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Auch die Kinder wollen wohnen…

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Der Befonklofz sperrt das Märchen aus + Das Kind wünscht sich Geheimnisse und Abenteuer

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Der Befonklofz sperrt das Märchen aus + Das Kind wünscht sich Geheimnisse und Abenteuer

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Man kann wohl selbst bei beruflich stark überbeanspruchten Menschen immer noch behaupten, daß sich die Hälfte ihres Lebens zu Hause vollzieht. Zu Hause — das ist das Zimmer, die Wohnung, das eigene Haus. Je nachdem, wie es dort aussieht, fühlt der Mensch sich für die Hälfte seines Lebens zumindest wohl oder bedrückt, wird sein Verhalten bestimmt von den Umweltseinflüssen seines Heims. Das ist besonders bei der Beobachtung der Psychologie und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wichtig.

Der französische Wissenschaftler Professor Dr. Colin vom Institut für gerichtliche und soziale Medizin in Lyon hat vor kurzem in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß auch die Jugendkriminalität nicht nur von den Einflüssen krimineller Menschen abhängt, nicht nur vom mangelnden oder schlechten Familienleben, sondern auch von den Äußerlichkeiten der Umstände, unter denen die gefährdeten Jugendlichen wohnen. Wörtlich schrieb Professor Colin:

„Die neuen Formen des Wohnens und die Schaffung großer Wohn blöcke, die durch das Phänomen der Bevölkerungskonzentration an Industrieschwerpunkten unerläßlich geworden sind, bleiben durch das hohe Niveau der frühzeitigen Rationalisierung, das sich in solchen Gebäuden aufdrängt, natürlich nicht ohne Wirkung auf die Kinder. Die vielfältigen Betätigungsmöglichkeiten, die sich dem Kind vom Keller bis zum Boden in den traditionellen Häusern boten, sind hier rücksichtslos auf die engen Grenzen eines strikt funktionellen Betonklotzes beschränkt worden: so sieht ein Haus für einen intelligenten Erwachsenen aus, aber ein Kind kommt darin nicht immer auf seine Kosten.“

Die Forderung, daß man beim Bau von Häusern nicht nur auf die Ansprüche der Erwachsenen, sondern auch auf die Bedürfnisse der Kinder sehen soll, ist nicht neu. Man ging dabei jedoch hauptsächlich von der Überlegung aus, daß sie es „schön“ haben sollten, daß sie Platz genug fänden, und daß sie den Eltern nicht im Weg seien. Daß sie wirklichen Schaden an ihrer Seele nehmen können, wenn die Wohnverhältnisse nicht in Ordnung sind, daran ist noch wenig gedacht worden. Bei dem Wort „Schaden“ braucht man nicht unbedingt so weit zu gehen und gleich an die Kriminalität zu denken, von der der französische Wissenschaftler ausging. Aber genügt nicht eigentlich schon der kleinste Komplex, die kleinste Verdrängung infolge eines Heimes, das kein Zuhause ist, um sich grundlegende Gedanken zu machen, wie das zu ändern sei?

Die Worte des französischen Professors sind noch nicht genug verbreitet. Man sollte bei der gesamten künftigen Bauplanung darauf achten, daß auch die Kinder zu ihrem Recht kommen. In diesem Zusammenhang müssen auch die Bestrebungen zahlreicher Stellen um ein „familiengerechtes Bauen“ gesehen werden, um die Förderung des Eigentums an Haus oder Wohnung. Im eigenen Heim kann man den besonderen Bedingungen der Kinder Rechnung tragen; hier muß nicht alles aus Zweckmäßigkeitsgründen da sein, es ist viel mehr Platz für Räume, die nicht unbedingt bis zum letzten Quadratzentimeter „ausgenützt“ sein müssen.

Gewiß ist es unmöglich, daß jede Familie ein eigenes Haus hat. Aber das eigene Haus ist ja auch nur ein Weg — wenn auch der beste —, der Trostlosigkeit der reinen Wohnmaschine zu entgehen, die den Kindern (und nicht nur ihnen) die Phantasie stiehlt In bezug auf die Kinder heißt das, daß man vor allem darauf sehen muß, daß ihnen das Heim nicht zu einer Stätte „für einen intelligenten Erwachsenen“ wird, sondern zum Ort für Traum, Märchen und Phantasie.

Wie man das erreichen kann? Bei einem Haus durch kleine Räume, die nur dem Kind vorbehalten bleiben, und durch Räume, die keinen bestimmten Zweck haben, es sei denn den des Aufbewahrens von Dingen, die man im Augenblick nicht braucht, also einen Speicher oder ein Gemach unter der Treppe, in dem auch die Weihnachtssachen aufgehoben werden und das schon allein dadurch zum Kinder-Wunderland wird. Das gilt sowohl für Mädchen als auch für Buben, für die ein Speicher ein unentdecktes Land sein kann, in dem man Schätze finden kann, von denen Erwachsene keine Ahnung haben.

In einer Wohnung muß man erst darauf bedacht sein, im bescheidenen Rahmen Ähnliches zu schaffen. Wer ein großes Vorhaus hat, stellt dort am besten einen Schrank auf, in dem es auch so mancherlei zu entdecken gibt, der zwar nicht gerade verboten für die Kinder ist, aber mit dem Schleier von Geheimnissen umgeben wird, die ihn interessant machen. Wer eine Dachkammer hat, stellt sie natürlich als Ort für Abenteuer zur Verfügung, wie ihn da Kinderzir.imer nie Cars teilen kann.

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