, Kälte, das Runde und das Eckige spüren. Ebenso wollen sie berührt werden. Wir wissen, welche Schäden ein Kind davonträgt, das zu wenig gestreichelt wurde.

Vor allem wollen sich Kinder bewegen, ihre eigene Kraft erleben, ihre Geschicklichkeit ausprobieren, wissen, was die Erfahrung von klettern, schaukeln und balancieren ist, sie haben Spaß am Verstecken und Gefunden-Werden, am Weglaufen und am Eingefangen-Werden.

Aus all diesem aktiven und passiven Umgang mit den Dingen bauen sich im Kind Bilder seiner Umgebung auf, bis aus diesen Bildern ein Welt-Bild, also die Welt wird, die es schließlich als Erwachsener für wirklich hält Die städtische Umgebung, meist erbärmliche Kinderspielplätze, die diesen Namen nicht verdienen, aber oft auch die Ahnungslosigkeit der Eltern, führen dazu, daß viele Kinder gar keine Möglichkeit haben, ihre Sinne an der Welt zu bilden und die Welt mit allen Sinnen zu erfahren. Am Bildschirm, vor dem man seine gesamte Freizeit verbringt, erfährt man eben nicht, was Freundschaft ist, wie eine Wiese riecht oder wie sich Hunger anfühlt. (Ein Computerspezialist sagte einmal über ein besonders ausgeklügeltes Programm: „Man hat das Gefühl, eine Frau zu berühren, die in Wirklichkeit gar nicht da ist - ganz so wie bei mir zu Hause".)

Renate Zimmer versucht, hier eine Lücke zu schließen, indem sie nicht nur in leicht verständlicher Weise die Funktion und Bedeutung der verschiedenen Sinnesleistungen erklärt, sondern auch eine Fülle von Beispielen gibt, wie man durch gezieltes Spielen mit dem Kind den gesamten Reichtum seiner sinnlichen Welt zur Entfaltung bringen kann.

Das Buch zeigt aber auch Wege, wie man mit Wahrnehmungsstörungen fertig wird, und es zeigt mehrere Möglichkeiten, einschlägige Probleme zu lösen. Vor allem aber zeigt die Autorin, daß viele dieser Störungen vermieden werden können, wenn man dem Kind die Chance gibt, das gesamte Repertoire an sinnlicher Erfahrung der Umwelt auch auszuleben. Wo dies nicht geschieht, sind die Folge oft Konzentrationsschwierigkeiten, Lernprobleme und ein Schulerfolg, der hinter den Möglichkeiten des Kindes zurückbleibt und sich, auf das Kind zurückwirkend, wieder in Form eines fehlenden Selbstwertge-fühles des Kindes niederschlägt.

Sicher ist die ganzheitliche Erziehung keine Erfindung der Gegenwart. Die Ansätze gehen bis Pestalozzi, Itard und vor allem Maria Montessori zurück, die als erste die simple Tatsache aussprach, daß Kinder weder ein ungeformtes Etwas noch kleine Erwachsene sind, sondern eine eigenständige Lebensform des Menschen, mit eigenen Freuden, eigenen Sorgen, eigenem Spaß und eigenen Ängsten - und eben auch mit einer eigenen, besonders sinnlichen Art, die Welt zu erfahren.

Vieles von diesen Ansätzen ist allerdings der Bequemlichkeit und Vergessenheit anheimgefallen. Man sollte aber auch nicht - nun umgekehrt -Kinder zum Spielen nach Lehrbuch zwingen, denn sie brauchen ebenso die Freiheit der ihnen eigenen schöpferischen Entwicklung und besonders die Freude an der Erkundung der Welt. Aber diesen Balance-Akt zwischen dem Fördern und dem Freiheit-Lassen zu schaffen, ist die Kunst jeder Erziehung. Das Buch von Renate Zimmer ist übersichtlich gegliedert, präzise und einprägsam in der schriftlichen und optischen Darstellung und allen Eltern, Lehrern und Erziehern als Ratgeber sehr zu empfehlen.

HANDBUCH DER SINNES WAHRNEHMUNG

Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung. Von Renate Zimmer. Herder Verlag, Freiburg 1995 216 Seiten, zahlreiche Abbildungen, geb., öS 265.-

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